Jedes siebte deutsche Kind ist zu dick |
19.06.2006 14:46 Uhr |
Jedes siebte deutsche Kind ist zu dick
von Conny Becker, Berlin
Die »Epidemien« Übergewicht und Adipositas greifen auch in Deutschland um sich und betreffen immer mehr Kinder. Ernährungsforscher suchen nach den Ursachen, um Präventionsstrategien zu finden. Ihnen zufolge beeinflussen neben dem TV-Konsum auch das Rauchen in der Schwangerschaft und die Ernährung im Säuglingsalter das Risiko für Adipositas.
»Weltweit gibt es rund 155 Millionen übergewichtige Kinder, dazu kommen 30 bis 45 Millionen Kinder mit Adipositas«, sagte Professor Dr. Berthold Koletzko, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin, in Berlin. Dies bedeutet: Etwa jedes zehnte Kind beziehungsweise Jugendlicher zwischen 5 und 17 Jahren ist übergewichtig, ein Viertel davon sogar adipös. Pro Jahr kommen allein in Europa 400.000 übergewichtige Kinder hinzu, sagte der Leiter der Abteilung Stoffwechselstörungen und Ernährungsmedizin am Dr.-von-Haunerschen-Kinderspital der Universität München.
»Übergewicht wird somit zur häufigsten chronischen Gesundheitsstörung bei Kindern in vielen Staaten Europas, Amerikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens«, sagte Koletzko auf einer Pressekonferenz anlässlich der Veranstaltung »Ernährung 2006«. In Europa zeichne sich bezogen auf das Übergewicht bei Sieben- bis Elfjährigen ein Nord-Süd-Zuwachs ab. In Deutschland liegt die Rate an übergewichtigen Kindern bei 16 Prozent, in Spanien oder Italien steigt sie auf 34 beziehungsweise 36 Prozent an. Jedes dritte Kind im Mittelmehrraum ist somit übergewichtig. »Unsere Vorstellung von mediterraner Diät findet in Wirklichkeit nicht statt«, so der Mediziner.
Ein Problem sei, dass es in Industrieländern auch Kindern mittlerweile überall und jederzeit möglich ist zu essen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Kaloriendichte gerade derjenigen Lebensmittel, die sich Kinder selbstständig kaufen, extrem hoch ist. So komme zum Beispiel ein Snickers-Riegel auf stattliche 320 kcal pro 100 g und habe damit insgesamt die gleiche Energiemenge wie sechs große Bananen. »Wenn die Kinder diese essen würden, wären sie einen halben Tag satt. Der Schokoriegel hält jedoch nur kurzzeitig vor«, sagte Koletzko. Die von Ernährungsgesellschaften empfohlene Nahrung hat einen mittleren Energiegehalt von 120 kcal pro 100 g. Die tatsächliche, publizierte Ernährungsweise in Westeuropa weist jedoch eine Energiedichte um 150 kcal pro 100 g auf. Wer Fastfood konsumiert, nimmt etwa 350 kcal pro 100 g zu sich.
Übeltäter Fernsehen und Rauchen
Fernsehen macht dick. Was bereits seit langem bekannt ist, belegte Koletzko mit eindeutigen Zahlen. Schuleingangsuntersuchungen ergaben, dass Kinder, die mehr als zwei Stunden pro Tag fernsehen oder Computer spielen, mehr als doppelt so häufig adipös sind wie Kinder mit geringem Medienkonsum. Aus einer Erhebung des Gesundheitsamtes Mannheim sei zudem bekannt, dass dort 24 Prozent der Fünf- bis Sechsjährigen einen eigenen Fernseher im Kinderzimmer haben. Das Ausmaß des TV-Konsums sei für Eltern dann nicht mehr zu kontrollieren.
Doch das Problem Übergewicht oder Adipositas beginnt viel früher. Der wichtigste Risikofaktor »genetische Veranlagung« allein kann allerdings schon seit langem die rasante Zunahme der Übergewichtigen nicht mehr erklären. Es scheint daneben auch angeborene, nicht vererbte Einflüsse zu geben, das heißt, dass sich auch Außenfaktoren auf den entwickelnden Organismus und dessen späteres Gewicht auswirken können. So sei etwa das Mitrauchen in der Schwangerschaft ein Risikofaktor für spätere Adipositas, sagte Koletzko. Bislang war meist zu lesen, dass das Rauchen der werdenden Mutter zu einem geringeren Geburtsgewicht führt (etwa 300 g weniger). Eine Kohortenstudie bei bayerischen Schulanfängern habe jedoch ergeben, dass regelmäßiges Rauchen besonders im ersten Trimenon die Wahrscheinlichkeit einer Adipositas im Schulalter verdoppelt. Auch das Risiko, übergewichtig zu werden, steige verglichen mit Kindern von Nichtraucherinnen um 43 Prozent. Diese frühe »metabolische Programmierung« sei vermutlich auf toxische Effekte zurückzuführen, die Strukturen im zentralen Nervensystem schädigen.
Aber auch unabhängig vom Rauchen scheint ein niedriges Geburtsgewicht mit einer späteren Adipositas zu korrelieren: So haben vor allem Frühgeborene mit einem für das Gestationsalter zu geringen Gewicht ein erhöhtes Risiko, schwer übergewichtig zu werden. Bei ihnen sei im späteren Alter auch die Körperzusammensetzung verändert. Sie wiesen mehr Körperfett als der Durchschnitt auf und hätten ein höheres Risiko für Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Daneben gibt es allerdings auch einen Weg, Neugeborene gegen spätere Adipositas zu schützen: Stillen Mütter ihre Kinder, laufen diese um 25 Prozent weniger Gefahr, im Schulalter adipös zu sein, als nicht gestillte Kinder. Eine Untersuchung an mehr als 9000 bayerischen Kindern zeigte darüber hinaus, dass die Stilldauer mit dem Risiko Adipositas negativ korreliert. Koletzko und sein Münchner Team wollen nun in einer prospektiven Interventionsstudie in fünf europäischen Ländern, in der mehr als 1000 Kinder von der Geburt bis ins Schulalter begleitet werden, die zu Grunde liegenden Mechanismen aufdecken. Sind die mit dem Stillen verbundenen schützenden Faktoren bekannt, könnte dies die Empfehlungen für die Säuglingsernährung verbessern.
Dick bleibt dick
Besorgnis erregend an den steigenden Zahlen dicker Kinder ist, dass diese zum Großteil zu übergewichtigen Erwachsenen werden. So bestätigen Musteruntersuchungen, dass auch die Zahl der übergewichtigen 19-Jährigen steigt. Während 1989 etwa 3,4 Prozent von ihnen einen Body-Mass-Index von mehr als 30 kg/m2 aufwiesen, waren es Koletzko zufolge neun Jahre später bereits 5,7 Prozent. Dabei sei zwar ein deutlicher Zusammenhang zwischen niedriger Schulbildung und Adipositas zu erkennen, der relative Anstieg sei jedoch in allen sozialen Schichten gleich. Insgesamt gesehen liegt Deutschland hinsichtlich der Prävalenz von Übergewicht und Adipositas in Europa auf Platz vier hinter Griechenland, Zypern und der Tschechei. Bereits drei von vier Deutschen bringen zu viele Kilos auf die Waage.