Medikation senkt Missbrauchsrisiko |
19.07.2017 10:29 Uhr |
Von Annette Mende / Jugendliche und junge Erwachsene mit ADHS haben häufiger Drogenprobleme als gesunde Gleichaltrige. Durch eine Pharmakotherapie der ADHS sinkt das Missbrauchsrisiko signifikant. Dieses und weitere Studienergebnisse der vergangenen Jahre belegen den Nutzen der medikamentösen ADHS-Therapie.
Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität sind die Leitsymptome der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Durch ihre Verhaltensauffälligkeit haben Betroffene viele Probleme im Alltag: Sie schaffen oft nur einen niedrigen Schulabschluss, später verlieren sie häufig den Arbeitsplatz, sind öfter in Unfälle verwickelt als Gesunde und greifen auch häufiger zur Flasche oder konsumieren andere Drogen. In der Folge ist die Mortalität von ADHS-Patienten gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöht, vor allem aufgrund des Substanzmissbrauchs.
Alkohol- oder Drogenprobleme sind bei ADHS-Patienten häufig. Wenn sie Medikamente gegen ihre Verhaltensauffälligkeit bekommen, werden Drogenexzesse seltener.
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Bei schwerer Symptomatik ist die Pharmakotherapie neben der Verhaltenstherapie und dem Elterntraining eine wichtige Säule der Behandlung. Sie ist laut einem kürzlich im »Deutschen Ärzteblatt« erschienenen Übersichtsartikel »im Regelfall wirksam« (DOI: 10.3238/arztebl.2017.0141). An Wirkstoffen stehen in Deutschland die Stimulanzien Methylphenidat, Lisdexamfetamin, Dexamfetamin und Amphetamin sowie die nicht unter das Betäubungsmittelrecht fallenden Substanzen Atomoxetin und Guanfacin zur Verfügung. Die Therapie mit Stimulanzien ist leitliniengerecht, hat aber in der Öffentlichkeit wegen des Missbrauchspotenzials der Wirkstoffe teilweise ein schlechtes Image.
Weniger Alkohol und Drogen
Das Ergebnis einer aktuellen Beobachtungsstudie dürfte den Kritikern nun den Wind aus den Segeln nehmen. Jugendliche und junge Erwachsene mit ADHS hatten darin in Phasen, in denen sie medikamentös behandelt wurden, ein signifikant geringeres Risiko für Alkohol- oder Drogenmissbrauch, als wenn sie unbehandelt waren. Das berichtet ein Team um Dr. Patrick Quinn von der Indiana University in Bloomington im »American Journal of Psychiatry« (DOI: 10.1176/appi.ajp.2017.16060686).
Die Autoren hatten aus einer Datenbank mit anonymisierten Versichertendaten von US-Amerikanern knapp 3 Millionen ADHS-Patienten extrahiert, von denen etwa 57 Prozent in einem Zehnjahreszeitraum nur phasenweise eine ADHS-Medikation erhalten hatten. Ein weiteres Kriterium war, dass die Patienten im Beobachtungszeitraum mindestens einmal in einer Notfallambulanz aufgrund von Alkohol- oder Drogenmissbrauchs behandelt worden waren, was auf etwa 2 Prozent zutraf. Anschließend berechneten die Forscher die Wahrscheinlichkeiten, mit denen solche Drogenexzesse unter ADHS-Medikation beziehungsweise in behandlungsfreien Intervallen auftraten.
Die relative Risikoreduktion unter ADHS-Medikation betrug bei Männern 35 Prozent und bei Frauen 31 Prozent. Der Effekt war auch zwei Jahre nach Behandlungsstopp noch vorhanden, fiel aber dann mit -19 Prozent bei Männern und -14 Prozent bei Frauen geringer aus. Die am häufigsten eingesetzten Wirkstoffe waren Amphetamin und Methylphenidat; an dritter Stelle folgte Atomoxetin, das aber deutlich seltener zum Einsatz kam.
