Frühe Erfahrungen prägen Stresstoleranz |
18.06.2007 10:54 Uhr |
Frühe Erfahrungen prägen Stresstoleranz
Von Karl C. Mayer
Wohldosiert hält Stress gesund. Dauerstress ohne Erholung macht krank. Wie der Mensch ohne regelmäßige körperliche Anstrengung und Belastung weder Muskeln noch physische Ausdauer entwickeln kann, kommt er nicht umhin, sich auch »Stressoren« zu stellen.
Nur so kann er sich seelisch-geistig weiter entwickeln und sein Verhalten der sich ständig wandelnden Umwelt anpassen. Herzrasen, feuchte Hände, kalte Füße und schmerzhafte Muskelanspannungen sind nur die auffälligsten der physiologischen Veränderungen, also der so genannten »Stressantwort« des menschlichen Körpers, mit der dieser auf negative Herausforderungen und Bedrohungen reagiert. Der Geist ist hellwach, der Organismus reaktionsbereit. Ist der Stress bewältigt, sind Zufriedenheit und Entspannung der Lohn. Gesund ist, wenn es stets gelingt, das Gleichgewicht zwischen belastendem Stress und Erholung zu wahren.
Wie groß die Herausforderung oder Bedrohung sein muss, damit der Mensch Stress empfindet oder sein Körper akut oder auch lang andauernd die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin beziehungsweise Cortisol ausschüttet, ist individuell. Hier spielen Veranlagung, körperliche Verfassung, familiäre und außerfamiliäre Umgebung, die Persönlichkeitsstruktur sowie die Fähigkeit zur kognitiven Bewertung der Situation eine entscheidende Rolle.
Stabile Beziehungen bereits ab dem Säuglingsalter fördern die Stresstoleranz. Zwischenmenschliche Bindungen, Spiritualität und subjektives Sinnempfinden, soziale Anerkennung und beruflicher Erfolg helfen bei der Stressbewältigung. Gute Coping-, sprich: Bewältigungsstrategien, sind zudem erlernbar und haben einen positiven Einfluss auch auf die sympatho-adrenomedulläre und hypothalamisch-hypophysär-adrenale »Stressachse« des vegetativen Nervensystems.
Mäßiger Stress gilt als Herausforderung, die, wenn sie bewältigt worden ist, zu Kompetenzen im Umgang mit späteren Stressfaktoren und Erhöhung der kompensatorischen sozioemotionalen und neuroendokrinen Widerstandskraft führt. Junge Affen, die mit angemessenen frühen Stresserfahrungen konfrontiert wurden, zeigten sich später weniger ängstlich, waren neugieriger und aßen besser. Sie hatten niedrigere Stresshormon-Blutspiegel, wenn sie einem neuen Stressor ausgesetzt wurden (1, 2, 3).
Ständige Alarmbereitschaft
»Stressor« ist die Umschreibung für eine seelische und körperliche Belastung, die Stress und in der Folge spezifische kompensatorische Anpassungsmechanismen des Körpers auslösen kann. Zu den Stressoren zählen Unfälle, Katastrophen, der Tod eines Angehörigen, Krankheiten, physikalische Einflüsse wie Lärm, Hitze, Kälte, Zigarettenrauch, soziale Faktoren wie Über- und Unterforderung, Prüfungen, Konkurrenz, Isolation, Trennung, Scheidung, aber auch körperliche Symptome wie Schmerz, Hunger oder Behinderung.
Zu den Stressoren zählen auch Zeit- und Geldmangel, Armut, geringe Autonomie, fehlende Lebensgestaltungsmöglichkeiten, mangelndes Interesse am Beruf und Freizeitaktivitäten, Mobbing, Schichtarbeit, Vernachlässigung, Schlafentzug, Reizüberflutung sowie schwerwiegende Ereignisse wie Wohnungseinbruch, Taschenraub oder Operationen.
