Selbstmanagement stärken |
29.06.2015 14:21 Uhr |
Von Annette Becker/ Etwa ein Drittel der Patienten mit chronischen Rückenschmerzen leidet unter starken Schmerzen bei gleichzeitig großer psychischer Belastung.
Die Ursachen sind multifaktoriell und betreffen sowohl somatische Veränderungen, Kognitionen und Verhalten als auch die soziale Eingebundenheit in das Berufs- und Privatleben. Eine genaue Zuordnung der Schmerzen zu einer bestimmten Ursache lässt sich meist nicht treffen.
Hoher Leidensdruck
Fast 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung hatten schon einmal in ihrem Leben Rückenschmerzen (1). Die meisten Beschwerden heilen spontan, auch ohne jede Therapie. Allerdings haben Rückenschmerzen die Tendenz zu rezidivieren.
70 bis 80 Prozent der Bevölkerung haben in ihrem Leben schon einmal unter Rückenschmerzen gelitten.
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Circa 10 Prozent der Patienten erleiden einen chronischen Verlauf. In den Hausarztpraxen sind chronische Rückenschmerzen etwa 15 bis 22 Prozent der Beratungsanlässe, wobei viele Patienten neben den Rückenschmerzen auch Schmerzen in anderen Körperregionen angeben (2).
Etwa ein Drittel der Patienten mit chronischen, also über drei Monate anhaltenden Rückenschmerzen sind stark eingeschränkt und zeigen einen hohen Leidensdruck bei psychischer Belastung und schlechten Bewältigungsstrategien. Im Vergleich zu anderen Patienten nehmen sie häufig Gesundheitsleistungen in Anspruch (3). Die Schmerzen wirken sich auf die ganze Lebensgestaltung unter anderem in Form häufiger Arztbesuche und sozialen Rückzugs aus. Oft zeigen die Patienten den Hang zur Somatisierung und/oder psychischen Begleiterkrankungen wie Angst oder Depressionen.
Im Zusammenhang mit chronischen Rückenschmerzen werden viele Diagnosen und hier unter anderem Spinalkanalstenose, Bandscheibenvorfall, Skoliose, Osteoporose, Arthrose und Muskelverspannungen genannt. Je nach Perspektive des Untersuchers wird die Ursache eher in organischen Veränderungen, funktionellen Ursachen oder psychischer Beeinträchtigung gesehen.
Entsprechend variiert der Behandlungsansatz von strukturverändernden Maßnahmen wie Wirbelsäulenoperationen über funktionell arbeitende Methoden und hier zum Beispiel Physiotherapie bis hin zu psychologischen Verfahren wie Verhaltenstherapie oder Selbstbewältigungstraining
Trotzdem hat sich bisher kein Verfahren als eindeutig überlegen erwiesen. Auch der Versuch, Gruppen zu bilden, die mehr von der einen oder der anderen Therapie profitieren, zeigt keine überzeugenden Ergebnisse.
Veränderte Wahrnehmung
Trotz der oftmals noch immer unzureichenden Therapieeffizienz werden viele Prozesse der Schmerzentstehung und -ausbreitung heute besser verstanden. So weiß man inzwischen, dass andauernde Schmerzreize zu strukturellen und funktionellen Veränderungen im zentralen Nervensystem führen. Es kommt zur Re-Organisation auf der Hirnrinde und zur Sensibilisierung von Nozizeptoren im Rückenmark und im Gehirn.
Das Therapiespektrum reicht von Selbstbewältigungstrainingsmaßnahmen bis hin zu Wirbelsäulenoperationen.
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Überempfindlichkeit und unzureichende Hemmung führen zur erhöhten Empfindlichkeit für Schmerzreize. Einfache, normalerweise nicht schmerzhafte Reize können plötzlich als Schmerz empfunden werden. Die schmerzhaften Areale dehnen sich aus. Hierzu trägt auch die periphere Sensibilisierung bei, bei der Entzündungen, Traumata und Verletzungen zu einer Übererregbarkeit der Nozizeptoren in der Peripherie führen können (4).
