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Orale Antikoagulation

Neue Optionen mit NOAK

30.05.2017  11:12 Uhr

Von Susanne Alban / Seit den ersten Zulassungen 2011 stehen ­inzwischen vier direkte orale Antikoagulanzien zur ­Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern und zur Therapie und Rezidiv­prophylaxe nach venösen Thromboembolien zur ­Verfügung. Sie werden zunehmend häufiger eingesetzt, sodass man bei einer Langzeit-Antikoagulation nicht mehr landläufig von ­»Marcumarisierung« sprechen kann.

Vitamin-K-Antagonisten (VKA) sind lebensrettende Arzneimittel. Bei Patienten mit nicht-valvulärem Vorhofflimmern (AF), das also nicht durch eine Mitral­stenose oder andere Herzklappenvitien verursacht ist, reduzieren sie das ­Schlaganfallrisiko um 67 Prozent und verhindern 26 Prozent der Todesfälle (1). Andererseits sind Warfarin und Phenprocoumon die Nummer 1 unter den Arzneistoffen, die zu schweren Nebenwirkungen führen können (2, 3) und ihre Anwendung ist ­alles andere als einfach.

 

Mit den NOAK (nicht-Vitamin-K-ant­agonistische orale Antikoagulanzien) gibt es nach mehr als 50 Jahren erstmals Alternativen zu den VKA für die orale Antikoagulation. Es handelt sich um den direkten Thrombin-Inhibitor (DTI) Dabigatranetexilat (Beispiel: Pradaxa®, Prodrug von Dabigatran) sowie drei direkte Faktor-Xa-Inhibitoren (DXI): Rivaroxaban (Beispiel: Xarelto®), Apixaban (Beispiel: Eliquis®) und Edoxaban (Beispiel: Lixiana®). Sie sind für die Schlaganfallprophylaxe bei nicht-valvulärem Vorhofflimmern (SPAF) sowie die Therapie und Rezidivprophylaxe venöser Thromboembolien (VTE) und somit für die beiden bedeutendsten Anwendungsgebiete der VKA zugelassen (Tabelle 1).

 

In großen Phase-III-Studien haben sich diese Wirkstoffe als mindestens so sicher und wirksam erwiesen wie die VKA. Unter anderem reduzieren sie die Rate an hämorrhagischen Schlaganfällen bei Patienten mit Vorhofflimmern, während sie in der VTE-Therapie das Blutungsrisiko reduzieren.

 

Ferner können die NOAK alternativ zu den niedermolekularen Heparinen und Fondaparinux zur Primärprophylaxe von VTE nach Hüft- und Kniegelenk­ersatz eingesetzt werden (Edoxaban nur in Japan). Die Studien zu dieser ersten Indikation dienten allerdings primär dem »proof of concept«, denn ein Patientenkollektiv mit einem temporär sehr hohen VTE- und operationsbedingt hohem Blutungsrisiko eignet sich gut, um die Wirksamkeit und Sicherheit eines neuen Antikoagulans initial einzuschätzen. Rivaroxaban ist zudem in niedriger Dosierung für die Prophy­laxe atherothrombotischer Ereignisse nach einem akuten Koronarsyndrom (ACS) zugelassen.

 

Wie alle zugelassenen Antikoagulanzien adressieren die NOAK die zen­tralen Schlüsselenzyme der Gerinnung. Während sie jedoch durch kompetitive Bindung am aktiven Zentrum Thrombin oder Faktor Xa direkt hemmen, wirken die VKA indirekt gerinnungshemmend, indem sie in die Biosynthese von Prothrombin und Faktor X und einiger anderer Gerinnungsproteine eingreifen und die Konzentration an aktivierbaren Gerinnungsfaktoren »verdünnen«.

