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Naturstoffforschung

Suche nach neuen Leitstrukturen

18.09.2007  11:57 Uhr

Naturstoffforschung

Suche nach neuen Leitstrukturen

Von Daniela Biermann, Graz

 

Keine Frage: Neue Antibiotika werden dringend benötigt. Eine wichtige und unerschöpfliche Fundgrube dafür ist das Pflanzenreich. Und auch für das Immunsystem hat die Natur einiges zu bieten.

 

Vor der wachsenden Bedrohung durch multiresistente Keime warnte Professor Dr. Simon Gibbons, University of London, auf dem 55. Kongress der Gesellschaft für Heilpflanzenforschung in Graz. So traten 2001 in Großbritannien 1211 Fälle von multiresistenten Staphylococcus aureus (MRSA) auf, 2005 waren es bereits 2083. Auch extrem-multiresistente Tuberkuloseerreger (XDR-TB) breiten sich aus. Andererseits kommen nur sehr wenige neue Antibiotika auf den Markt.

 

»Eine bisher fast unangetastete Quelle für neue Substanzen sind Pflanzen«, sagte Gibbons. Sie produzieren antimikrobielle Stoffe als Verteidigung gegen pathogene Keime in ihrer Umgebung. Überliefertes Wissen über ihre Anwendung könne genutzt werden. Die große Stärke der pflanzlichen Antibiotika liegt in ihrer chemischen Vielfalt wie Chiralität und der Vielzahl funktioneller Gruppen. Manche chemische Klassen kommen nur in bestimmten Pflanzen vor, sodass ihnen eventuell sogar ein einzigartiger Wirkmechanismus zu eigen ist.

 

Die Nachteile der pflanzlichen Antibiotikaforschung sind laut Gibbons wirtschaftlicher Art: Investoren seien schwer zu finden, denn für Antibiotika existiere nur ein relativ kleiner Markt. So stehen die zwei meistverkauften Antibiotika, Levofloxacin und Linezolid, auf Platz 25 und 139 der Liste der internationalen Bestseller. Unter den Top 200 befinde sich kein einziges Mittel gegen Tuberkulose, stellte er fest. Dabei sei ein Drittel der Weltbevölkerung infiziert. Bisher habe die pharmazeutische Industrie geringes Interesse an der Entwicklung antimikrobieller Substanzen gezeigt, bemängelte Gibbons. Doch mit dem Auftreten der hochresistenten Stämme auch in Europa und den USA könnte sich dieser Trend ändern.

 

Gibbons und seine Kollegen screenten Allium-Arten und fanden vielversprechende antibiotische Kandidaten. Neben bekannten schwefelhaltigen Substanzen wie Allicin und Ajoenen entdeckten sie erstmals Canthin-6-on-Alkaloide in der Familie der Zwiebelgewächse. Diese zeigten sich in In-vitro-Tests wirksam gegen MRSA und Mykobakterien-Stämme. Auch Hypericum-Arten enthalten mehr antibakterielle Substanzen als nur Hyperforin, das sich als wirksam gegen MRSA erwiesen hat. Gibbons Team untersuchte 34 Arten und Varietäten. 32 der verwendeten Extrakte, die kein Hyperforin enthielten, zeigten sich aktiv. Als aktive Komponenten identifizierten sie Phloroglucinderivate.

 

Manche pflanzlichen Substanzen wirken zudem nicht nur selbst antibiotisch, sondern können auch Resistenzmechanismen hemmen. Es sei unwahrscheinlich, dass resistente Stämme bereits mit neuen Strukturen aus pflanzlichen Antibiotika konfrontiert wurden. So inhibiert das phenolische Diterpen Totarol Effluxpumpen in Staphylococcus aureus, die Antibiotika aus dem Bakterium herausschleusen. Totarol konnte in In-Vitro-Studien die Wirkung von Oxacillin gegen als Oxacillin-resistent geltende Stämme potenzieren.

 

Nicht nur forschen, sondern auch entwickeln

 

»Mehr als 150 Beiträge dieses Kongresses befassen sich mit antibakteriellen Substanzen. Bei all den guten Nachrichten - wo bleiben die neuen Medikamente?« Auch Professor Dr. Louis Maes von der Universität Antwerpen war der Ansicht, die Industrie vernachlässige die Naturstoffforschung. Die Reinigung und Identifizierung der Substanzen sei schwierig und zeitaufwendig, die Verfügbarkeit mancher Pflanzen unsicher und die Chargen nicht konsistent. Maes sieht das geringe Interesse der Industrie jedoch als Chance für den öffentlichen Forschungssektor. Das Ziel sei es, neue Targets und Leitstrukturen zu finden und vor allem die Forschungsergebnisse attraktiv für Investoren zu machen. Dazu sollten Wissenschaftler möglichst alle wichtigen Daten, auch Basisdaten der Pharmakologie, Toxikologie und Pharmakokinetik, mit einfachen Methoden erfassen und zusammenstellen. Nach ersten Untersuchungen am Computer, den In-silico-Tests, sollten die Substanzen sich als wirksam in In-vitro-Versuchen erweisen, bevor sie im Tiermodell getestet werden. Für klinische Studien sei anschließend die pharmazeutische Industrie zuständig.

