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EuGH

Keine EU-Kompetenz für das Apothekenrecht

14.06.2010  11:19 Uhr

Von Michael Jung, Berlin / In einer Entscheidung vom 1. Juni 20101 hat der Europäische Gerichtshof die Grundsätze seines Urteils vom 19. Mai 2009 zum deutschen Fremdbesitzverbot2 noch einmal bekräftigt und auch die Vorschriften in Asturien (Spanien) zur Niederlassung von Apothekern weitestgehend für europarechtskonform erklärt. Damit hat der EuGH in Gestalt seiner Großen Kammer den Bestrebungen der EU-Kommission für eine Deregulierung des Apothekenrechts erneut eine Absage erteilt.

I. Die spanischen Vorschriften

 

Dem Urteil liegen Vorlagefragen des »Tribunal Superior de Justicia de Asturias« zugrunde, das über die Klagen zweier spanischer Apotheker zu entscheiden hat. Diese wollten in Asturien jeweils eine Apotheke eröffnen, ohne die dort vorgesehenen Kriterien über die Bedarfsplanung zu erfüllen. Im Einzelnen sehen die spanischen Regelungen vor, dass neue Apotheken nur dort gegründet werden dürfen, wo die Behörden anhand der Bevölkerungsdichte und der geografischen Merkmale einen Bedarf festgestellt haben. Für Asturien gelten insoweit als Richtwerte eine zu versorgende Anzahl von 2800 Einwohnern3 und ein Mindestabstand zwischen zwei Apotheken von 250 Metern4. Weiterhin ist für den Fall, dass mehrere Bewerber die Eröffnung einer Apotheke beantragen, ein Auswahlverfahren anhand eines Punktekatalogs vorgesehen. Einerseits wird dabei auf die Ausbildung, Berufserfahrung und akademische Erfahrung abgestellt; andererseits werden aber auch Sondervorteile für solche Apotheker gewährt, die bereits vorher in Asturien tätig waren. Die Kläger beriefen sich in den Verfahren darauf, dass diese asturischen Vorschriften nicht mit der unionsrechtlichen Niederlassungsfreiheit vereinbar seien. Daher rief das Tribunal Superior im Oktober 2007 den EuGH zur Klärung dieser Frage an.

 

II. Die Schlussanträge des Generalanwalts

 

Am 30. September 2009 nahm entsprechend der EuGH-Verfahrensordnung zunächst Generalanwalt Poiares Maduro eine Bewertung vor. In seinen Schlussanträgen schlug er dem Gerichtshof vor, die Bedarfsprüfung nur unter sehr einschränkenden Bedingungen zu billigen. Er stützte sich dabei maßgeblich auf die Maßstäbe der jüngeren Rechtsprechung des EuGH, wie sie im Urteil zum Fremdbesitzverbot5 zum Ausdruck kommen.

 

Demnach stehe den Mitgliedstaaten ein weiter Wertungsspielraum bei der Organisation ihrer Gesundheitssysteme zu, der vom EuGH zu respektieren sei. Die Gewährleistung einer ausgewogenen Verteilung von Apotheken im gesamten Staatsgebiet sei ein zwingender Grund des Allgemeininteresses, der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen könne. Die Mitgliedstaaten seien nicht zu dem Versuch gezwungen, eine qualitativ hochwertige pharmazeutische Versorgung im Wege des freien Wettbewerbs zu erreichen, sondern dürften beschränkende Regulierungen einsetzen. Voraussetzung sei aber deren tatsächliche Rechtfertigung, insbesondere ihre Einheitlichkeit und Kohärenz.

 

Bei der Detailprüfung bemängelte der Generalanwalt erstens, dass die Berufstätigkeit in Asturien in bestimmten Fällen höher gewichtet wird. Dies stelle eine verbotene Diskriminierung auswärtiger Bewerber dar.

 

Zweitens könne eine Gefährdung der Qualität der pharmazeutischen Versorgung durch verschärften Wettbewerb nicht angenommen werden, da die Apotheker nicht nur aufgrund der staatlichen Rechtsvorschriften, sondern auch aufgrund ihrer beruflichen Pflichten ein bestimmtes Leistungsniveau anbieten müssten. Auf diese berufliche Unabhängigkeit habe sich der EuGH in seinem Urteil zum deutschen Fremdbesitzverbot maßgeblich gestützt.

 

Drittens sei die spanische Regelung insofern inkohärent, als sie nicht durchgehend eine Bevorzugung von Apothekern vorsehe, die in unterversorgten Gebieten tätig seien. Hier sei insbesondere zu berücksichtigen, dass lukrative Zulassungen in Ballungsräumen zu Vermögenswerten der Zulassungsinhaber würden, die sie nach ihrer freien Wahl veräußern könnten. Dies verknappe nochmals die Möglichkeit, in diesen Gebieten tätig werden zu können, und stelle eher eine »Bereicherung einzelner Apotheker infolge der Beschränkung des Wettbewerbs in der Apothekenbranche« dar.