Tabelle 1: Anwendungsbereiche von älteren Antikoagulanzien und NOAK wie Apixaban (A), Dabigatran (D), Edoxaban (E) und Rivaroxaban (R)

Indikation Heparine, Fondaparinux VKA NOAK
kurz- und mittelfristige Antikoagulation
Primärprophylaxe
peri-/postoperativ (TEP)
Innere Medizin
extrakorporale Zirkulation
Intensivmedizin

X
X
X
X

A, D, R
Akuttherapie
VTE
akutes Koronarsyndrom
»Bridging«-Therapie

X
X
X (nur NMH)

A,  R
Langzeitprophylaxe
Primärprophylaxe
Vorhofflimmern
Herzklappenersatz
Thrombophilie

X
X
X

A, D, E, R
Sekundärprophylaxe
nach VTE
nach TIA/Schlaganfall
nach akutem Koronarsyndrom

X
X
(X)

A, D, E, R
A, D, E, R
R

NMH: niedermolekulare Heparine; TEP: Hüft- oder Knie-Total-Endoprothese; VTE: venöse Thrombo­embolie, TIA: transitorische ischämische Attacke


Pharmakologie verändert die Anwendung

 

Dieser grundlegend andere Wirkmechanismus und weitere pharmakologische Unterschiede führen zu einigen Änderungen in der praktischen Anwendung und erfordern ein Umdenken nach einem halben Jahrhundert routinierter Anwendung der VKA.

 

Bedingt durch den Wirkmechanismus setzt die Wirkung von Warfarin (Beispiel: Coumadin®) und Phenprocoumon (Beispiel: Marcumar®) erst 36 bis 72 Stunden nach Beginn der oralen Einnahme ein und bleibt für drei bis fünf beziehungsweise sieben bis 14 Tage nach Absetzen bestehen. Die Unterschiede in der Wirkdauer der beiden VKA beruhen auf deren Plasmahalbwertzeit von 35 bis 45 sowie 80 bis 240 Stunden.

Die Wirkung der NOAK setzt dagegen bereits zwei bis vier Stunden nach Einnahme der ersten Dosis ein und nimmt analog zu ihrer Plasmahalbwertszeit von ungefähr zwölf Stunden auch schnell wieder ab (bei normaler Nierenfunktion) (4–7). Daher ist bei den NOAK weder initial eine gleichzeitige parenterale Antikoagulation noch ein vorzeitiges Absetzen und »Bridging« (Überbrücken) mit Heparinen vor Operationen und anderen Eingriffen erforderlich. Strikte Adhärenz ist jedoch noch wichtiger als bei den VKA.

 

Ein großer Nachteil der VKA ist die starke inter- und intraindividuelle Va­riabilität ihrer Wirkung. Aufgrund der komplexen Pharmakodynamik hängt ihre Wirkung von genetischen Faktoren und zahlreichen anderen individuellen Parametern des Patienten ab. Zudem bestehen vielfältige Interaktionen mit Nahrungs- und Arzneimitteln. Da die VKA zusätzlich ein enges therapeutisches Fenster haben, muss ihre Dosierung individuell anhand des Laborparameters INR (International Normalized Ratio) eingestellt sowie regelmäßig kontrolliert und angepasst werden. Im Gegensatz dazu weisen die NOAK verlässliche Dosis-Wirkungs-Beziehungen und eine größere therapeutische Breite auf, sodass der Patient nicht eingestellt werden muss, sondern eine fixe Dosis erhält. Folglich ist auch kein Routine-Monitoring erforderlich (Kasten).

Die Frage nach dem Monitoring

Aufgrund des direkten Wirkmechanismus der NOAK ist kein Routine-Monitoring zur individuellen Dosisfindung und -anpassung erforderlich. In folgenden Situationen kann die Messung der NOAK-Plasmaspiegel jedoch hilfreich sein: dringender chirurgischer Eingriff, schwere Blutungen und thromboembolische Ereignisse, Nieren- oder Leberinsuffizienz, potenzielle Arzneimittelwechselwirkungen oder Verdacht auf Überdosierung.

