Nebenwirkungen im Blick |
21.07.2015 17:01 Uhr |
Von Annette Mende, Berlin / Weil Dauer und Teilnehmerzahl von Zulassungsstudien begrenzt sind, ist das Wissen über die Sicherheit von Arzneimitteln zum Zeitpunkt der Markteinführung unvollständig. Um seltene Nebenwirkungen zu erkennen, müssen Apotheker und Ärzte wachsam sein und diese den Arzneimittelkommissionen melden.
Eine Aufgabe sowohl der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) als auch der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) ist das Erfassen und Bewerten von Spontanmeldungen.
Um bei seltenen Nebenwirkungen den Zusammenhang mit dem Medikament herzustellen, braucht es fast schon detektivische Fähigkeiten
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Wie wichtig das ist, machte Dr. Thomas Stammschulte von der AkdÄ bei einer gemeinsamen Fortbildungsveranstaltung der beiden Kommissionen in Berlin anhand eines aktuellen Beispiels deutlich. So seien diabetische Ketoazidosen unter SGLT-2-Hemmern, vor denen erst kürzlich gewarnt wurde, so selten, dass diese Nebenwirkung erst bei breiter Anwendung nach der Zulassung erkennbar war.
»Unser Wissen über die Sicherheit neuer Arzneistoffe ist lückenhaft«, sagte Stammschulte. Laut einer Untersuchung der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) werden neue Wirkstoffe vor ihrer Markteinführung durchschnittlich an 1700 Patienten getestet. Bei Arzneimitteln zur chronischen Anwendung sind es etwas mehr, nämlich durchschnittlich 2300. Um seltene Nebenwirkungen zu erkennen, reicht aber auch das nicht, wie Stammschulte ausführte.
»Wenn die Nebenwirkung in der Allgemeinbevölkerung gar nicht auftritt, sich also eindeutig dem Arzneimittel zuordnen lässt, braucht man 300 Probanden, um ein häufiges Ereignis statistisch sicher zu erfassen.« Häufig ist eine Nebenwirkung laut Definition dann, wenn sie bei einem von 100 Behandelten auftritt. Handelt es sich um eine gelegentliche Nebenwirkung – einer von 1000 Behandelten ist betroffen –, braucht man zum Nachweis schon 3000 Studienteilnehmer. Seltene beziehungsweise sehr seltene Nebenwirkungen sind sogar erst mit 30 000 beziehungsweise 300 000 exponierten Patienten zu erkennen.
Große Patientenzahlen erforderlich
Die SGLT-2-Inhibitoren seien in Zulassungsstudien vergleichsweise sehr gut untersucht worden, so Stammschulte. »Für Dapagliflozin gab es Daten von 4300 Patienten.« Da aufgrund des Wirkmechanismus einer erhöhten Glucose-Ausscheidung die Gefahr von Ketoazidosen nahelag, wurde in den Zulassungsstudien sogar besonders darauf geachtet, ohne dass sich jedoch Hinweise ergaben. Der Grund: Die Probandenzahl war zu gering. »Insgesamt wurden bislang 101 Fälle von Ketoazidosen gemeldet bei etwa einer halben Million exponierter Patienten«, informierte Stammschulte.
Da Zulassungsstudien in der Regel höchstens ein Jahr dauern, ist auch ihre Aussagekraft in Bezug auf Langzeitfolgen der Medikamentenanwendung gering. Auch hierfür hatte Stammschulte ein Beispiel aus der Praxis parat: die Sprue-ähnliche Enteropathie, die in sehr seltenen Fällen durch Langzeitanwendung des AT-1-Rezeptorantagonisten Olmesartan ausgelöst werden kann. Die schweren, chronischen Durchfälle sind möglicherweise auf eine verzögerte Überempfindlichkeitsreaktion zurückzuführen, treten erst nach jahrelanger Einnahme auf und zwingen häufig zum Absetzen des Medikaments.
Jede Meldung ist wichtig
»Diese Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, dass Ärzte jeden Verdacht auf Nebenwirkungen der AkdÄ melden«, sagte Stammschulte. Dass für Apotheker dasselbe gilt, verdeutlichte Dr. Matthias Ganso von der AMK, ebenfalls anhand von Praxisbeispielen. So sei eine Fehlfunktion des Pens beim Antirheumatikum Adalimumab (Humira®) erst durch Meldungen aus Apotheken aufgefallen. »Bei Xalatan®-Augentropfen klagten Patienten plötzlich vermehrt über starkes Brennen, Schmerzen sowie eine Augenrötung nach der Anwendung«, berichtete Ganso. Als sich die Spontanmeldungen dazu häuften, ergab eine Nachfrage beim Hersteller, dass dieser den pH-Wert gesenkt hatte, um eine Lagerbarkeit bei Raumtemperatur zu ermöglichen.
»Melder sind häufig unsicher, ob ein Ereignis relevant genug ist, um es zu melden, oder ob es überhaupt mit der Medikamentenanwendung zusammenhängt«, sagte Ganso. Diese Skrupel sollten Apotheker jedoch nicht vom Melden abhalten, denn: »Sie müssen keinen möglichen Mechanismus nennen oder gar einen Zusammenhang beweisen können. Es geht um eine Wahrscheinlichkeit«, so der Referent. Jeder Meldende könne sich sicher sein, dass sein Fall begutachtet und mögliche Konsequenzen daraus abgeleitet werden. Bis diese spürbar werden, ist jedoch mitunter Geduld gefragt, da teilweise erst mehrere Meldungen zum selben Problem die erforderliche Aussagekraft ergeben. /