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Computerspielsucht

Verloren in anderen Welten

20.06.2018  11:32 Uhr

Von Daniela Hüttemann, Hamburg / Vergangene Woche hat die Weltgesundheitsorganisation beschlossen, exzessives Computerspielen als Krankheit einzustufen. Was macht die Spiele so attraktiv? Wer ist besonders suchtgefährdet? Und wie finden Betroffene ins echte Leben zurück?

Als sogenannte Gaming Disorder wird die Computer- und Videospielsucht in den neuen Katalog der Krankheiten ICD-11 aufgenommen, den die Weltgesundheitsorganisation (WHO) jetzt vorgestellt hat und der noch verabschiedet werden muss. Unter dem Punkt 6C51 definiert die WHO, wann das Spiel­verhalten, ob online oder offline, demnächst offiziell als Sucht gilt: 1. bei Kontrollverlust, zum Beispiel über Häufigkeit, Dauer und Intensität des Spielens; 2. Spielen wird zur Priorität, andere Interessen und Aktivitäten ­treten in den Hintergrund und 3. trotz negativer Konsequenzen spielt der Betroffene weiter oder sogar noch mehr. Weitere Anzeichen: Körperhygiene, Ernährung und Schlaf werden stark vernachlässigt.

 

Das schränkt andere Lebensbereiche deutlich ein, ob in der Familie, im Freundeskreis, in der Schule, in der Ausbildung oder im Beruf. So sind es auch meist die Angehörigen, die bei Fachstellen nach Hilfe suchen, berichtete der Therapeut Heiko Philipp Ende Mai bei den Hamburger Suchttherapie­tagen. »Die Betroffenen selbst verspüren oft zumindest lange Zeit erst einmal keinen Leidensdruck«, so Philipp, der in der Fontane-Klinik im brandenburgischen Mittenwalde Computerspielsüchtige als Bezugstherapeut stationär betreut.

 

Angehörige schlagen Alarm

 

Eltern und Therapeuten sollten sich damit beschäftigen, was der Betroffene genau für ein Spiel spielt. Dazu müssen sie nicht einmal selbst spielen, sondern können sich in Youtube-Kanälen wie »Let’s Play« ansehen, wie andere spielen und dies kommentieren. Grob lassen sich Computer- und Online-Spiele in sechs Kategorien unterteilen, wobei die Übergänge fließend sind (siehe Kasten).

 

»Computerspielsüchtige sind, gerade, wenn keine Einsicht besteht, oft kaum zu erreichen«, berichtet Philipp. »Aber wenn sie etwas über den Spielinhalt oder ihre Spielfigur erzählen, tauen sie richtig auf.« Gerade eine künstliche Identität, wie der Spieler sie in vielen Online-Rollenspielen gestaltet und weiterentwickelt, sage oft viel über den realen Menschen oder seine Wünsche aus – von der Optik über Charaktereigenschaften bis hin zu gewünschten Superkräften. »Ob Elfenkrieger oder Stealth-Ego: Es hat viel mit der Person zu tun, welches Spiel und welchen Charakter ein Spieler wählt«, erklärt Philipp.

 

Prinzipiell könne jede Art von Computerspiel süchtig machen und jeder sei gefährdet. »Wenn Sie das richtige Spiel finden, werden Sie dabei bleiben«, ist Philipp überzeugt. Vor allem in Rollenspielen, die häufig auch von Mädchen und Frauen gespielt werden, könne man sich verlieren. »Die Spiele haben heute oft kein klassisches Ende mehr – es geht immer weiter«, erklärt Philipp. Mit überaus opulenter Grafik werden unendliche Geschichten wie in einem spannenden Film erzählt, manchmal in Echtzeit. Der Spieler muss also fürchten, etwas zu verpassen, sobald er vom Bildschirm weg muss, denn das Spiel läuft ohne ihn weiter. Auch das Sammeln von Gegenständen, Superkräften oder Punkten trägt laut Philipp durch die ständige Belohnung zum Sucht­charakter bei, ebenso die aufwendige Grafik, durch die der Spieler gleichsam in andere Welten eintaucht.

Computerspiel-Genres

  1. Ego-Shooter (zum Beispiel Counter Strike, Crysis, Doom, Fortnite, Half-Life): Der Spieler spielt allein oder im Team in einer frei begehbaren, realitäts­nahen 3-D-Welt, er spielt in der Ich-Perspektive und sieht seine eigene Figur nicht, aber die Waffe, meist sehr militärisch, oft viel Taktik, Gegnervernichtung im Fokus
  2. Adventure Games (zum Beispiel Tomb Raider, Myst, Alone in the Dark, Syberia) werden in der Regel allein gespielt, oft spannende Geschichten, man muss Rätsel lösen und Dialoge führen, hat aber meist keine direkten Gegner
  3. Jump’n’Run (zum Beispiel Donkey Kong, Super Mario, Yo Frankie) waren ein Klassiker in der Anfangszeit, feiern durch 3-D-Welten ein Comeback, erfordern viel Geschicklichkeit, manchmal Gegnervernichtung
  4. Rollenspiele (zum Beispiel World of Warcraft, The Elder Scrolls, Diablo) werden meist online im Multiplayer-Modus gespielt, man muss Aufgaben lösen und kämpfen, Spielfigur kann weitgehend frei gestaltet werden und entwickelt sich im Spielverlauf weiter, komplexe Handlung, oft fantastische Welten mit opulenter Grafik
  5. Sportspiele und Simulationen (zum Beispiel Bundesliga Manager, Need for Speed, Sim City) sind realitätsnah, interaktiv
  6. Strategiespiele (zum Beispiel Stronghold, Civilization, Ages of Empire) erfordern viel Taktik, keine Einzelcharaktere, sondern Welten werden weiterentwickelt, zum Teil im Echtzeitmodus mit Zeitdruck