 

Mit dem Gerinnungstest »Hemoclot« (verdünnte Thrombinzeit) für Dabigatran und dem mit dem entsprechenden DXI kalibrierten chromogenen Anti-Faktor-Xa-Assay (bekannt als Test für die niedermolekularen Heparine, NMH) sind entsprechende Tests inzwischen für alle NOAK verfügbar. »Point of Care«-Tests, die Ergebnisse innerhalb weniger Minuten liefern, um zum Beispiel über die Möglichkeit ­einer Lyse bei einem Schlaganfall zu entscheiden, sind noch in Entwicklung.

Dosierung der NOAK

 

Insgesamt ist die Anwendung der NOAK im Vergleich zu den VKA einfacher und bequemer. Eine gewisse Herausforderung stellt ihre korrekte Dosierung dar. Während die VKA-Anwendung sozusagen nach dem Prinzip der »personalisierten Medizin« erfolgt, werden die verschiedenen NOAK jeweils entsprechend definierter indikationsspezifischer Dosierungsregime verabreicht (Tabelle 2).

 

Zu unterscheiden ist, ob das NOAK ein- oder zweimal täglich einzunehmen ist. Apixaban wird konsequent zweimal täglich appliziert, Edoxaban hingegen einmal täglich. Auch für Rivaroxaban gilt prinzipiell die einmal tägliche Gabe. In den ersten drei Wochen nach einer VTE erfolgt jedoch eine intensivierte Akuttherapie mit zweimal täglich 15 mg und auch nach einem akuten Koronarsyndrom ist die zweimal tägliche Gabe vorgesehen. Da die Tagesdosis von Dabigatranetexilat wegen der besonderen Galenik ohnehin nicht in eine Kapsel passt (einmal zwei Kapseln in der VTE-Prophylaxe), wird sie in der Langzeitanwendung auf zwei Dosen täglich aufgeteilt.

 

Ein weiterer Unterschied betrifft die Initialphase der Therapie bei venösen Thromboembolien. Rivaroxaban und Apixaban können vom ersten Tag an verabreicht werden. Dagegen beginnt die Gabe von Dabigatran und Edoxaban erst nach einer mindestens fünf­tägigen Initialtherapie mit nieder­molekularen Heparinen (NMH) oder Fondaparinux.

 

Neben der Regeldosis gibt es für jedes NOAK eine um etwa ein Viertel (Dabigatran, Rivaroxaban) oder die Hälfte (Apixaban, Edoxaban) reduzierte Dosis. Diese ist zum Beispiel indiziert bei über-80-jährigen Patienten (Dabigatran, Apixaban), niedrigem Körpergewicht (Apixaban, Edoxaban) oder eingeschränkter Nierenfunktion, um ein erhöhtes Blutungsrisiko zu reduzieren. Laut nationaler Verordnungszahlen wird die reduzierte Dosis aber auch eingesetzt, ohne dass eine entsprechende Konstellation vorliegt. Dies kann – vor allem bei Apixaban und Edoxaban – die Wirksamkeit vermindern (8–10).

Tabelle 2: Regeldosierungen der NOAK laut Fachinformationen

Indikation Dabigatran (mg) Rivaroxaban (mg) Apixaban (mg) Edoxaban (mg)
VTE-Prophylaxe 1 x 2 Kps à 110 1 x 10 2 x 2,5
SPAF 2 x 150 1 x 20 2 x 5 1 x 60
VTE-Therapie und Rezidivprophylaxe ≥ 5 Tage: parenteral,
danach: 2 x 150
Tag 1 bis 21 2 x 15
ab Tag 22: 1 x 20
Tag 1 bis 7: 2 x 10
bis 6 Monate: 2 x 5
danach: 2 x 2,5
≥ 5 Tage:
parenteral,
danach: 1 x 60

SPAF: Schlaganfallprophylaxe bei nicht-valvulärem Vorhofflimmern; VTE: venöse Thromboembolie

Das Dilemma des typischen Patienten

 