Kennzeichen einer ADHS ist laut Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte unaufmerksames und impulsives Verhalten mit oder ohne deutliche Hyperaktivität, das nicht dem Alter und Entwicklungsstand entspricht und zu deutlicher Beeinträchtigung des Betroffenen führt. Die Auffälligkeiten sollen mindestens sechs Monate bestehen, bereits vor dem Alter von sieben Jahren begonnen haben und nicht durch andere Entwicklungsstörungen oder Erkrankungen erklärbar sein. Symptome treten vom Säuglings- bis ins Erwachsenenalter auf, wobei bei Jugendlichen die hyperaktive Symptomatik abnimmt. Bei weiblichen Betroffenen überwiegt in allen Altersstufen meistens die Aufmerksamkeitsstörung.
Mehrere Fachgesellschaften arbeiten zurzeit an der Erstellung einer S3-Leitlinie »ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen«. Sie soll Ende August veröffentlicht werden und dann die verschiedenen derzeit existierenden Leitlinien ersetzen.
»Die Bedenken gegen die Verwendung von Medikamenten zur Behandlung der ADHS sind aufgrund des Missbrauchspotenzials der Wirkstoffe verständlich«, sagt Quinn in einer Pressemitteilung der Universität. Die aktuellen Ergebnisse und auch die anderer, kürzlich veröffentlichter Studien zeigten aber, dass das Risiko von Alkohol- oder Drogenmissbrauch unter der Therapie sinkt, so der Psychologe, der in Bloomington in der Arbeitsgruppe von Professor Dr. Brian D’Onofio forscht. Letzterer war in den vergangenen Jahren Koautor verschiedener Studien zum Einfluss der ADHS-Medikation auf verschiedene Risikofaktoren.
So fanden D’Onofio und Forscher des Stockholmer Karolinska Institutet bereits 2013 im »Journal of Child Psychology and Psychiatry« bei einer Auswertung von schwedischen Registerdaten einen Hinweis auf einen Rückgang des Risikos für Drogen- und Alkoholmissbrauch durch Stimulanzien (DOI: 10.1111/jcpp.12164). Ein Jahr später berichtete eine Gruppe um D’Onofio in »JAMA Psychiatry« über ein möglicherweise reduziertes Risiko für Verkehrsunfälle bei männlichen ADHS-Patienten durch eine medikamentöse ADHS-Therapie (DOI: 10.1001/jamapsychiatry.2013.4174). Die Datengrundlage hatten auch hier schwedische Registerdaten gebildet. »Zusammengenommen ergeben diese Studien eine wachsende Evidenz zu den kurz- und langfristigen positiven Effekten der ADHS-Medikation«, sagt D’Onofio. »Ich denke, das ist ein beruhigender Befund.«
Auch Erwachsene betroffen
Substanzmissbrauch und riskantes Verhalten im Straßenverkehr sind Probleme, die eher ältere Jugendliche und Erwachsene betreffen. Dass auch diese Altersgruppen von ADHS betroffen sein können, ist eine relativ junge Erkenntnis, wie die Autoren des Artikels im Ärzteblatt um Professor Dr. Christian Bachmann von der Berliner Charité ausführen. Noch bis vor etwa 15 Jahren habe die Auffassung vorgeherrscht, dass eine ADHS sich mit der Pubertät auswachse und eine Behandlung nach diesem Alter nicht mehr notwendig sei. Tatsächlich bestehe die Störung aber bei etwa 40 bis 50 Prozent der Betroffenen auch im Erwachsenenalter fort.
Wenn ADHS-Kinder erwachsen werden, ist spätestens ab dem 21. Lebensjahr nicht mehr der Pädiater oder Kinder- und Jugendpsychiater für sie zuständig. Dieser Übergang in die Erwachsenenmedizin gelingt in Deutschland nicht immer reibungslos, wie die Autoren anhand von bundesweiten Versichertendaten der AOK feststellten. Von 5593 15-jährigen ADHS-Patienten hatten sechs Jahre später, also im Alter von 21 Jahren, nur noch 31,2 Prozent eine ADHS-Diagnose. Im gleichen Zeitraum sank die Medikationsquote von 51,8 Prozent auf 6,6 Prozent. »Die niedrige Medikationsquote am Übergang ins Erwachsenenalter wirft die Frage auf, ob für diese Altersgruppe spezifische Transitionskonzepte entwickelt werden müssen«, folgern die Autoren. /