Das Ausmaß von Stressoren wird durch den Grad ihrer Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit sowie ihre Transparenz bestimmt. Seit Urzeiten aktivieren Stressoren physiologische Systeme des Körpers, um das Überleben des Organismus bei Angriff und Gefahr zu garantieren. Dabei sind Stressantworten geschlechtspezifisch: Männer reagieren überwiegend auf Leistungs-, Frauen auf zwischenmenschliche Stressoren (4).
Vorbereitung auf Kampf und Flucht
Die behaviorale Ebene der Stressreaktion umfasst das sogenannte »offene« Verhalten des Betroffenen, das von Außenstehenden wahrgenommen wird. Behaviorale Stressreaktionen sind Hast und Ungeduld gekennzeichnet zum Beispiel durch schnelles »aus der Haut fahren«, Herunterschlingen von Mahlzeiten, die Abkürzung von Pausen, schnelles und abgehacktes Sprechen sowie Unterbrechung anderer Personen im Redefluss, unkoordiniertes Arbeiten, mangelnde Planung, Neigung zu häufigen Meinungsverschiedenheiten und Aggressivität sowie Betäubung zum Beispiel durch die Einnahme von Beruhigungs- oder Aufputschmitteln.
Die kognitiv-emotionale Ebene der Stressreaktion umfasst das so genannte »verdeckte« Verhalten und intrapsychische Vorgänge, die für Außenstehende direkt nicht sichtbar sind: Gefühle der inneren Unruhe, der Hilflosigkeit und Nervosität sowie des Gehetztseins, Unzufriedenheit und Ärger, Angst, zu versagen und sich zu blamieren, Selbstvorwürfe, kreisende »grüblerische« Gedanken, Leere im Kopf («black out«) oder Denkblockaden. Die körperlichen, behavorialen und kognitiv-emotionalen Stressreaktionen können sich gegenseitig beeinflussen und schaukeln sich im Sinne eines Circulus vitiosus oft hoch.
Besonders bei Männern ist die Stressantwort des Körpers auch heute noch auf Kampf- und Fluchtreaktionen ausgerichtet. In Gefahrensituationen werden im Nebennierenmark unter Kontrolle des Hypothalamus die »Fight- and Flight«-Hormone Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt, deren Blutspiegel um das 50fache ansteigen können. Die Katecholamine binden an die alpha- und beta-adrenergen Membranrezeptoren vieler, sehr unterschiedlicher Zellen. In der Leber wird über den cAMP-Mechanismus unter anderem die Glycogensynthase phosphoryliert und damit abgeschaltet, weiterhin die Glycogen-Phosphorylase aktiviert und Glucose und somit Energie für Kampf und Flucht bereitgestellt.
Die Erregung des sympathischen Nervensystems führt zu einer Erhöhung der Atem- und Herzfrequenz und zu einem stärkeren Herzschlag. Dieses ist lebensnotwendig für adäquate körperliche Reaktionen, da so der Blutkreislauf beschleunigt werden kann und der Transport von Sauerstoff im Gewebe verbessert wird. Es kommt zu einer Blutumverteilung in die arbeitende Skelettmuskulatur. Folglich sieht die Haut oft blass aus und fühlt sich, ebenso wie Finger und Zehen, kalt, taub und kribbelig an. Die Pupillen weiten sich. Die Haare richten sich auf. Sie stehen im wahrsten Sinne des Wortes zu Berge. Harndrang und ein verminderter Speichelfluss mit trockenem Mund entstehen. Die Aktivität des Verdauungssystems wird herab gesetzt. Dieses kann Übelkeit, ein »flaues« Gefühl im Magen, Verstopfung aber auch Durchfall verursachen.