Noch dominieren zwar Jungen und junge Männer das Bild des sogenannten Gamers. Doch auch Mädchen und junge Frauen zeigen immer öfter Suchtsymptome, denn mittlerweile werden mehr frauenspezifische Spiele konzipiert. Was den meisten gemein ist: »Pathologische Spieler sind in der Regel zurückgezogene Menschen«, so der Therapeut. Sie haben oft schon in jungen Jahren Zurückweisung erfahren oder zwischenmenschliche Enttäuschungen erlebt. Bei Online-Multiplayer-Spielen sind sie auf einmal mit Gleichgesinnten aus der ganzen Welt verbunden. Das ersetzt aber keine realweltlichen Kontakte. »Emotional befinden sich die Spieler manchmal auf Kleinkindniveau, haben kaum Selbstwertgefühl, sind kaum beziehungsfähig zu realen Personen und haben auch kein Gefühl mehr für ihre körperlichen Bedürfnisse«, berichtet Philipp. Zudem konsumieren Vielspieler häufig andere Suchtstoffe wie Alkohol, Cannabis oder Crystal.

 

Die Therapie ist entsprechend vielschichtig: Das Selbstwertgefühl wird aufgebaut und die Selbstwahrnehmung verbessert, zugrundeliegende Probleme werden thematisiert, es wird nach Alternativen zum Computerspielen gesucht. »Wir versuchen, dabei an frühere Interessen der Patienten anzuknüpfen, zum Beispiel mit Brettspielen, Fußball oder auch Fotografie und Bildbearbeitung«, berichtet Philipp. »Oft sind es sehr kluge und kreative Menschen, was sich therapeutisch nutzen lässt.«

 

Wichtig ist ein geregelter Tagesablauf, der Halt und Inhalt gibt und hilft, den Tag-Nacht-Rhythmus wieder zu stabilisieren. In der Fontane-Klinik stehen beispielsweise Physio- und Ergotherapie, Teamsport, Entspannungsverfahren und Erlebnisstherapie in der Natur auf dem Programm, darunter auch ungewöhnliche Sportarten wie Bogenschießen oder körperliche Herausforderungen mit Adrenalin-Kick wie Klettern im Hochseilgarten. Die Patienten haben aber auch bestimmte Pflichten. Das soll den Weg in die reale Welt ebnen.

 

Wichtig ist auch das Erlernen von Konfliktbewältigungs- und Verhaltensstrategien, wenn es zurück in den Alltag geht. »Eine Abstinenz ist in der ­Regel nicht möglich«, so Philipp – zu präsent sind im Alltag Handy, Computer und das Internet. »Ab 20 bis 25 Stunden Privatnutzung von Computer oder Internet pro Woche wird es schwierig«, berichtet Philipp. Die Patienten sollen lernen zu merken, wann es kritisch wird und sich vorher alternative Handlungen überlegen.

 

Klare Regeln nötig

Zu Hause und auch in der Schule sollte es klare Regeln für den Umgang mit Medien geben (auch für die Eltern). ­Eltern sollten auch mal gemeinsam mit den Kindern Computerspiele spielen. Andere Hobbys wie Sport oder Musizieren sollen beibehalten werden. Die ersten fünf bis sechs Lebensjahre sollten Kinder gar keine virtuellen Medien nutzen und möglichst viel draußen spielen, empfiehlt Philipp. »Man sollte das Spielen nicht verteufeln, aber Kinder müssen reif dafür beziehungsweise für ein bestimmtes Spiel sein. Das ist wie bei Büchern und Filmen.«

 

Der Großteil der Spieler könne auch gut damit umgehen. Nach Zahlen des Verbands Game spielen in Deutschland rund 34 Millionen Menschen Computer- und Videospiele, davon geschätzt weniger als 1 Prozent exzessiv. Genaue Zahlen zu Computerspiel- und Online-Sucht gibt es nicht, was sich mit der WHO-Definition nun ändern könnte. Klar ist laut JIM-Studie aus dem Jahr 2017, dass 62 Prozent der 12- bis 19-Jährigen täglich oder mehrmals pro Woche digital spielen, immer mehr auf dem Handy, gefolgt von Onlinespielen, Konsolenspielen und Offline-Computerspielen. 2017 wuchs der Markt für Computer- und Videospiele sowie Games-Hardware in Deutschland um 15 Prozent auf mehr als 3,3 Milliarden Euro. /

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