Nicht mit der Gießkanne |
09.09.2015 09:24 Uhr |
Von Ulrike Viegener / Statine sind hoch effiziente Medikamente und haben die Therapie von Fettstoffwechselstörungen revolutioniert. Aber die Arzneistoffgruppe ist nicht ohne: Statine bergen einige Risiken, die den Einsatz dieser hoch potenten Wirksubstanzen in der Primärprävention im großen Stil fragwürdig erscheinen lassen.
Die Kontroverse ist nicht neu. Bereits seit Jahren stehen Statine wegen verschiedener unerwünschter Nebenwirkungen in der Kritik. Toxische Myopathien bis hin zur Rhabdomyolyse, Diabetes, Nierenfunktionsstörungen – das alles sind Nebenwirkungen, die unter Statinen auftreten können und die – so scheint es – immer noch unterschätzt werden. Auch bei geringgradigen LDL-Anstiegen werden diese Lipidsenker offenbar im großen Stil verordnet, und in manchen Ländern wie in Großbritannien sind einige Vertreter dieser Wirkstoffklasse sogar für die Selbstmedikation freigegeben. Weltweit sollen aktuell über 200 Millionen Menschen Statine einnehmen.
Unstrittig ist der Einsatz von Statinen bei Hochrisikokonstellationen. Das gilt für die Sekundärprävention bei Patienten mit manifesten arteriosklerotischen Gefäßerkrankungen, vor allem dann, wenn bereits Komplikationen wie ein Herzinfarkt aufgetreten sind. Nach Myokardinfarkt wird heute eine forcierte Senkung des LDL-Cholesterols empfohlen mit niedrigeren Zielwerten als bei gesunden Personen. Allerdings zeigt eine Studie zur Verordnungsprävalenz, dass längst nicht alle Postinfarktpatienten Statine einnehmen – weil sie erst gar nicht verordnet oder weil sie wieder abgesetzt werden. Fünf Jahre nach Myokardinfarkt wendeten nur 17 Prozent der rund 30 000 erfassten Postinfarktpatienten ein Statin an (DOI: 10.3238/arztebl.2011.0856).
Statine sollten keinesfalls per Gießkannenprinzip verordnet werden. Vielmehr sollte vor der Frage Statin ja oder nein sorfältig die Risikokonstellation des Patienten bestimmt werden.
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Die Domäne der Statine in der Praxis ist ganz klar die Primärprävention und da wird es problematisch. Unstrittig ist der Einsatz von Statinen zur kardiovaskulären Primärprävention bei gesunden Personen mit massiv erhöhtem LDL-Cholesterol. Aber stimmt die Nutzen-Risiko-Relation auch bei leichteren LDL-Entgleisungen?
Erhöhtes Risiko für Diabetes
Das Risiko, durch die Langzeitgabe von Statinen einen Diabetes auszulösen wird, liegt bei rund 10 Prozent. In der JUPITER-Studie, die auf die Tragweite des Problems aufmerksam machte, war das Risiko, einen Typ 2-Diabetes zu entwickeln, unter Rosuvastatin sogar um 27 Prozent gegenüber Placebo erhöht (DOI: 10.1056/NEJMoa0807646). Eine von fünf Diabetes-Neuerkrankungen soll inzwischen auf Statine zurückzuführen sein. Offenbar ist die diabetogene Wirkung unmittelbar auf die Hemmung des Zielenzyms HMG-CoA-Reduktase zurückzuführen, wie eine genetische Studie zeigte (DOI: 10.1016/S0140-6736(14)61183-1). Genmutationen, die mit einer verminderten Aktivität der HMG-CoA-Reduktase verbunden sind, haben genau dieselbe diabetogene Wirkung wie Statine, die dieses Enzym hemmen. Das wirft die Frage auf, ob man hier nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreibt.
Vor Therapiebeginn Risikofaktoren bestimmen
Und dann ist da auch noch die Frage nach dem Nutzen. Für einigen Wirbel sorgte in dieser Hinsicht eine 2011 publizierte Metaanalyse der Cochrane Heart Group, die Statinen in der Primärprävention nur einen sehr begrenzten Nutzen attestiert (DOI: 10.1002/14651858.CD004816.pub4). Ein Urteil von Gewicht, ist doch die Cochrane Collaboration die oberste Instanz in puncto evidenzbasierter Medizin. Die Metaanalyse erfasst 14 randomisierte kontrollierte Studien mit insgesamt fast 35 000 Teilnehmern, die bis März 2007 publiziert wurden. Zwar sei ein primärpräventiver Effekt nachgewiesen, jedoch sei der absolute Nutzen von Statinen gering, schlussfolgern die Autoren. Unterm Strich hatten die Studien eine um 17 Prozent verringerte Gesamtsterblichkeit und eine um 30 Prozent verringerte Rate kardiovaskulärer Ereignisse dokumentiert. Im Klartext heißt das: Statine reduzieren Todesfälle von 9 auf 8 pro 1000 Personenjahren. Das sei weder für den Einzelnen ein lohnender Gewinn, noch für die Leistungsträger kosteneffektiv.
Ärzte verschrieben in Deutschland im Jahr 2013 1707 Millionen definierte Tagesdosen von Statinen. Dies entspricht einer Behandlung von rund 4,7 Millionen Patienten.
