Brasilien setzt auf Thalidomid |
03.08.2016 08:47 Uhr |
Von Christina Müller / Während die Lepra in Europa als ausgerottet gilt, infizieren sich in Brasilien nach Angaben der Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe (DAHW) jährlich rund 30 000 Menschen mit der Krankheit – weltweit Platz zwei nach Indien. In der Therapie wird unter anderem der teratogene Wirkstoff Thalidomid eingesetzt. Die Konsequenz: Zwischen 2005 und 2010 kamen in Brasilien fast 200 Kinder mit charakteristischen Fehlbildungen zur Welt.
Mitte des 20. Jahrhunderts erlangte der Wirkstoff Thalidomid durch den sogenannten Contergan-Skandal traurige Berühmtheit, nachdem weltweit etwa 10 000 Kinder mit schweren Missbildungen geboren wurden. Ihre Mütter hatten während der Schwangerschaft das damals als Schlaf- und Beruhigungsmittel unter dem Handelsnamen Contergan® vermarktete Medikament eingenommen. Die Betroffenen leiden bis heute unter den Folgen.
Thalidomid kann zur Behandlung einer schweren Komplikation der Lepra eingesetzt werden. Bei Schwangeren besteht dann die Gefahr von Missbildungen des Babys.
Foto: iStockphoto/© zoomstudio
Seit der Jahrtausendwende ist Thalidomid wieder auf dem Vormarsch. Während die Substanz in Deutschland bei multiplem Myelom zugelassen ist, kommt sie in anderen Ländern auch bei der Behandlung von Patienten mit Aids oder bestimmten Autoimmunerkrankungen zum Einsatz. In Brasilien ist das Mittel aufgrund seiner Wirksamkeit gegen eine häufige und gefürchtete Lepra-Komplikation gefragt: Die Immunreaktion Typ 2 oder auch Erythema Nodosum Leprosum (ENL) tritt vor allem bei der lepromatösen Lepra auf. Dabei bilden sich Immunkomplexe gegen den Erreger Mycobacterium leprae.
Ausbruch bei Immunschwäche
Dieser ist vermutlich per Tröpfcheninfektion übertragbar. Ist das Immunsystem des Infizierten geschwächt, kann die Krankheit auch nach einer Latenzzeit von mehreren Jahren oder sogar Jahrzehnten noch ausbrechen. Dann manifestieren sich charakteristische Hautläsionen, die häufig von einem Befall der peripheren Nerven begleitet sind.
Die verschiedenen Lepraformen lassen sich anhand der Schwere des Immundefekts einteilen. Dieser bestimmt, in welchem Ausmaß sich die Mykobakterien vermehren können. Nach Ridley und Jopling nimmt die lepromatöse Lepra den schwersten Verlauf. Sie zeichnet sich durch eine hohe Erregerlast aus und schreitet oft rasch fort. Die tuberkuloide Lepra ist die mildeste Form. Sie ist gekennzeichnet durch eine geringe Erregerlast, häufig kommt es zu spontanen Remissionen. Eine Zwischenform stellt die Borderline-Lepra dar, es existieren jedoch noch weitere Übergangsformen.
Während Ridley und Jopling die morphologischen Veränderungen in den Vordergrund stellen, konzentriert sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf therapeutische Aspekte (siehe Tabelle). In ihrer Klassifikation unterscheidet sie demnach nur zwischen der paucibazillären Lepra mit geringer Erregerlast und bis zu drei Hautläsionen sowie der multibazillären Lepra mit hoher Erregerlast und mehr als drei Hautläsionen.
ENL äußert sich anhand von zarten, subkutanen Knötchen, Entzündungen, Fieber, Augen- und Organbeteiligung sowie Nervenschäden und ist eine wesentliche Ursache für Morbidität in dieser Patientengruppe. Durch den Befall der Nervenbahnen, in denen sich das Bakterium bevorzugt einnistet, ist der Tastsinn der Erkrankten oft erheblich beeinträchtigt. In der Folge bleiben schwere Verletzungen der Gliedmaßen unbemerkt. So kommt es letztlich zu den typischen Lepra-Verstümmelungen, mit denen laut DAHW weltweit etwa vier Millionen Menschen leben müssen. Der Erreger macht auch vor dem Sehnerv nicht Halt – die häufig daraus folgende Blindheit verschärft die Lage der Betroffenen dramatisch.
Antientzündlich und immunmodulierend
Als säurefestes Bakterium färbt sich Mycobacterium leprae bei der Ziehl- Neelsen-Färbung rot. Die Stäbchen zeigen sich unter dem Mikroskop intrazellulär gelagert und zigarettenbündelförmig verklumpt.
Foto: CDC
Thalidomid gilt aufgrund seiner antientzündlichen, immunmodulierenden und Angiogenese-hemmenden Eigenschaften als effektive Therapieoption bei ENL. In Brasilien findet der Wirkstoff reichlich Verwendung: Wissenschaftler fanden heraus, dass zwischen 2005 und 2010 fast 5,9 Millionen Thalidomid-Tabletten an Leprapatienten ausgegeben wurden. Im selben Zeitraum stellten sie bei 192 Neugeborenen charakteristische Geburtsfehler fest. Eine entsprechende Studie veröffentlichten die Forscher um Fernanda Sales Luiz Vianna 2015 im Fachjournal »Reproductive Toxicology« (DOI: 10.1016/j.reprotox.2015.03.007).