Das Risiko für thromboembolische Erkrankungen steigt mit dem Alter. Während die VTE-Rate bei Personen unter 65 Jahren 0,71 pro 1000 Patientenjahre beträgt, sind es bei Über-85-Jährigen 9,0 pro 1000 Patientenjahre (11). Rund zwei Drittel der Patienten mit einem VTE-Erstereignis sind 60 Jahre und älter; knapp die Hälfte sind 70 Jahre und älter (12). Das nicht-valvuläre Vorhofflimmern, eine der wichtigsten Ursachen des Schlaganfalls, ist ebenfalls eine typische Erkrankung des höheren Alters (Prävalenz 17,8 Prozent bei Über-85-Jährigen) (13) und das Schlaganfall-Risiko dieser Patienten ist umso höher, je älter sie sind (14).

 

Auch das Blutungsrisiko steigt mit höherem Alter. Ältere VTE-Patienten (über 65 Jahre) haben ein doppelt so hohes Blutungsrisiko und eine höhere Mortalitätsrate (11). Daher beinhalten Scores wie HASBLED, ORBIT und ABC zur Einschätzung des Blutungsrisikos stets das höhere Lebensalter als eigenständigen Risikofaktor (15). Bei Patienten mit Vorhofflimmern ist das höhere Alter sowohl einer der wichtigsten Prädiktoren für Schlaganfall als auch für Blutungen (16).

 

Überwiegend ist eine Antikoagula­tion genau bei den Patienten indiziert, die per se ein erhöhtes Blutungsrisiko haben. Dieses Dilemma wird durch zwei Aspekte verschärft, nämlich die bei ­diesen Patienten häufig vorliegende Niereninsuffizienz und Polymedikation.

Tabelle 3: Steigerung der Arzneistoff-Exposition in Abhängigkeit von der Nierenfunktion

Dabigatran Rivaroxaban Apixaban Edoxan
Renale Elimination in aktiver Form
(in Prozent)
86 33 23 50
AUC in Abhängigkeit von der Nierenfunktion
Kreatinin-Clearance (ml/min)
50 bis 80 nicht bekannt 1,44 1,16 1,32
30 bis 49 2,7* 1,52* 1,29* 1,74**
15 bis 29 6,0! 1,64* 1,44* 1,72**

*: gegebenenfalls Dosisreduktion; **: Dosisreduktion; !: Kontraindikation

Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz

 

Die Abnahme der Nierenfunktion ist eine natürliche Alterserscheinung. Ab etwa dem 45. Lebensjahr lässt die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) jährlich um etwa 1 ml/min nach (17). In Deutschland haben 13 Prozent der über 70-Jährigen Menschen eine Niereninsuffizienz (GFR unter 60 ml/min) (18). In einer Versorgungsstudie hatte nur rund jeder Fünfte von 5710 hospitalisierten VTE-Patienten eine normale Nierenfunktion (19).

Die Niereninsuffizienz ist bei Patienten mit Thromboembolien nicht nur eine häufige Begleiterkrankung, sondern wie das Alter ein eigenständiger Risikofaktor sowohl für arterielle und venöse Ereignisse als auch für Blutungen (20, 21). In einer Registerstudie mit 132 372 Vorhofflimmer-Patienten war eine schwere Niereninsuffizienz mit 1,8-mal mehr Schlaganfällen und 2,5-mal mehr Blutungen assoziiert (22).

 

Können NOAK, die teilweise in aktiver Form renal ausgeschieden werden und daher bei Niereninsuffizienz zur Akkumulation neigen, das Blutungsrisiko dieser Patienten zusätzlich erhöhen? Hier ist zunächst einmal zu differenzieren zwischen Dabigatran, das überwiegend renal eliminiert wird, und den drei direkten Faktor-Xa-Hemmern (DXI), die nur zu 23 bis 50 Prozent in aktiver Form im Urin zu finden sind. Im Gegensatz zu den DXI (Expositionssteigerung unter 75 Prozent) führt eine mittelgradige (Kreatinin-Clearance, KrCl 30 bis 49 ml/min) oder schwere Niereninsuffizienz (KrCl unter 30 ml/min) zur 2,7-fachen sowie 6-fachen Dabigatran-Exposition (Tabelle 3).