Zur Vorbereitung für Kampf oder Flucht spannen sich viele Muskelgruppen an. Dieses kann sich bis hin zu einem deutlich sichtbarem Zittern und Beben ausweiten und ist Ursache auch für die bei chronischer Überforderung häufig zu beobachtenden Nackenverspannungen. Die allgemeine Aktivierung des gesamten Stoffwechsels geht mit vermehrten Schwitzen in Folge einer vorüber gehenden Erhitzung des Körpers einher, die wiederum, wenn sie abklingt, zu einem Gefühl der tiefen Müdigkeit führt. Stress ist anstrengend, er »laugt aus«.
Stressantwort oft überdimensioniert
Ob Lampenfieber vor einem Vortrag oder Aufregung vor einer Bewerbung: Auch der moderne Mensch profitiert hinsichtlich seiner Reaktionsbereitschaft von dieser Stressantwort, doch ist sie unter den Bedingungen des heutigen Alltags meist überdimensioniert. Während seine in der Wildnis lebenden Vorfahren ihre Anspannung noch motorisch auslebten, bleibt der Abbau überschüssiger Stressmediatoren durch körperliche Bewegung sowie Erholung, Entspannung und Schlaf in Folge von Zeitdruck heute meist aus.
Der Körper wird in einen Zustand der ständigen Alarmbereitschaft versetzt und gelangt schließlich in ein Stadium der Erschöpfung, das mit ernsthaften Organerkrankungen, psychischen Störungen und nicht zuletzt mit einer Abschwächung der Immunkompetenz einhergeht. Angespannte schmerzhafte Muskeln führen zu weiteren muskulären Anspannungsreaktionen. Ein Teufelskreis entsteht. Die Situation wird durch stressbedingten Nikotin- und Alkoholkonsum beziehungsweise ungesundes Ernährungs- und Essverhalten und somit zusätzlicher Verringerung der allgemeinen Belastbarkeit noch verschärft.
Studien zeigen, dass Arbeiter, die sich am Wochenende nicht erholen können, besonders gefährdet sind, einen Herzinfarkt zu erleiden (5). Sie zeigen auch, dass berufliches Überengagement besonders bei Männern mit niedrigem Sozialstatus zu vermehrter Freisetzung von Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin sowie einen erhöhten Blutdruck führt (6, 7, 8, 9, 10).
Eine schlechte Position in der sozialen Rangskala scheint das Risiko entzündlicher Veränderungen in den Gefäßen als Vorläufer von Artherosklerose, Herzinfarkt und Schlaganfall zu erhöhen (11). Geringe soziale Teilhabe hat negative Auswirkungen auf die Gesundheit. Die Lebenserwartung wird verkürzt. Umgekehrt wird aus dem Gesagten deutlich, dass sozialer Rückhalt durch Partner, Familienangehörige und Freunde ein wichtiger Schutzfaktor gegen Überforderung sein kann.
In einer amerikanischen Untersuchung korrelierten eine schlechte Ausbildung und ein niedriges Einkommen mit einem erhöhten Serumcortisol und -adrenalin. Eine Besserung der finanziellen Situation und der beruflichen Stellung führt zur Senkung des Blutdrucks und einer Absenkung der Serumcortisolwerte (12). Nachgewiesen ist, dass auch die Plasmafibrinogenspiegel stressabhängig sind. Ihr Anstieg unter Dauerstressbelastung könnte mit zum Herzinfarktrisiko beitragen (13).
Neben der tatsächlichen Bedrohung, also objektiven Fakten, spielen auch die Erwartungshaltung, also subjektive Kriterien und hier vor allem individuelle Ängste zum Beispiel vor dem Verlust der Kontrolle über die eigenen Lebensumstände und das Gefühl des »Ausgeliefertseins« eine Stress verstärkende Rolle.
Eine Befragung von 11.119 Patienten mit frischem Herzinfarkt zeigte, dass das Risiko eines Herzinfarktes durch erheblichen Stress über mehrere Wochen auf das 1,38-fache und bei andauerndem Stress auf das 2,14-fache erhöht wird. Gravierende finanzielle Probleme führen danach zu einem 1,33-fachen Herzinfarkt-Risiko, schwere Schicksalsschläge zu einem 1,48-fachen, Depressionen zu einem 1,55-fachen Risiko (14).