 

Viertens müsse die Frage, ob eine Mindestentfernung ein geeignetes und verhältnismäßiges Mittel sei, vom nationalen Gericht selbst geprüft werden. Dem EuGH lägen insofern nicht genügend Informa­tionen für eine abschließende Bewer- tung vor.

 

Schließlich wies der Generalanwalt darauf hin, dass die von den Verfahrensbeteiligten vorgeschlagenen Alternativregelungen nicht eindeutig vorzuziehen seien. Auch der Verweis auf andere Mitgliedstaaten, in denen teilweise liberalere Regelungen funktionierten, könne angesichts des nicht vom EuGH einschränkbaren Wertungsspielraums der Mitgliedstaaten nicht herangezogen werden.

 

III. Das Urteil des EuGH

 

Die Große Kammer des Gerichtshofs folgt den Anträgen des Generalanwalts in ihrem Urteil zwar in den Grundsätzen, nicht aber in der Kohärenzprüfung. Letztere überlässt der EuGH vielmehr dem vorlegenden nationalen Gericht als sachnäherer Instanz. Zudem stellt er dafür von den Schlussanträgen abweichende Prüfungsmaßstäbe auf, die eine Rechtfertigung der Einschränkungen der Niederlassungsfreiheit deutlich erleichtern.

 

Eingangs seines Urteils geht der EuGH auf den Einwand mancher Verfahrensbeteiligter ein, der zu prüfende Sachverhalt unterliege wegen des ausschließlichen Inlandsbezugs nicht seiner Prüfungskompetenz. Der EuGH darf nämlich allein zu Fragen urteilen, die einen mitgliedstaatübergreifenden Bezug haben. Diesen Einwand beseitigt der EuGH allerdings – entsprechend einer mittlerweile verfestigten Rechtsprechung – mit dem Hinweis auf die mögliche Relevanz einer denkbaren Inländerdiskriminierung für das vorlegende nationale Gericht: Sollte der EuGH feststellen, dass gewisse Beschränkungen für EU-Bürger gegen die Niederlassungsfreiheit verstoßen, und könnten sich inländische Bürger vor ihren nationalen Gerichten auf eine Gleichbehandlung mit diesen Ausländern berufen, dann wäre der nötige grenzüberschreitende Bezug hergestellt. Dazu stellt der EuGH fest, dass diese Frage letztlich nur durch das vorlegende nationale Gericht beantwortet werden könne. Insofern spreche eine Vermutung für die Zulässigkeit, da dieses Gericht ja schließlich eine Antwort des EuGH erbeten habe und diese als relevant für die Lösung des Falles erachte.

 

Bei der inhaltlichen Prüfung wiederholt der EuGH zunächst die bereits vom Generalanwalt zitierten Grundsätze seiner jüngeren Rechtsprechung6. Er ergänzt dies um den Hinweis auf Artikel 45 der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, nach dem die Mitgliedstaaten bestehende Bedarfsprüfungssysteme beibehalten dürfen. Dies verdeutliche, dass es keine europäische Harmonisierung der Niederlassungsvorschriften für Apotheker gebe. Daher seien alleiniger Prüfungsmaßstab die allgemeinen Grundfreiheiten der EU-Verträge.

 

Hinsichtlich der Eignung der Bedarfsprüfung zur Sicherstellung einer ausgewogenen Verteilung von Apotheken betont der EuGH den autonomen Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten. Die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung könne durch staatliche Planung erreicht werden. Eine Kombination von geografischen und demografischen Kriterien diene einer umfassenden Abwägung im Rahmen dieser Planungsverfahren. Dass andere Mitgliedstaaten solche Kriterien nicht vorsehen7, habe keine Bedeutung für die Rechtfertigung. Auch werde die Eignung der Vorschriften nicht dadurch beeinträchtigt, dass ein Auswahlverfahren zwischen mehreren Bewerbern anhand eines Punktesystems vorgesehen sei. Dieses diene im Gegenteil durch die Bevorzugung noch nicht niedergelassener Apotheker dem Ziel, mehr Apothekern den Zugang zur selbstständigen Berufstätigkeit zu gewährleisten. Dem Generalanwalt sei allerdings zuzustimmen, als er eine bevorzugte Berücksichtigung einer Berufstätigkeit in Asturien als verbotene Diskriminierung aufgrund der Herkunft ansehe. (Nur) dieses Teilkriterium des Auswahlverfahrens sei daher rechtswidrig.

 

Zur Kohärenz der asturischen Vorschriften stellt der EuGH fest, dass diese – entgegen der Auffassung des Generalanwalts – zumindest nicht a priori zu verneinen sei. Vielmehr ermögliche das spanische System mit seinen Regelrichtwerten und den vorgesehenen Ausnahmetatbeständen für ländliche Gebiete oder Ballungsräume eine hinreichend flexible Handhabung zur Gewährleistung einer tatsächlich flächendeckenden und qualitativ hochstehenden Versorgung. Sofern die asturischen Behörden diese Möglichkeiten sachgerecht in die Praxis umsetzen – was vom vorlegenden Gericht zu prüfen sei –, liege eine tatsächlich kohärente Regelung vor.