 

Neben der Erhöhung der Exposition verlängern sich bei Dabigatran und Apixaban die Halbwertszeiten. Dies ist besonders zu berücksichtigen, wenn eine Unterbrechung der Antikoagula­tion vor Interventionen oder Operationen indiziert ist.

 

Dabigatran ist bei schwerer Niereninsuffizienz als einziges NOAK offiziell kontraindiziert, kann aber bei mittelgradiger Niereninsuffizienz je nach individueller Risikokonstellation sogar in der Regeldosierung angewendet werden (Tabelle 2). Die DXI können mit Vorsicht und in der Regel in reduzierter Dosierung bis zu einer KrCl von 15 ml/min eingesetzt werden.

 

Grundlage für die Anwendungsempfehlungen bei Niereninsuffizienz sind die Daten der Phase-III-Studien. Laut ­einer Metaanalyse von zehn SPAF- und VTE-Therapie-Studien (23) führten die NOAK insgesamt bei leichter und mittelgradiger Niereninsuffizienz zu signifikant beziehungsweise tendenziell weniger schweren und klinisch relevanten Blutungen als Warfarin, obwohl dieses keinerlei Akkumulation zeigt. Zusätzlich waren die NOAK signifikant wirksamer als die Standardtherapie. Nichtsdestotrotz hängt die Reduktion der Blutungen stark vom jeweiligen Akkumula­tionsrisiko des NOAK ab (24). Während beispielsweise bei Apixaban besonders die Niereninsuffizienten von einer Behandlung mit dem NOAK profitieren (25), gleicht sich das Blutungsrisiko unter Dabigatran mit abnehmender Nierenfunktion dem unter Warfarin an (26).

Hilfreiche »Blaue Hand«

Die NOAK haben sich als mindestens so sicher und wirksam erwiesen wie die VKA und ihre Anwendung ist prinzipiell einfacher und bequemer. Wie die VKA erhöhen sie aber pharmakodynamisch bedingt das Blutungsrisiko und sind daher mit Sorgfalt anzu­wenden. Um ihre Wirksamkeit und Sicherheit im klinischen Alltag zu ­gewährleisten, sollten sie nur in den zugelassenen Indikationen und ­gemäß der jeweils aktuellen Fachinformation und dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis angewendet werden. Hilfreich für die praktische Anwendung sind die für jedes NOAK mit dem Bundes­institut für Arznei­mittel und Me­di­zin­pro­dukte (BfARM) abgestimmten Schulungsmateria- lien, erkenn­bar an der »Blauen Hand«. Hier finden Ärzte, Apotheker und die Pa­tienten Informationen zur korrekten Umstellung von oder auf VKA, zum Vor­gehen bei elektiven und bei Notfall-Eingriffen sowie bei Überdosierung und Blutungen.

Insgesamt traten aber unter keinem NOAK mehr Blutungen auf als unter Warfarin. Die Studiendaten ergeben vielmehr ein klares Votum für die NOAK bei Patienten mit leichter und mittelgradiger Nierenfunktionsstörung. Da zur Anwendung der DXI bei Patienten mit schwerer Niereninsuffizienz (KrCl 15 bis 29 ml/min) noch keine klinischen Daten vorliegen, sollten diese Wirkstoffe nur mit entsprechender Vorsicht eingesetzt werden.