Neben der Schmerzwahrnehmung wird die Schmerzverarbeitung beeinflusst. Emotional, vegetativ und motorisch findet eine Bewertung hinsichtlich der Schmerzqualität statt, woraus in der Gesamtheit ein Schmerzverhalten resultiert, welches wiederum die Bewertung beeinflusst. So können Depressionen oder Angstgefühle die Schmerzwahrnehmung verstärken. Schließlich verändert sich diese so, dass das Erleben der Schmerzen nicht mehr im direkten Zusammenhang mit dem eigentlichen Auslöser steht.
Es ist kein starres System. Alles ist im Fluss. Veränderungen können ausbleiben, sich ausdehnen oder auch rückbilden und unterliegen der ständigen Einwirkung von Umweltfaktoren, individuellen Charakteristika oder Lernmechanismen. So kann ein Patient mit Rückenproblemen weniger Schmerzen spüren, wenn er sich ruhig verhält und nicht bewegt, weshalb er in ein Schonverhalten fällt. Langfristig kann aber die fehlende Aktivität über muskulären Abbau und mangelnde Fitness zu einer Verschlechterung der Beschwerden führen.
Auch das Verhalten des Therapeuten ist von großer Bedeutung. Die ständige Suche nach einer vermeintlich geschädigten (Gewebe-)Struktur durch bildgebende Verfahren führt beim Patienten zu der Angst, etwas könne übersehen worden sein, das jederzeit zur Katastrophe in Form bleibender Schäden führen kann. Das daraus resultierende Schonverhalten wirkt sich auf die Wahrnehmung (Überempfindlichkeit) aus und leistet langfristig bestehenden oder neuen Depressionen Vorschub.
Grunderkrankungen ausschließen
In der Mehrzahl der Fälle ist es trotz umfassender Diagnostik nicht möglich, Kreuzschmerzen einer eindeutigen Ursache zuzuordnen. (Gewebe-)Läsionen oder -Auffälligkeiten sind nicht zwingend Auslöser für aktuelle Beschwerden. Die Ergebnisse bildgebender Verfahren korrelieren nicht unbedingt mit den Schmerzen der Patienten.
Sehr häufig korreliert das Befinden des Schmerzpatienten nicht mit dem bildgebenden Befund.
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Manche Patienten zeigen ausgeprägte Veränderungen im Röntgenbild, aber kaum Schmerzen. Wiederum andere leiden unter stärksten Einschränkungen durch Schmerzen, zeigen aber kaum Veränderungen des Achsenskeletts.
Eine Bildgebung ist nur dann sinnvoll, wenn aufgrund von Warnhinweisen, sogenannten red beziehungsweise yellow flags (Kasten), der Verdacht besteht, dass die Rückenschmerzen auf eine spezifische Pathologie zurückzuführen sind und Interventionsbedarf besteht. Hierzu gehören maligne Erkrankungen, Frakturen, rheumatische Erkrankungen oder Nervenschädigungen. Solche Ursachen sind sehr selten. Rückenschmerzen, die darauf zurückzuführen sind, werden spezifische Rückenschmerzen genannt.
In jüngster Zeit werden Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Konzepts der red und yellow flags laut, da es nur unzureichend untersucht und in seiner Aussagekraft begrenzt ist. Trotzdem gibt es derzeit für die Primärversorgung keinen besseren Ansatz, um Überversorgung wie unnötige Untersuchungen zu vermeiden und andererseits gefährliche Verläufe frühzeitig zu erkennen.
Häufig wird in diesem Zusammenhang die Spinalkanalstenose genannt. Infolge des zunehmenden Durchschnittsalters der Bevölkerung scheint ihre Prävalenz zu steigen. Sie tritt vor allem bei Patienten über 60 Jahre auf. Vorwiegend infolge degenerativer Veränderungen wird der Spinalkanal eingeengt. Die Patienten leiden unter Rückenschmerzen und belastungsabhängigen Schmerzen in den Beinen, die zur Einschränkung ihrer Gehstrecke führen.