Zu den belastenden Stressoren, die den Blutdruck erhöhen, zählen Untersuchungen gemäß auch Veränderungen gewohnter Lebensweisen zum Beispiel durch Migration, aber auch durch einen Umzug vom Land in die Großstadt. Hingegen haben Menschen, die sich sozial gut eingebunden fühlen, geringere Blutdruckwerte. Gleiches hat man bei Kirchgängern festgestellt (15,16).
Depressionen und Herzinfarkt
Dauerstress begünstigt die Entstehung nicht nur von kardiovaskulären Erkrankungen und Atherosklerose mit der Folge von Schlaganfall und Herzinfarkt, sondern auch chronischer Erkrankungen wie Depressionen, Angst, Schlafstörungen, Magen-Darm-Erkrankungen oder aber des metabolischen Syndroms (14). Nicht nur Schlaf, Erholung und Entspannung können dem vorbeugen. Bei vielen psychosomatischen Krankheiten, so auch chronischen Schmerzkrankheiten, gilt angepasstes körperliches Training als die am besten gesicherte Therapie. Bei Depressionen ist der Effekt körperlichen Trainings der Wirkung von Psychotherapie oder Antidepressiva vergleichbar (17, 18, 19, 20).
Eine Vielzahl von Studien belegt die Absenkung der Ruhewerte der Katecholaminkonzentrationen durch körperliche Betätigung und Aktivität. Körperliches Ausdauertraining senkt nicht nur den basalen Katecholaminspiegel, sondern auch die sympathoadrenerge Aktivierung bei Stress, sodass später eintretende vergleichbare Belastungssituationen zu einer verminderten Aktivierung des sympathoaderenergen Systems führen.
Chronischer Stress kann zur Hemmung der Neurogenese, zur Unterbrechung der neuronalen Plastizität sowie zur Neurotoxizität führen, die ebenfalls mit Depressionen oder anderen psychischen Störungen einhergehen (21, 22, 23, 24, 25, 26). Unter chronischem Stress verliert der Organismus nach und nach seine natürliche Fähigkeit zur Selbstregulation. Dies bedeutet, dass er auch in Phasen ohne akute Belastung nicht mehr auf ein normales Ruheniveau zurückkehren kann.
Die Gefäßwände verlieren schließlich ganz ihre Elastizität. Sie können sich nicht mehr weiten. Der Blutdruck bleibt chronisch erhöht. In Tierversuchen wurde eine eingeschränkte Zeugungsfähigkeit, der Tod von Embryonen im Mutterleib, die Sistierung des generellen Wachstums sowie Gewichtsverlust und eine erhöhte Krankheits- und Infektanfälligkeit beziehungsweise die Verzögerung der Wundheilung belegt (27).
Die geschwächte Immunkompetenz mit Infektanfälligkeit ist auch bei Menschen unter Dauerstress in verschiedenen Studien nachgewiesen (28, 29, 30). Auch beim Menschen reduziert Stress die Geschlechtshormonausschüttung. Libido und Fruchtbarkeit sinken (31, 32). Bei Frauen können Zyklusstörungen und Fehlgeburten auftreten. Bei Männern führt chronischer Stress zu verminderter Testosteronsekretion und einer abnormalen Spermatogenese.
Frühe Trennung zerstört Zytoarchitektur
Vermutlich prägen bereits frühe Erfahrungen auf verschiedene Weise die Stresstoleranz bei Mensch und Tier. So scheint Leptin in der Muttermilch die Stresstoleranz des Säuglings zu erhöhen. Auch das neuroendokrine System stillender Mütter ist offenbar vor Stresseinflüssen geschützt, es sei denn, dem Säugling droht Gefahr. Ein Versagen dieses »Stressfilters« könnte für Wochenbettdepressionen verantwortlich sein.