 

Allerdings sind die VKA, die bei manifester Niereninsuffizienz offiziell sogar kontraindiziert sind, bei Patienten mit einer KrCl unter 30 ml/min keine problemlose Alternative. Die INR-Einstellung dieser Patienten ist erschwert (26a). Bei dialysepflichtigen Patienten (KrCl unter 15 ml/min) mit Vorhofflimmern ist der Nettonutzen sogar fraglich, sodass derzeit eine orale Antikoa­gulation nicht allgemein empfohlen wird (27, 28). Außerdem sind Nierenkranke besonders anfällig für die schleichende Kalzifizierung von Gefäßen durch VKA-Langzeitanwendung. Diese pharmakodynamisch erklärbare Nebenwirkung forciert nicht nur atherosklerotische Prozesse (29), sondern scheint im Vergleich zu den NOAK auch die Verschlechterung der Nierenfunk­tion zu beschleunigen (30).

 

Die Nierenfunktion ist vor und regelmäßig während der Antikoagulation anhand der Kreatinin-Clearance (Berechnung nach der Cockgroft-Gault-Formel) zu kontrollieren (15). Bei der Wahl der Dosierung sollte der Arzt das individuelle Gesamtrisiko für Blutungen berücksichtigen und prüfen, welche Risikofaktoren für Blutungen, zum Beispiel Hypertonie, Komedikationen, Alkoholkonsum oder Anämie, modifizierbar sind.

 

Komedikation als Risikofaktor

 

Etwa ein Drittel der Blutungen unter Phenprocoumon, die zu einer Krankenhauseinweisung führen, beruhen auf Arzneimittelinteraktionen (3). Trotz des reduzierten Interaktionspotenzials ist auch bei den NOAK die Komedikation als Risikofaktor für Blutungen zu beachten. Für multimorbide ältere Patienten wurde Polymedikation als wichtigster Risikofaktor für schwere Nebenwirkungen identifiziert (31).

In der ROCKET-AF-Studie (Warfarin versus Rivaroxaban) nahmen beispielsweise zwei Drittel der Patienten fünf und mehr weitere Arzneimittel ein (32). Bei Patienten, die kein bis vier weitere Arzneimittel einnahmen, traten 2,3 schwere Blutungen pro 100 Patientenjahre auf; dagegen waren es bei fünf bis neun sowie bei zehn und mehr weiteren Arzneimitteln 3,66 sowie 6,42. Bezüglich des Einflusses der Komedikation gab es keinen Unterschied zwischen Warfarin und Rivaroxaban (32).

 

Da alle vier NOAK P-gp-Substrate sind und die drei Faktor-Xa-Inhibitoren zudem teilweise über CYP3A4 metabolisiert werden, sind pharmakokinetische Interaktionen nicht auszuschließen. In Humanstudien führte die gleichzeitige Gabe starker P-gp- und CYP3A4-Inhibitoren zur 1,2- bis 2,6-fachen Exposition, die Einnahme starker P-gp- und CYP3A4-Induktoren senkte die Exposition um maximal 50 Prozent. Alle vier NOAK haben ein ähnliches ­Interaktionspotenzial. Dies bestätigt eine Studie, in der Clarithromycin, ein starker CYP3A4- und moderater P-gp-Inhibitor, den gleichen Effekt auf Dabigatran und Rivaroxaban hatte (33).

 

Laut Einteilung der EMA sind die Expositionsveränderungen mehrheitlich als »mild« einzustufen. Dennoch könnten sie relevant werden, wenn mehrere interagierende Arzneimittel angewendet werden oder weitere Faktoren vorliegen, die die Wirkung des NOAK verstärken oder vermindern.

 

Kritische Kombination mit Antikoagulanzien

 

In ROCKET-AF war die Komedikation mit mindestens einem kombinierten P-gp/CYP3A4-Inhibitor weder mit mehr Blutungen assoziiert noch gab es einen Unterschied zwischen Rivaroxaban und Warfarin (32). Daher stellt sich die Frage, ob der Fokus auf die P-gp/CYP3A4-basierten Wechselwirkungen der NOAK wirklich sachdienlich ist und nicht eher von tatsächlichen Interak­tionsproblemen ablenkt.