Eine vornüber gebeugte Körperhaltung in Form von Aufstützen auf den Einkaufswagen, Kutschersitz oder Radfahren hilft. Die Diagnose wird bei typischer Symptomatik über die Kernspintomografie gestellt. Wenn möglich wird konservativ medikamentös, physiotherapeutisch oder physikalisch therapiert. Bei unzureichenden Effekten oder gravierenden neurologischen Ausfällen wie zum Beispiel Lähmungserscheinungen in den Beinen besteht die Indikation zur Operation (5).
Die ankylosierende Spondylitis ist eine vergleichsweise seltene Erkrankung des jungen Lebensalters, von der 0,3 bis 0,5 Prozent der Bevölkerung betroffen sind. Sie gehört zu den entzündlich rheumatischen Erkrankungen und geht mit einer Versteifung der Wirbelsäule einher.
Die Patienten wachen häufig in der zweiten Nachthälfte aufgrund der Schmerzen auf und beschreiben eine Morgensteifigkeit von mehr als 30 Minuten, die bei Bewegung besser wird. Die Diagnose wird röntgenologisch oder über die Bestimmung des humanen Proteinkomplexes Human Leukocyte Antigen-B (HLA-B) 27 in Verbindung mit klinischen Zeichen gestellt. In der Therapie der ankylosierenden Spondylitis werden NSAR und TNF-alpha-Inhibitoren sowie physiotherapeutische und physikalische Therapiemaßnahmen eingesetzt (6).
Bandscheibenvorfälle liegen bei mehr als 60 Prozent der Menschen über 60 Jahren vor. Auch hier korrelieren röntgenologische und klinische Befunde zumeist nur unzureichend. In mehr als der Hälfte der Fälle verursachen sie keine Beschwerden und sind somit gar nicht für die Rückenschmerzen der Patienten verantwortlich.
Hinweise für das Vorliegen eines Bandscheibenvorfalls sind einschießende Schmerzen im Bein, Missempfindungen und neurologische Ausfälle mit Kraftverlust und Reflexabschwächungen. Die Diagnose wird mittels Computertomografie (CT) oder Magnetresonanztomografie (MRT) gestellt. Akute neurologische Ausfälle bei Bandscheibenvorfall können von einer Operation profitieren. Bei chronischen Beschwerden wird das Bild der Rückenschmerzen häufig von den oben aufgelisteten Einflussfaktoren überlagert, sodass operative Maßnahmen meist nicht hilfreich sind und der Schwerpunkt auf physio- und psychotherapeutische Verfahren gelegt wird (7).
Komplexes Geschehen
Die Schmerzentstehung, -aufrechterhaltung und -wahrnehmung ist komplex. Trotz vieler Anstrengungen ist es bislang nicht gelungen, homogene Patientengruppen zu identifizieren, die eindeutig einer Therapie zugeordnet werden können. Nicht selten kommt es vor, dass ein Rückenschmerzpatient bei Verdacht auf eine Spinalkanalstenose operiert wird, aber nach der Operation weiterhin unter Schmerzen leidet, da anscheinend andere Faktoren zur Aufrechterhaltung der Schmerzen beitragen.
In der Behandlung chronischer Rückenschmerzen haben sich neben Entspannungsverfahren auch bewegungs- und ergotherapeutische Maßnahmen als wirksam erwiesen.
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Für die Mehrzahl chronischer Schmerzpatienten bedeutet das, dass sie nicht von den Schmerzen geheilt werden können. Ähnlich wie bei anderen chronischen Erkrankungen wie zum Beispiel Diabetes mellitus oder Herzerkrankungen muss der Schwerpunkt der primärmedizinischen Versorgung auf die optimale Begleitung der Patienten gesetzt werden.
Zu den Behandlungszielen zählt es demzufolge, die Schmerzen zu lindern, sodass die Patienten ihren Alltag gestalten können. Überversorgung in Form unnötiger oder mehrfach durchgeführter Diagnostik ist zu vermeiden. Aufrechterhaltende Faktoren müssen erkannt und, wenn möglich, behandelt werden. Die Entwicklung depressiver Komorbiditäten oder sozialmedizinischer Konsequenzen muss verhindert oder gleichermaßen frühzeitig durch Therapie ausgeschlossen werden. Frühzeitige Warnhinweise müssen gesehen, es muss gegebenenfalls rechtzeitig interveniert werden.