 

Maes erläuterte, welche Anforderungen Leitstrukturen erfüllen sollten, damit eine Substanz es zum Arzneimittel schafft: Die Substanz muss genügend löslich sein, nicht nur im Universallösungsmittel DMSO, auch in Wasser und physiologischen Flüssigkeiten. Die »Lipinski Rule of Five« zur Bewertung der Eignung einer Substanz als oral verfügbarer Arzneistoff sollte beachtet werden (Molekulargewicht unter 500 g/mol, weniger als fünf Wasserstoffbrücken-Donatoren beziehungsweise zehn -Akzeptoren, Verteilungskoeffizient log P kleiner fünf).

 

Vom Zellmodell zur Marktreife

 

Die pharmakologische Effizienz sollte zunächst durch den IC50-Wert in zellbasierten Modellen bestimmt werden. Dieser Wert gibt die Konzentration an, die benötigt wird, um ein Target in vitro zu 50 Prozent zu inhibieren. Er sollte für reine Substanzen unter 25 µM, für Mischungen unter 100 µg/ml liegen. Die Richtwerte hängen vom jeweiligen Modell ab, sollten in jedem Fall aber unterhalb des Milligramm-Bereichs liegen. Genauso wichtig wie die Potenz ist die Selektivität einer Substanz. Als Testorganismen empfahl Maes diejenigen, die medizinische Relevanz haben wie HI-Viren, Staphylococcus aureus, Candida albicans und Plasmodium falciparum. Negativ- und Positiv-Kontrollen dürfen nie fehlen und es sollte mit Referenzstoffen verglichen werden.

 

Für das pharmakokinetische Profil sollte die Membranpermeabilität, der First-Pass-Effekt in Mikrosomen und Wechselwirkungen mit Cytochrom-P450-Enzymen, insbesondere Typ 3A4, untersucht werden. Plasma-Clearance, Verteilungsvolumen und orale Bioverfügbarkeit sind weitere Parameter. Erste Sicherheitsdaten erhält man durch einen Ames-Test, ein zellbasiertes In-vitro-Screening oder DEREK, ein Programm mit dessen Hilfe ein toxikologisches Profil am Computer erstellt werden kann.

 

Daten zur Struktur-Aktivitäts-Beziehung sind hilfreich zur Entwicklung chemischer Derivate. Der Stoff sollte verfügbar beziehungsweise ausreichend isolierbar sein. Letztlich hat auch die Patentierbarkeit einen wichtigen Einfluss, ob die Substanz zur Marktreife gelangen wird. Ist ein möglichst vollständiges Profil erstellt, hat ein Naturstoff gute Chancen, von der Industrie weiter zum Arzneimittel entwickelt zu werden.

 

Feuerwehr im Gehirn

 

Neben Naturstoffen mit antimikrobieller Wirkung bildeten antiinflammatorische und immunmodellierende Substanzen einen Schwerpunkt des Kongresses. »Die Entzündung spielt eine große Rolle bei der Entstehung vieler Krankheiten«, sagte Professor Dr. Oliver Ullrich von der Universität Zürich. Eine heftige Immunantwort ist vor allem für das zentrale Nervensystem (ZNS) gefährlich und kann zu neurodegenerativen Erkrankungen wie amyotropher Lateralsklerose oder Multipler Sklerose führen. »Jede Immunreaktion im Gehirn ist gefährlich für die Nerven«, sagte Ullrich. Daher brauche das ZNS besonderen Schutz. Als sogenanntes »Immunprivileg« verfügt das ZNS über Überwachungsmechanismen, die die Immunreaktion unter Kontrolle halten.

 

Pflanzliche Stoffe scheinen die Signalwege der Entzündung effektiv modulieren zu können. Als Beispiel nannte Ullrich das Flavon Wogonin aus Scutellaria baicalensis, dem Baikal-Helmkraut. Es unterdrückt proinflammatorische Faktoren wie MCP1 (Monocyte chemoattractant protein 1) und iNOS (intrinsische Stickstoffmonoxid-Synthetase). Als vielversprechendes Ziel für Substanzen aus der Naturstoffforschung stellte Ullrich das Endocannabinoid-System vor, das großen Anteil an der Immunkontrolle im ZNS hat. Auf den Immunzellen sind vor allem Cannabinoid-Rezeptoren vom Subtyp 2 zu finden. Auch die Mikrogliazellen verfügen über diese Rezeptoren. Ihre Expression ist abhängig von der Zytokinausschüttung. Als endogene Liganden unterdrücken Anandamide die Immunantwort und verhindern inflammatorische Hirnschäden. Strukturähnlich sind die Alkylamide aus Echinacea. Sie erwiesen sich in Zellmodellen als selektiv für CB2-Rezeptoren und wirkten stärker als endogene Liganden.