 

Schließlich sei hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit festzustellen, dass die Verfahrensbeteiligten keine eindeutig besseren Maßnahmen vorgetragen hätten. Insbesondere könne nicht davon ausgegangen werden, dass die einfache Festlegung einer Mindestzahl von Apotheken in einem Bezirk, vor deren Erreichen keine weiteren Apotheken in anderen Bezirken genehmigt würden8, ein gleich wirksames System darstelle. Das damit verfolgte Ziel werde nämlich auch durch die geltenden Vorschriften erreicht, die zudem eine bessere staatliche Steuerung ermöglichten. Wenn ein Mitgliedstaat sich für derartige Steuerungsmöglichkeiten entscheide, könne ihm das nicht durch die EU untersagt werden.

 

IV. Bewertung des Urteils und seiner Folgen

 

Die Entscheidung des EuGH stellt eine eindrucksvolle Fortsetzung seiner Rechtsprechung zum Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten im Gesundheitswesen dar. Erneut9 ist es die Große Kammer – immerhin besetzt mit 13 Richtern, darunter allen Kammerpräsidenten des EuGH –, welche deutliche Worte für die Grenzen der Zuständigkeit der Europäischen Union findet. Diese neuere Linie der Rechtsprechung dürfte aller Voraussicht nach für eine lange Zeit Bestand haben und wird vom EuGH teilweise bereits auf andere, nicht harmonisierte Bereiche wie zum Beispiel das Glückspielrecht10 ausgedehnt.

 

Diese Konstanz der EuGH-Rechtsprechung wird auch die EU-Kommission zum Umdenken zwingen. Sie hatte vor einigen Jahren eine regelrechte Offensive gegen Niederlassungsbeschränkungen für Apotheken in den Mitgliedstaaten gestartet und eine ganze Reihe von Vertragsverletzungsverfahren initiiert. In diesen Verfahren wurden maßgeblich zwei Aspekte angegriffen: Fremd- und Mehrbesitzverbote sowie Bedarfszulassungen. Zu beiden Rechtsfragen existiert nun jeweils die eindeutige Aussage des EuGH, dass diese Beschränkungen grundsätzlich gerechtfertigt werden können. Juristisch ist damit die Lage klar: Die Europäische Union kann ihre Mitgliedstaaten nicht dazu zwingen, die von ihnen bevorzugten Regulierungsmodelle für Einrichtungen ihres Gesundheitswesens zu ändern. Dies entspricht der Festlegung in Artikel 168 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, der gleichfalls die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Organisation ihres Gesundheitswesens betont.

 

Diese juristische Ausgangslage und die deutlichen Worte des EuGH erleichtern es, die politische Debatte über den Sinn der geltenden Niederlassungsbeschränkungen zu führen. Solange mit der Regulierung die Qualität der Leistung und eine flächendeckende Versorgung gesichert werden sollen, besteht aus dieser Sicht kein Anlass für eine Liberalisierung. Vielmehr müssten die Befürworter dieser Liberalisierung stichhaltig nachweisen, dass die von ihnen bevorzugten Regulierungen bessere Ergebnisse hervorbringen würden. Bislang ist ihnen dies nicht gelungen – im Gegenteil. Die Studien der EU-Kommission konnten das von ihr gewünschte Ergebnis nicht nachweisen, und auch in den EuGH-Verfahren fand der Gerichtshof deutlich ablehnende Worte für den Wert dieser Alternativszenarien. /

Fußnoten

1) EuGH, Urteil vom 1. Juni 2010, verbundene Rechtssachen C-570/07 und C-571/07 »Blanco Pérez und Chao Gómez«. Die Schlussanträge und Urteile des EuGH sind online unter http://curia.europa.eu abrufbar.

2) EuGH, Urteil vom 19. Mai 2009, verbundene Rechtssachen C-171/07 und C-172/07 »Apothekerkammer des Saarlandes und andere«

3) Sofern in einem Apothekenbezirk mehr als 2800 Einwohner leben, darf darüber hinaus pro 2000 Einwohner eine Apotheke mehr errichtet werden.

4) Sowohl von der Mindesteinwohnerzahl als auch vom Mindestabstand kann in außergewöhnlichen Fällen abgewichen werden.

5) siehe oben – Fußnote 2.

6) siehe oben – eingangs unter II.

7) Zum Beispiel Deutschland, wo die Bedarfsprüfung seit dem »Apothekenurteil« des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juni 1958 (1 BvR 596/56) und dem Erlass des Apothekengesetzes 1960 zugunsten der Niederlassungsfreiheit abgeschafft ist.

8) Diese Regelung war unter anderem von der EU-Kommission als liberalere Alternative vorgeschlagen worden.

9) Wie schon im Verfahren über das deutsche Fremdbesitzverbot, siehe Fußnote 2, das sich als eine der wichtigsten Leitentscheidungen für die Auslegung der unionsrechtlichen Niederlassungsfreiheit etabliert hat.

10) EuGH, Urteil vom 8. September 2009, C-42/07 »Liga Portuguesa«

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