Dieses bedeutet, die Schmerzerkrankung als eine chronische Erkrankung und nicht als vorübergehenden alarmierenden Zustand zu begreifen. »Helfen, trotzdem weiterzumachen« ist eine zentrale Aufgabe der Therapeuten. Für Patienten und Therapeuten ist es wichtig, nicht zu resignieren. Eine solche Versorgung verlangt großes kommunikatives Geschick, Fachkompetenz und Interdisziplinarität.
Medikamentöse Therapie
Die medikamentöse Therapie bei chronischen Rückenschmerzen soll den Patienten helfen, ihren Alltag zu gestalten und auch nicht medikamentöse Maßnahmen in Anspruch zu nehmen. Bei stark chronifizierten Schmerzen mit schmerzverstärkender Komorbidität wie somatoformen Störungen, Angst oder Depressionen ist jedoch medikamentös häufig keine ausreichende Senkung der Schmerzintensität zu erzielen. Die Herausforderung liegt darin, die Patienten zu erkennen, die von der Therapie profitieren. Die Dosierung muss so gestaltet werden, dass eine ausreichende Schmerzlinderung bei gleichzeitig größtmöglicher Begrenzung der Nebenwirkungen erzielt werden kann.
Die Therapie orientiert sich am WHO-Stufenschema. Zum Einsatz kommen Paracetamol, traditionelle nicht steroidale Antirheumatika (tNSAR), Cox-2-Hemmer und Muskelrelaxantien. Ein Mittel der ersten Wahl gibt es nicht. Bei chronischen Schmerzen ist die Gefahr gegeben, dass frei verkäufliche Präparate in zu hoher Dosierung und über lange Zeiträume eingenommen werden und zu unbeabsichtigten Intoxikationen oder Nebenwirkungen führen.
Auch Massagen können schmerzlindernd wirken.
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Paracetamol wird in einer Dosierung von maximal drei Gramm pro Tag empfohlen. Es ist weniger wirksam als tNSAR, vom Nebenwirkungsprofil jedoch günstiger. Die Verordnung von tNSAR bei Rückenschmerzen ist weitaus verbreiteter. Ihre Wirksamkeit im Vergleich zu Placebo ist in randomisierten kontrollierten Studien nachgewiesen worden. Die Gefahr gastrointestinaler Blutungen und kardiovaskulärer Zwischenfälle schränkt ihren Nutzen insbesondere bei älteren Patienten jedoch stark ein.
Für Aufruhr hat eine 2013 im Journal of the American Medical Association veröffentlichte Metaanalyse gesorgt, wonach Naproxen (1000 mg/d) unter den tNSAR und im Vergleich zu Cox-2-Hemmern die geringste Wahrscheinlichkeit für kardiovaskuläre Ereignisse, dafür aber ein erhöhtes Risiko für gastrointestinale Komplikationen zu besitzen scheint (8). Diclofenac zeigt auch bei Einnahme gastroprotektiver Substanzen ein erhöhtes Risiko für gastrointestinale Komplikationen und ein vergleichbar hohes Risiko für kardiovaskuläre Komplikationen wie Coxibe. Im Falle von Ibuprofen wurde ein dreifach erhöhtes Risiko für gastrointestinale Komplikationen identifiziert.
Es bleibt ein schwieriges Abwägen innerhalb der Coxibe und tNSAR. Laut Europäischer Arzneimittel-Agentur sollte Diclofenac bei Patienten mit schweren kardiovaskulären Erkrankungen gar nicht und bei Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren nur nach sorgfältiger Abwägung eingesetzt werden. Für Ibuprofen empfiehlt die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft die Verordnung lediglich im unteren Dosisbereich. Ab 65 Jahre oder einem erhöhten Risiko für gastrointestinale Erkrankungen sollten NSAR mit Protonenpumpenhemmern kombiniert werden (9).
Angesichts der Unwägbarkeiten beim Einsatz von NSAR scheinen sich viele Ärzte für die Anwendung von Metamizol bei chronischen Rückenschmerzen zu entscheiden. Hierfür gibt es bislang keine Evidenz.