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Deshalb sollten Statine bei erhöhten Cholesterol-Werten nicht mit der Gießkanne ausgeschüttet werden, so die Cochrane-Arbeitsgruppe sinngemäß. Eine Indikation für eine Primärprävention mit Statinen sehen die Autoren der Metaanalyse nur dann, wenn das Risiko eines kardiovaskulären Ereignisses in den nächsten zehn Jahren mindestens 20 Prozent beträgt. Auch internationale Gremien betonten nach dieser Publikation noch einmal nachdrücklich, dass die Indikation für den primärpräventiven Einsatz von Statinen kritisch und abhängig von der individuellen Risikokonstellation zu stellen ist.
Breites Nebenwirkungsspektrum
Erstaunlicherweise ergaben sich in der Cochrane-Metaanayse keine Hinweise auf relevante Nebenwirkungen. Hauptgrund dürften die von den Autoren kritisierten methodischen Mängel einiger Studien sein, in denen Nebenwirkungen beziehungsweise Gründe für einen Therapieabbruch nicht erfasst wurden. Dabei ist das Nebenwirkungsprofil der Statine evident und klar umrissen. Es reicht von einer Erhöhung des Diabetes-Risikos über Myopathien bis hin zur Rhabdomyolyse. Statine können die Leberfunktion beeinträchtigen und das Risiko für Nierenfunktionsstörungen bis hin zu akutem Nierenversagen erhöhen. Zudem erhöhen Statine nach hämorrhagischem Schlaganfall das Risiko einer Folgeblutung mit einer Reduktion der Überlebenszeit in guter Lebensqualität um im Mittel 2,2 Jahre. Des Weiteren stehen sie in Verdacht, dass unter der Therapie vermehrt Katarakte auftreten. Auch Gedächtnisstörungen sind unter der Behandlung beschrieben. Der Verdacht einer demenzfördernden Wirkung hat sich jedoch nicht bestätigt.
Patienten, die ein Statin einnehmen, haben ein deutlich erhöhtes Risiko für Typ-2- Diabetes.
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Mit Myopathien muss laut Studien bei bis zu 20 Prozent der Behandelten gerechnet werden. Das Spektrum reicht von Myalgien ohne Kreatinphosphokinase (CPK)-Anstieg über Myositis mit CPK-Anstieg bis hin zu einer Auflösung der quergestreiften Muskulatur (Rhabdomyolyse) mit massiven CPK-Anstiegen und Braunfärbung des Urins. Bei allen Formen treten Krämpfe, Muskelschwäche und Schmerzen auf. Als Ursache ist die Induktion einer mitochondrialen Dysfunktion wahrscheinlich. Besonders hoch ist das Myopathie-Risiko unter höheren Dosen von Simvastatin, weshalb bei gleichzeitiger Gabe von Medikamenten, die ebenfalls über CYP3A4 metabolisiert werden, andere Statine verwendet werden sollen. Als Kofaktoren, die das Risiko der Statinmyopathie erhöhen, spielen neben Komedikationen auch Genvarianten eine Rolle.
Außerdem können Statine Nierenfunktionsstörungen provozieren, die sich bis zum akuten Nierenversagen ausweiten können. In einer Metaanalyse, in der über zwei Millionen Statin-Neuanwender erfasst wurden, war das Risiko von akutem Nierenversagen mit der Potenz der Statintherapie korreliert (DOI: 10.1136/bmj.f880). Als hoch wirksam wurden folgenden Therapieoptionen eingestuft: Rosuvastatin in einer Tagesdosis ab 10 mg, Atorvastatin in einer Tagesdosis ab 20 mg und Simvastatin in einer Tagesdosis ab 40 mg. Unter diesen hoch potenten Regimen war in den ersten 120 Tagen nach Therapiebeginn das Risiko einer Hospitalisierung wegen akuten Nierenversagens um 34 Prozent erhöht. Danach geht das Risiko zwar zurück, der Unterschied ist aber auch nach zwei Jahren noch signifikant. Bei einem von 1700 behandelten Patienten ohne Nierenvorschäden müsse mit akutem Nierenversagen gerechnet werden, schätzen die Autoren aufgrund der Metaanalyse.
Auch die Therapiekosten stehen in der Kritik.
Umdenken erforderlich
In den Diskussionen für und wider Statine wird immer wieder auf die Leitlinien verwiesen, die ganz klar einen differenzierten Einsatz dieser potenten Lipidsenker propagieren, und es wird oft kolportiert, dass damit jede weitere Diskussion überflüssig sei. Aber: Nicht die Leitlinien sind das Entscheidende, sondern das Verordnungsverhalten in der Praxis. Studien zum Verordnungsverhalten gibt es immer noch wenige. Aber die Studien, die es gibt, zeigen übereinstimmend große Abweichungen von den Empfehlungen.
Für die Sekundärprävention nach Myokardinfarkt wurde das nachgewiesen und in der Primärprävention sieht es sicherlich nicht anders aus. Wie oft in der Alltagspraxis tatsächlich ein individuelles kardiovaskuläres Risikoprofil erstellt wird, bevor Statine zum Einsatz kommen, ist zurzeit nicht bekannt. Streng genommen bedeutet das laut Cochrane, dass das Risiko kardiovaskulärer Ereignisse innerhalb von zehn Jahren mit entsprechenden Scores berechnet werden muss. Die Daten legen nahe, dass dies zukünftig Pflicht und keine Kür sein sollte. /