Das Pflege-Dilemma |
23.09.2014 11:31 Uhr |
Von Ulrike Abel-Wanek / Es kann ein einziger Sturz sein, der Eltern oder Schwiegereltern zu Pflegefällen macht. Häufig sind es osteuropäische Frauen, die ihre Familien und ihre Heimat verlassen, um in Deutschland unter schwierigen Bedingungen einen alten Menschen zu pflegen.
Aus heutiger Sicht müsste jeder dritte Schulabgänger in die Altenpflege gehen, um den zukünftigen Pflegebedarf in Deutschland zu decken. Hier wie in ganz Europa werden in den nächsten Jahren immer mehr Hochbetagte leben. Laut Pflegestatistik waren 2011 etwa 2,5 Millionen Menschen als pflegebedürftig eingestuft, 70 Prozent davon wurden zu Hause versorgt.
Mit Unterstützung so lange wie möglich selbstständig leben.
Foto: Fotolia/Barabas Attila
In den nächsten 40 Jahren wird die Zahl auf bis zu 4,5 Millionen Pflegebedürftige ansteigen. Die Zahl der Senioren, die von den eigenen Angehörigen betreut werden, sinkt dabei stetig ab. Gründe dafür sind die oft weit voneinander entfernten Wohnorte der Familienmitglieder, die Erwerbstätigkeit vor allem der Frauen, die in früheren Generationen noch selbstverständlich die Betreuung der Alten übernommen haben, und die Versorgung von eigenen, noch heranwachsenden Kindern. Beide Entwicklungen – die steigende Zahl der Pflegebedürftigen und die rückläufige familiäre Betreuung – führen dazu, dass sich mehr und mehr Familien für eine osteuropäische, meist polnische Pflegekraft entscheiden.
Diese sogenannte Care Migration ist bereits gesellschaftliche Realität. Geschätzt gibt es etwa 200 000 Osteuropäerinnen, die in Deutschland alte Menschen versorgen, häufig illegal, ohne vertraglich abgesicherten Lohn und geregelte Arbeitszeiten. »Experten wie die Gesellschaftswissenschaftlerin Helma Lutz von der Universität Frankfurt sprechen sogar von einer Dunkelziffer von bis zu einer halben Million Pflegekräften aus Osteuropa«, schreibt die ARD-Redakteurin Ingeborg Haffert in dem Buch »Eine Polin für Oma«, in dem sie die Not von Angehörigen wie auch die enorme Belastung der Pflegekräfte schildert. Haffert holt das aktuelle Thema Pflege aus der Ecke der theoretischen, politischen Detaildiskussionen hervor. Über viele Wochen begleitete und interviewte sie Angehörige, polnische Pflegekräfte und Pflegebedürftige – und stieß dabei auf gravierende Missstände und Probleme, von denen die Öffentlichkeit kaum etwas ahnt. Trotz des immer dringender werdenden Problems des Fachkräftemangels wird das Thema Pflege oft nur am Rande und in abstrakten Schlagwörtern wie Pflegenotstand und demografischer Wandel wahrgenommen. Die Wirklichkeit bleibt hinter unzähligen Haus- und Wohnungstüren verborgen – bis sie einen irgendwann einholt und selbst betrifft. »Die Verdrängung des eigenen Älterwerdens ist gewiss eine wichtige Ursache dafür, warum ein so virulentes gesellschaftliches Thema ein solch erschreckendes Schattendasein führt«, so Haffert.
Die Fremde im Haus
Zehntausende polnische Frauen lassen Männer, Kinder, Enkel zurück, wenn sie aus finanzieller Not als Pflegekraft nach Deutschland gehen. Laut einer Caritas-Studie machen in Polen rund 110 000 Kinder die Erfahrung, dass mindestens ein Elternteil im Ausland arbeitet. Die Frauen – vielfach ohne eine für die Pflege qualifizierte Ausbildung – sind Wanderer zwischen den Welten und leiden unter Heimweh. Viele stecken in fragwürdigen Verträgen, über die sie aus Angst vor Arbeitsplatzverlust nicht reden. All das ist Angehörigen bei ihrer Suche nach der dringend benötigten Entlastung in den seltensten Fällen bewusst. Auch die Seniorinnen und Senioren sind nicht immer glücklich mit der »fremden Frau« im Haus. Sie selbst hätten sich diese Form der häuslichen Betreuung nicht ausgesucht, berichtet Haffert nach Gesprächen mit den betroffenen alten Menschen. Die Vorstellung, mit einer gänzlich unbekannten, dazu noch ausländischen Person zusammen unter einem Dach zu leben, empfanden sie zumindest als sehr gewöhnungsbedürftig oder sogar beängstigend. Nicht zuletzt spielt hier das »Polenbild« der jetzt hochbetagten Kriegsgeneration eine Rolle, das bis heute von hartnäckigen Klischees geprägt ist, die aus der Geschichte der beiden Länder resultieren.