Mit der Marktrücknahme des Muskelrelaxanz Tetrazepam war vielen Therapeuten ein vertrautes Mittel für die Rückenschmerztherapie genommen. Aufgrund des Nebenwirkungsprofils können Muskelrelaxantien zwar bei chronischen Kreuzschmerzen kurzfristig, also nicht länger als zwei Wochen eingesetzt werden. Sie gelten aber nur in Ausnahmefällen in Ermangelung anderer Behandlungsoptionen als indiziert.
Kontroverse Diskussionen
Auch um die Opiate hat es in der Behandlung chronischer Rückenschmerzen in den letzten Jahren viele Diskussionen gegeben. »Vom Arzt zum Dealer«: So lautete der Titel eines Beitrags der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Januar 2015, der die sorglose Verordnung von Opiaten anprangerte.
In der Tat hat sich die Verordnung von Opiaten seit 1991 weltweit verdreifacht. Dabei konnte für Deutschland gezeigt werden, dass der Anstieg zu einem großen Teil auf eine Dosiserhöhung insbesondere bei Nichttumorpatienten und bei Patienten mit chronischen Schmerzen beruht (10).
Die Kritik ist berechtigt, wenn man bedenkt, dass die Studien, die die Wirksamkeit der Opiate belegen, eine maximale Beobachtungszeit von vier Monaten haben, 20-prozentige Drop-out-Raten vorweisen und methodische Klimmzüge zeigen, die die Effekte stärker aussehen lassen als sie sind (11).
Randomisierte kontrollierte Studien existieren nicht. Die Schmerzverbesserung beträgt maximal 30 Prozent und Langzeitverordnungen gehen mit einem Anstieg der individuellen Dosen bei gleichzeitig negativem Einfluss auf die Lebensqualität einher. Nur etwa 25 Prozent der Patienten mit chronischen Schmerzen profitieren von einer langfristigen Verordnung (≥6 Monate) im Sinne einer Verbesserung der Schmerzintensität und körperlichen Beeinträchtigung bei guter Verträglichkeit. Aktuelle Leitlinien zur Langzeitanwendung von Opiaten bei nicht tumorbedingten Schmerzen (12) definieren daher entsprechende Rahmenbedingungen für die Therapie, die auch für chronische Rückenschmerzen gelten (Kasten).
Neben den Opiaten werden in letzter Zeit bei chronischen Rückenschmerzen verstärkt auch Antikonvulsiva eingesetzt. Aufgrund der multifaktoriellen Genese chronischer Schmerzen werden »gemischte Schmerzsyndrome« mit neuropathischer Komponente vermutet, die studiengemäß bei 37 Prozent der Patienten mit chronischen Rückenschmerzen vorliegen sollen (13). Die Evidenz hierfür ist jedoch gering.
Es gibt keine Wirksamkeitsuntersuchungen von Antikonvulsiva bei »gemischten Schmerzsyndromen«. Diese liegen lediglich bei klassischen neuropathischen Schmerzerkrankungen wie Polyneuropathie, Post-Zoster- oder Trigeminus-Neuralgie vor. Zwar verweisen Leitlinien für chronische Schmerzen auf die Bedeutung von Antikonvulsiva bei neuropathischen Schmerzen, in der Therapie chronischer Rückenschmerzen scheint die Datengrundlage jedoch bislang nicht ausreichend, um eine Therapie empfehlen zu können.
Auch die Bedeutung von Antidepressiva in der Behandlung chronischer Rückenschmerzen ist nicht ausreichend geklärt, da einerseits Studien eine Wirksamkeit trizyklischer Antidepressiva bei chronischen Schmerzzuständen zeigen, andererseits ein Cochrane Review bei chronischen Rückenschmerzen aber keine Vorteile im Vergleich zu Placebo aufzeigen konnte. Die Nationale Versorgungsleitlinie (14) empfiehlt, die Anwendung in der Therapie chronischer Rückenschmerzen zu erwägen, wenn eine depressive Komorbidität vorliegt.
Zur nicht medikamentösen Therapie von Kreuzschmerzen stehen zahlreiche Maßnahmen zur Verfügung. Auch hier zeigt sich jedoch, dass keine dieser Maßnahmen den anderen überlegen ist und als Therapie erster Wahl angesehen werden kann. Lediglich die Überlegenheit aktivierender Maßnahmen gilt als gesichert.