 

Sonnenhut schützt vor Erkältungen

 

Über die immunmodulierende Wirkung der Alkylamide sprach auch Dr. Jürg Gertsch, ETH Zürich, im Workshop zum aktuellen Stand der Echinacea-Forschung. So modulieren sie über den CB2-Rezeptor die Expression von TNF-α (Tumornekrosefaktor alpha) und hemmen die Cyclooxygenase-2. Als amphiphile Fettsäurederivate bildeten sie in In-vitro-Versuchen in wässriger Lösung Mizellen, was ihre ansonsten sehr gute Bioverfügbarkeit beeinflussen könnte.

 

Die antibakterielle Wirksamkeit verschiedener chemisch definierter Echinacea-purpurea-Extrakte untersuchten Professor Dr. James Hudson und sein Team von der University of British Columbia, Kanada. Sowohl ein wässriger Extrakt der oberirdischen Pflanzenteile mit hohen Konzentrationen an Polysacchariden und ohne Alkylamide als auch ein ethanolischer Extrakt der Wurzeln mit niedrigen Polysaccharid- und hohen Alkylamid-Konzentrationen waren wirksam gegen Haemophilus influenza, Streptococcus pyogenes und Legionella pneumophilia. Am effektivsten gegen die drei Keime, die Infekte der oberen Atemwege auslösen, zeigte sich aber ein gemischter Extrakt. In Gene-array-Analysen beeinflussten die Extrakte auch die Expression der Gene von Rhinoviren, die für Schnupfen und Erkältung verantwortlich gemacht werden.

 

Und wie wirkungsvoll ist Echinacea nun beim Menschen? Dr. Karin Wölkart von der Universität Graz stellte ein Cochrane Review von 2006 zum Einsatz von Echinacea zur Prävention und Behandlung der Erkältung vor. In diesem systematischen Überblick werteten Wölkart und ihre Kollegen nur Studien aus, die bestimmten Kriterien wie randomisiertes Design und Verwendung von Monopräparaten entsprachen. Von 58 existierenden Studien schlossen sie 42 aus. Selbst die 16 verbliebenen Studien unterschieden sich, zum Beispiel in den verwendeten Pflanzenteilen und Echinacea-Spezies. Auch unter Berücksichtigung elf neuer Studien kommt Wölkart zu einem positiven Ergebnis: Echinacea hat einen Benefit in der Verminderung des Auftretens und der Dauer der Erkältung. So ist unter Echinacea-Einnahme die Wahrscheinlichkeit, eine Erkältung zu entwickeln, um 58 Prozent reduziert und die Krankheitsdauer um 1,4 Tage verkürzt. Sie wies aber auch darauf hin, dass die erhältlichen Fertigarzneimittel sich sehr in ihrer Zusammensetzung und Wirksamkeit unterscheiden und viele nicht getestet sind. Abschließend bewertete Professor Dr. Michael Heinrich, Universität London, das Interaktionspotenzial mit Cytochrom-P450-Enzymen als gering. Damit sei Echinacea in physiologischen Konzentrationen ein sicheres Arzneimittel.

Aus der Zulu-Medizin

Lange Tradition hat die Anwendung der Kapland-Pelargonie, Pelargonium sidoides, in der südafrikanischen Medizin. Dort wird sie vielseitig eingesetzt, unter anderem bei Atemwegsinfekten, Tuberkulose und Gastrointestinalerkrankungen. Dem ethanolischem Extrakt werden antimikrobielle, antivirale und nicht-spezifische Effekte auf das Immunsystem zugeschrieben. Als Inhaltsstoffe wurden bisher Benzopyranone, Purinderivate, anorganische Salze, Kohlenhydrate und oligomere Prodelphinidine identifiziert.

 

Unter anderem erhöhte der Extrakt in In-vitro-Experimenten mit Makrophagen aus Mäusen die Produktion von TNF-α, Interleukin-1α und Interleukin-12 innerhalb von sechs Stunden nach Versuchsbeginn. Die Makrophagen exprimierten vermehrt den CD40-Rezeptor, was auf eine Aktivierung der Immunzellen schließen lässt. Insgesamt stieg die Phagozytoseleistung. Auch die Adhäsion und Invasion von Streptokokken in Epithelzellen verhinderte der Extrakt in vitro.

 

Den Bronchitis severity score (BSS), der den Schweregrad einer akuten Bronchitis beschreibt, konnte eine Lösung aus dem Extrakt EPs® 7630 (Umckaloabo®) in zwei Studien mit insgesamt 420 Patienten im Alter von 1 bis 18 Jahren im Vergleich zu Placebo signifikant senken. Auch in Zulassungsstudien für die Tablettenform mit 399 Kindern und 405 Erwachsenen senkte der Extrakt dosisabhängig den BSS.

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