Mütterliche Zuwendung hat Einfluss auf die spätere Fähigkeit des Kindes, Stresssituationen erfolgreich zu bewältigen. So können frühe Trennung und fehlende Zuwendung Studien gemäß eine seelische Fehlentwicklung des Säuglings begünstigen, die ihn auch im Erwachsenenleben stress- und somit krankheitsanfälliger machen (33, 34, 35).
Glucocorticoide regulieren die Genexpression in vielen Gehirnstrukturen und beeinflussen gleichzeitig die zentrale Regelung organischer Prozesse. In frühen, sensiblen Entwicklungsphasen des Menschen ist seine Gehirnplastizität besonders anfällig und verletzbar. Die physiologischen und molekularen Folgen der Aktivierung von Stresshormonen haben erhebliche Auswirkungen auf das menschliche Nervensystem.
(Nicht)mütterliches Verhalten kann genkontrollierte Muster von Stressreaktionen effektiv verändern. Die postnatale Trennung von der Mutter erhöht nach wissenschaftlichen Erkenntnissen die Genexpression des hypothalamischen Cortikotropin-Releasing-Faktors (CRF) im paraventrikulären Nukleus des Hypothalamus und führt zu einer entsprechenden Antwort des hypothalamisch-hypophysären Nebennieren-Systems als Basis daraus resultierender Verhaltensweisen respektive -störungen (36). Die Stressneurobiologie wird durch das Sozialklima, in dem der junge Organismus aufwächst, mit geformt (37, 38, 39, 40, 41, 42).
Die vermehrte Sekretion von Glucocorticoiden kann unter anderem die Lernfähigkeit des Kindes beeinträchtigen und kognitive Defizite auslösen. Tierversuche bestätigen die teilweise Zerstörung der Zytoarchitektur unter dem Einfluss einer durch frühe Trennungen verursachten vermehrten Glucocorticoidausschüttung, die mit Überreaktionen der erwachsenen Tiere auf Stress einhergeht.
Die Organisation des jungen Gehirns ändert sich unter dem Einfluss von Stresshormonen tief greifender als dies beim erwachsenen Menschen der Fall ist. Bei chronischer Erhöhung der Stresshormone können die synaptische Konnektivität und Neurogenese negativ beeinflusst und die typischen Nervenbahnungen und Organisationsstrukturen der jungen Hirnregionen erheblich verändert werden.
Diese Veränderungen sind im hohen Maße dauerhaft, sie kontrollieren die DNA in der Expression von Glucocorticoidrezeptoren und damit wiederum die Stressreaktion. Sie können allerdings später durch günstige Umwelteinflüsse wie Anerkennung oder Sicherheit durch Bindung an eine nahe stehende Bezugperson teilweise kompensiert werden (39).
Stress macht vergesslich
Grundsätzlich hat der Nachweis von Corticoidrezeptoren im menschlichen Gehirn den Blick für ein Phänomen geschärft, das in der Stressforschung bislang kaum beachtet wurde. Das Gehirn ist nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch das wichtigste Zielorgan der Stressreaktion. Gilt der Hippocampus als zentrale Schaltstelle des limbischen Systems als eine der wenigen flexiblen, aber auch empfindlichsten Hirnregionen, in der im gesamten Leben neue Nervenzellen wachsen, so spielt auch er eine wichtige Rolle bei der Kontrolle autonomer und vegetativer Funktionen, so auch bei der Cortisol-Ausschüttung aus der Nebenniere.
Bei überforderndem Dauerstress kommt es zu einer andauernden und überschießenden Cortisol-Ausschüttung der Nebennieren, die wiederum bei Einbeziehung weiterer cerebraler Regelkreise und hier auch des dopaminergen und serotonergen Systems zur Zerstörung von Neuronen und Verschaltungen sowie Rückgang der Dendriten, verminderter Neuroneogenese und Zelluntergang im Hippocampus und Hypothalamus beiträgt. Beide sind im Laufe der Zeit nicht mehr fähig, die von ihnen selbst initiierte Cortisol-Ausschüttung zu dämpfen.