In der Behandlung chronischer Rückenschmerzen haben sich Bewegungstherapie, Entspannungsverfahren wie progressive Muskelrelaxation sowie Ergotherapie und Verhaltenstherapie als wirksam erwiesen. Außerdem gibt es Hinweise, dass chirotherapeutische Verfahren, Akupunktur und Massagen in Kombination mit Bewegungstherapie hilfreich sein können.
Idealerweise sollten die verschiedenen Therapieformen individuell und strukturiert im Rahmen eines multimodalen Behandlungskonzeptes bei interdisziplinärer Zusammenarbeit von Medizinern, Physio- und Psychotherapeuten sowie Durchführung von Teamsitzungen oder Fallkonferenzen zum Einsatz kommen (14).
Entsprechende Behandlungsplätze wurden in den letzten Jahren vermehrt geschaffen. Sie sind jedoch immer noch rar und bieten zudem nur intermittierende Hilfe selbst wenn eine intensivierte Therapie notwendig ist, weil die Arbeitsfähigkeit dauerhaft gefährdet ist, zugrundeliegende psychosoziale Faktoren stark ausgeprägt sind und das Krankheitsgeschehen instabil ist. Die Versorgung ist bislang kaum auf die Bedürfnisse dieser Patienten abgestimmt.
Umso mehr Bedeutung kommt Arztpraxen und Apotheken zu, in denen die oftmals sehr verzweifelten Patienten Rat und Hilfe suchen. Ärzte und Apotheker müssen dem Patienten das komplexe Krankheitsgeschehen verdeutlichen und seine Lebensqualität durch Stärkung des Selbstmanagements verbessern. Teil der regelmäßigen Patienten-Kontakte muss das Therapiemonitoring sein, das die Frage nach dem Nutzen und der Verträglichkeit der Medikamente beinhaltet. Idealerweise sollte die medikamentöse Therapie in Abstimmung zwischen Apothekern, Ärzten, Physiotherapeuten und Psychotherapeuten erfolgen. Ob ein Disease Management Programm »Rücken«, wie es kürzlich vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) beschlossen wurde, sinnvoll ist, muss Thema zukünftiger Forschungsprojekte in der ambulanten Versorgung sein. Für die Primärversorgung scheint eine strukturierte Behandlung notwendig, um der Multidimensionalität der Beschwerden gerecht zu werden und die Patienten vor Überversorgung zu schützen. /
Literatur
Annette Becker studierte von 1987 bis 1994 Humanmedizin an der RWTH Aachen. Nach ihrer Approbation und Promotion 1996 studierte sie bis 1998 Public Health an der Universität Ulm. Seit 2001 Fachärztin für Allgemeinmedizin war Becker von 2005 bis 2010 Juniorprofessorin (W1) für »Prävention und Behandlung chronischer Krankheiten« an der Philipps Universität Marburg. Im Oktober 2010 erlangte sie die W2-, im Februar 2014 die W3-Professur. Von 2008 bis 2011 war Becker stellvertretende Leiterin des Marburger Instituts für »Medizinische Psychologie«. Seit August 2011 als Allgemeinärztin in hausärztlicher Gemeinschaftspraxis in Wettenberg niedergelassen hat Becker seit Mai 2014 die Professur für Allgemeinmedizin der Abteilung für Allgemeinmedizin, Präventive und Rehabilitative Medizin der Universität Marburg inne. Im Zentrum ihrer Forschungen steht unter anderem die evidenzbasierte Behandlung des chronischen Schmerzes sowie Allokationsentscheidungen in der Rückenschmerztherapie. Als Mitglied unter anderem der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin ist Becker an der Entwicklung der DEGAM-Leitlinien »Chronischer Schmerz« und »Kreuzschmerzen« beteiligt.
Professor Dr. med. Annette Becker, MPH, Abteilung für Allgemeinmedizin, präventive und rehabilitative Medizin, Philipps-Universität Marburg, Karl-von-Frisch-Str. 4, 35032 Marburg Annette.Becker@staff.uni-marburg.de