10 000 Euro im Monat
Ohne gute und bezahlbare Pflege droht der Versorgungskollaps.
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Viele betroffene Familien bezeichnen eine Pflegekraft, die sich rund um die Uhr um die alten Eltern kümmert, als »die beste Pflegelösung«: Die Senioren können in ihrem vertrauten Umfeld bleiben, außerdem kosten ausländische Pflegekräfte mit 1000 bis 2000 Euro weniger als ein Heimplatz, für den im Schnitt monatlich mindestens 3000 Euro fällig werden. Der 24-Stunden-Job ist nur möglich, weil für eine sogenannte entsandte Beschäftigte – die Pflegekraft ist bei einem Unternehmen in Polen angestellt und versichert – das deutsche Arbeitszeitgesetz ungültig wird. Mit deutschen Kräften wäre die Rund-um-die-Uhr-Betreuungsarbeit für die Senioren kaum zu finanzieren, denn pro Tag müssten mindestens drei Personen für jeweils acht Stunden bezahlt werden. Die Gewerkschaft Ver.di hat errechnet, dass eine Intensivbetreuung mit mehreren Pflegekräften rund 10 000 Euro monatlich kosten würde. Dass das nicht funktioniert – weder aus Sicht der Pflegeversicherung noch für die betroffenen Familien – wissen auch die politisch Verantwortlichen. So wird in Kauf genommen, dass Verträge für eine Vollzeit-Betreuung durch Osteuropäerinnen den hiesigen Gesetzen fast nie gerecht werden. Rund um die Helferinnen hat sich über die Jahre ein höchst dubioser Markt aus Agenturen und Personen entwickelt, die illegal schwarzarbeitende Pflegekräfte an Familien vermitteln, oft zu prekären Arbeitsbedingungen.
Deutsche Familien können Pflegekräfte auf drei unterschiedliche Arten beschäftigen: als angestellte Haushaltshilfe – verbunden mit relativ hohen Kosten und nicht geeignet für eine 24-Stunden-Betreuung, aber derzeit das Modell mit der größten Rechtssicherheit für Angehörige –, außerdem als selbstständige oder als entsendete Pflegekraft. Eine gute Vermittlungsagentur zu finden, gleicht dabei der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Der Überblick in einem für Laien unüberschaubaren Markt von Anbietern osteuropäischer Pflegekräfte fällt den Familien auch deshalb oft schwer, weil sie mit einem plötzlich hilfedürftigen Angehörigen völlig überfordert sind. In ihrer Not nehmen sie das erstbeste Unternehmen, das viel verspricht und Vertrauen erweckende Bilder auf seiner Homepage präsentiert. Experten raten jedoch, sich für die Auswahl genug Zeit zu nehmen, denn nur so könne man die Spreu vom Weizen trennen und seriöse Agenturen unterscheiden von solchen, die mit rechtlich und sozial fragwürdigen Tricks ihr Geld verdienen – zum Nachteil aller Beteiligten.
Rund 500 000 Pflege-Fachkräfte werden in Deutschland bis 2030 fehlen, prognostizieren die Experten. Und der Markt für »die Polin für Oma und Opa« boomt weiter. Angehörige sind froh, eine bezahlbare Betreuung für ihre Eltern zu haben, osteuropäische Pflegekräfte sind dankbar, trotz aller Schwierigkeiten in Deutschland den Lebensunterhalt für ihre Familien verdienen zu können, und viele Senioren nehmen lieber die Betreuung durch eine fremde Person in Kauf als in ein Altenheim zu gehen. Doch auch die osteuropäischen Arbeitskräfte können die zukünftig noch größer werdende Lücke zwischen Angebot und Nachfrage nicht schließen. Auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene wie bei den Kostenträgern gehört das Thema Pflege deshalb ganz oben auf die Tagesordnung. Pflegeberufe müssen finanziell deutlich besser gestellt werden, neue Arbeitszeitmodelle müssen her, die es Angehörigen möglich machen, sich um alte Eltern zu kümmern. Und auch in den Wohnquartieren ist Engagement, Verständnis und Unterstützung gefragt, damit alte und demente Menschen ihren Alltag so normal und so lange wie möglich eigenständig weiter leben können. In einer Gesellschaft des langen Lebens geht der Demografie-Wandel jeden etwas an. /