Für die Auswertung nutzte das Team vom nationalen Institut für medizinische Genetik in Porto Alegre die Geburtendaten von allen rund 17,5 Millionen Kindern, die in den ausgewählten sechs Jahren in Brasilien zur Welt kamen, sowie staatlich erfasste Daten zur Lepraprävalenz. Sie suchten nach Aufzeichnungen über typische Malformationen bei den Neugeborenen und prüften, ob diese in einem räumlichen Zusammenhang mit der Zahl der Leprakranken sowie zur Ausgabe von Thalidomid-Tabletten stehen.
Dabei erkannten die Autoren eine signifikante direkte Korrelation zwischen der Zahl der dispensierten Tabletten und dem Auftreten von charakteristischen Embryopathien: Pro 100 000 verteilten Tabletten stieg die Anzahl der Fehlbildungen der Studie zufolge um mehr als 26 Prozent. Besonders hoch waren die Quoten in den Regionen Rio Grande do Sul im Süden (Prävalenz: 0,218) sowie Pernambuco (0,208) und Rio Grande do Norte (0,237) im Nordosten des Landes.
Seit 2003 steht die Behandlung mit Thalidomid in Brasilien unter strengen Auflagen. So darf das Medikament nur im Rahmen spezieller Regierungsprogramme ausgegeben werden. Frauen im gebärfähigen Alter sollen unter Thalidomid zwei verschiedene Verhütungsmethoden anwenden und in regelmäßigen Abständen Schwangerschaftstests durchführen. Dennoch vermuten die Wissenschaftler einen Mangel an Kontrolle bei der Abgabe und beim Gebrauch des Arzneimittels als Ursache für die hohe Zahl an Embryopathien. Auch die endemische Verbreitung der Lepra könnte eine Rolle spielen. »Derzeit verzeichnen einige Regionen mehr als acht Fälle pro 10 000 Einwohner.«
Warnsignal falsch gedeutet
Möglicherweise hängt das Phänomen auch damit zusammen, dass in dem südamerikanischen Land noch immer viele Analphabeten leben. Verschiedene Medien berichteten von Fällen, in denen junge Frauen das Warnsymbol auf der Verpackung – eine Schwangere mit durchgestrichenem Bauch – fälschlich für eine Kennzeichnung als Verhütungs- oder Abtreibungsmittel hielten. Sie nahmen das Mittel meist in der frühen Phase der Schwangerschaft ein, in der der Wirkstoff besonders gefährlich für den Fetus ist. Von den rund 205 Millionen Einwohnern Brasiliens konnten nach Angaben der UNESCO im Jahr 2015 etwa 14 Millionen der Über-15- Jährigen nicht lesen und schreiben.
Multibazilläre Lepra | Paucibazilläre Lepra | Einzelne Hautläsion | |
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Rifampicin | 600 mg einmal monatlich über zwölf Monate | 600 mg einmal monatlich über sechs Monate | 600 mg einmalig |
Dapson | 100 mg täglich über zwölf Monate | 100 mg täglich über sechs Monate | |
Clofazimin | 50 mg täglich über zwölf Monate – einmal monatlich 300 mg | ||
Ofloxacin | 400 mg einmalig | ||
Minocyclin | 50 mg einmalig |
Die WHO lehnt den Einsatz von Thalidomid bei ENL ab. Dessen Wirksamkeit gegen die entzündlichen Prozesse an Haut und Nerven sei vor allem auf seine antipyretischen Eigenschaften zurückzuführen. »Verschiedene kontrollierte Studien aus den 1970er-Jahren haben jedoch gezeigt, dass ENL und die damit verbundene Neuritis mit Prednisolon effektiver behandelbar sind«, heißt es auf der WHO-Website. Zudem habe auch der Wirkstoff Clofazimin, der ebenfalls zur Behandlung von Leprapatienten eingesetzt wird, antientzündliche Eigenschaften. Clofazimin sei daher mit Blick auf den zweifachen Nutzen das Mittel der Wahl zur Therapie der chronischen, wiederkehrenden ENL, so die Einschätzung der WHO. Die Risiken, die der Einsatz von Thalidomid mit sich bringt, seien schlichtweg zu hoch: »Die Erfahrung zeigt, dass es nahezu unmöglich ist, ein narrensicheres Überwachungsnetz zu entwickeln und umzusetzen, mit dessen Hilfe sich der fehlerhafte Gebrauch des Mittels verhindern ließe.«
Mechanismus geklärt
Warum Thalidomid teratogen ist, konnten Wissenschaftler der Technischen Universität München erst kürzlich aufklären: Die Forscher um Professor Dr. Florian Bassermann von der medizinischen Klinik für Hämatologie und Onkologie identifizierten das körpereigene Protein Cereblon als Schlüsselfaktor. Dieses besitzt eine wichtige Funktion bei der Neubildung von Gefäßen. Thalidomid verbindet sich mit Cereblon und sorgt so dafür, dass das Protein seine Aufgabe nicht mehr wahrnehmen kann. Die Folge ist eine gestörte Angiogenese, die letztlich zu den typischen Fehlbildungen führt. Die Studienergebnisse publizierten Bassermann und Kollegen im Juni im Fachjournal »Nature Medicine« (DOI: 10.1038/nm.4128). /