Mit anderen Worten: Chronisch erhöhte Cortisolwerte verhindern, dass die Stressantwort »nach Gebrauch« wieder ordnungsgemäß auf Normalbetrieb geschaltet wird. Der gesamte Energiehaushalt des Körpers leidet und begünstigt somit auch bestimmte Formen von Diabetes mellitus, Lipidstoffwechselstörungen und Übergewicht.
Die stressinduzierten Veränderungen im Hippocampus und Hypothalamus dienen als Modell auch zum Verständnis der Änderung der neuronalen Plastizität bei Depressionen oder Gedächtnisstörungen bei chronischer Überforderung. Stress macht vergesslich. So kann der Hippocampus mit dem Schreiblesekopf eines Computers verglichen werden. Er weist die Gedächtnisinhalte der entsprechenden Hirnrinde zu.
Auch wenn die genaue Funktion des Hippocampus hinsichtlich des Gedächtnisses in Teilen strittig ist: Sicher ist, dass er als wichtigste Hirnregion nicht nur für die sprachliche Informationsverarbeitung, sondern auch für die episodische oder räumliche Erinnerung zuständig ist. Diskutiert wird, dass Stress auch und gerade in jungen Lebensjahren eine zumeist reversible Atrophie des Hippokampus mit Gedächtnisstörungen begünstigt.
Der Hippocampus ist eines der Hauptzielorgane von Corticoiden bei Stress. Besonders die Langzeitexposition durch Corticoide kann den Ergebnissen von Studien zu Folge zu dauerhaftem Zellverlust und zunehmender Atrophie mit Gedächtnisstörungen führen. Ein solcher Effekt lässt sich bei jungen Ratten durch Cortisolgabe auslösen.
Es gibt zahlreiche Hinweise, dass Gedächtnisstörungen beim Cushing-Syndrom wie auch bei Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen auf den negativen Einfluss eines lang dauernd erhöhten Cortisol-Spiegels zurückgehen. Denkbar wäre die Entwicklung von Medikamenten, die vor den negativen Auswirkungen der Cortisol-Überproduktion schützen. Die Erforschung der Bedeutung des Hippocampus und somit auch der Entwicklung neuer Optionen zur Therapie spezifischer seelischer und körperlicher Erkrankungen zählt zu den spannendsten Gebieten der Wissenschaft.
Durch die Kernspintomographie ist es möglich geworden, das Volumen des Hippocampus zu vermessen. Viel Aufmerksamkeit hat eine solche Hippocampusvermessung bei Londoner Taxifahrern hervorgerufen. Proportional zu ihrem Dienstalter nahm das Hippocampusvolumen im Vergleich zu Kontrollpersonen zu (43). Dies wird als ein Effekt des Trainings der räumlichen Orientierung interpretiert. Umgekehrt ist bei Menschen mit Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen, Psychotraumen in der frühen Kindheit oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen eine Verminderung des Volumens des Hippocampus nachgewiesen worden (25, 26).
Interessanterweise konnte belegt werden, dass Elektrokrampftherapien und Antidepressiva bei depressiven Patienten entgegen jeder Erwartung zu einer Zellregeneration im Hippocampus über Genexpression und Ausschüttung von Wachstumsfaktoren beiträgt (44, 45, 46, 47, 48, 49, 50). Grundsätzlich scheinen spezielle Wachstumsfaktoren, die bei einem Lernvorgang über eine hippocampale Genexpression exprimiert werden, für das Wachstum der Zellen im Hippocampus eine Rolle zu spielen und könnten ebenfalls Ansatz für zukünftige Therapieoptionen sein. Bekannt ist, dass chronischer Stress generell zu einer verminderten Freisetzung von Wachstumshormonen führen kann. Dieses kann bei Kindern als Folge lang andauernder Stressbelastung zu Zwergenwuchs führen.
Auch ein Zuwenig ist schädlich
Diskutiert wird auch, dass eine gestörte Cortisol-Tagesrhythmik mit erhöhten Cortisol-Werten im Alter die Entwicklung kognitiver Defizite über eine Hippocampusatrophie begünstigt. Das Hippocampusvolumen im Alter geht parallel zur Einwirkung von Stress zurück. Die Hippocampusatrophie korreliert mit dem Nachlassen kognitiver Fähigkeiten. Stress könnte sich als einer der wesentlichen Faktoren herausstellen, die mit entscheiden, ob und wenn ja, wann eine Demenz beginnt. Möglicherweise ist die durch Studien belegte höhere Demenzanfälligkeit niederer Bildungsschichten nicht nur durch mangelndes Training der grauen Zellen, sondern auch durch eine Schädigung wichtiger Hirnstrukturen durch erhöhte stressbedingte Cortisol-Spiegel bedingt (22, 23, 51).
Nach einem ursprünglichen Konzept des allgemeinen Adaptationssyndroms von Hans Seyle wird schädlicher und krankmachender Stress Distress genannt. Eustress, so der Zoologe, hingegen sei motivierend, werde als positiv erlebt und mache erfolgreich, produktiv und glücklich, wenn man sich den Anforderungen gewachsen zeigt. Während Seyle von einer allgemeinen unspezifischen Antwort des Körpers von Stressoren ausging, ist es mit Hilfe moderner Untersuchungsmethoden möglich geworden, spezifische Stoffwechselveränderungen und Anpassungsmechanismen des Körpers als Folge von akutem und chronischem Stress zu identifizieren.
Fest steht: Ein Zuwenig ist langfristig genauso schädlich wie ein Zuviel an Stress. Langandauernde Verwöhnung, Schonung und somit die Neigung zu subjektiv erlebter Hilflosigkeit schützen nicht vor Stressschäden, sondern machen im Gegenteil stressanfälliger, indem sie die Fähigkeit zur Stresskompensation soweit absenken, dass kleinste Alltagsbelastungen nicht mehr ertragen werden. Belastender Stress lässt sich oftmals steuern. Am Anfang steht stets die Fokussierung der Wahrnehmung auf Aspekte, die »handhabbar« sind.
Wie Stress ist auch Stressbewältigung individuell: Für manche Menschen ist Sport, für andere Musik oder Lesen die beste Möglichkeit der Stressbewältigung. Zu den bewährten Stressbewältigungstechniken zählen neben körperlichem Training, ausreichender Bewegung und Entspannung, Schlaf, stabilen familiären Beziehungen und sozialer Integration des Weiteren autogenes Training, Biofeedback, Progressive Muskelrelaxation, vor allem aber das Erlernen von Coping-Strategien, also die Verinnerlichung problem- beziehungsweise emotionsorientierter Bewältigungsformen zum Beispiel durch Wahrnehmungslenkung mit Hilfe der Psycho- und Verhaltenstherapie.
... beim Verfasser
Karl C. Mayer studierte von 1975 bis 1981 Medizin in Tübingen und Berlin. Neben seiner Facharztausbildung zum Neurologen und Psychiater in einer Berliner Landesnervenklinik (1983-1987) sowie zuletzt am Universitätsklinikum Rudolf Virchow von 1987 bis 1992 schloss er von 1984 bis 1990 eine Ausbildung zum Psychoanalytiker und Psychotherapeuten am Berliner Institut für Psychotherapie und Psychoanalyse e.V an. Mayer hat sich 1992 in Heidelberg als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie niedergelassen.
Anschrift des Verfassers:
Karl C. Mayer
Friedrich-Ebert-Anlage 7
69117 Heidelberg
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