 

Laut einer Studie (3) basieren etwa 75 Prozent der interaktionsbedingten Blutungen unter Phenprocoumon nicht auf pharmakokinetischen, sondern auf pharmakodynamischen Wechselwirkungen mit

 

  • Acetylsalicylsäure (ASS) und anderen Plättchenhemmern,
  • Antikoagulanzien wie Enoxaparin,
  • nicht steroidalen Antiphlogistika wie Diclofenac und Ibuprofen sowie
  • selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI).

Wichtig: Derartige Interaktionen sind nicht anhand einer INR-Veränderung zu erkennen. Wird ASS, ein NSAR oder SSRI gleichzeitig mit einem NOAK oder VKA angewendet, steigt das Blutungsrisiko um etwa 50 Prozent (34-37). Bekommt der Patient zusätzlich zu ASS noch Clopidogrel, wird es mehr als verdoppelt (38). Bei diesen wirklich relevanten Interaktionen gibt es keinen Unterschied zwischen NOAK und VKA. Nimmt der Patient ASS oder ein NSAR in Selbstmedikation ein, sollte der Apotheker ihn unbedingt auf die ­Gefahr hinweisen.

 

Blutungsmanagement und Antidote

 

Die Maßnahmen beim Auftreten von Blutungen sind die gleichen wie bei den VKA (15). Entscheidend sind in solchen Grenzsituationen das strukturierte Vorgehen nach »standard operation procedures« und eine gute Logistik. Ein Vorteil der NOAK gegenüber den VKA ist ihre kurze Halbwertzeit.

 

Außerdem gibt es für Dabigatran mit Idarucizumab (Praxbind®) und absehbar für die Faktor-Xa-Inhibitoren mit Andexanet alfa spezifische Antidote. Idarucizumab ist ein humanisiertes ­Antikörperfragment gegen Dabigatran. Da seine Affinität zu Dabigatran 350-mal höher ist als die von Thrombin, fängt es Dabigatran ab und verhindert so dessen gerinnungshemmende Wirkung durch Bindung an Thrombin. ­Andexanet alfa ist ein rekombinanter, modifizierter und dadurch nicht gerinnungsaktiver Faktor Xa. Er antagonisiert die Faktor-Xa-hemmende Wirkung der direkten Inhibitoren, aber auch die von Heparinen und Fonda­parinux.

 

Hier ist klarzustellen, dass weder Vitamin K noch das Prothrombin-Konzentrat PPSB wirkliche VKA-Antidote sind. Vitamin K entfaltet seine Wirkung erst nach 12 bis 24 Stunden (39) – das heißt einer Zeitspanne, in der die Plasmaspiegel der NOAK »von selbst« absinken. PPSB ist kein spezifisches Antidot, sondern ein Hämostatikum, das auch bei lebensbedrohlichen Blutungen unter NOAK eingesetzt werden kann, wenn kein spezifisches Antidot zur Verfügung steht (15).

 

Blick in die Forschung

 

Die Zulassungen der NOAK basieren auf dem in der Arzneimittelentwicklung bislang umfangreichsten Studienprogramm. Die Ergebnisse der Zulassungsstudien werden zunehmend auch durch offizielle Phase-IV-Studien, prospektive Registerstudien und eine große Zahl weiterer Anwendungsdaten bestätigt. Letztere sind jedoch recht heterogen in ihrer Qualität und daher kritisch zu bewerten (40, 41).

 

Darüber hinaus laufen zahlreiche Studien zu NOAK in speziellen Situa­tionen oder Patientengruppen, zum Beispiel AF-Patienten nach Stentimplantation oder Schlaganfall oder VTE bei Tumorpatienten, und auch für weitere Indikationen wie koronare Herzkrankheit oder periphere arterielle ­Verschlusskrankheit. Erkenntnisse aus diesen Studien werden sicherlich zur Verbesserung der Wirksamkeit und ­Sicherheit der oralen Antikoagulation beitragen. Doch auch mit den NOAK wird letztlich keine risikofreie Anti­koagulation möglich sein.

 

Daher lohnt sich ein Blick in die Pipeline. Neben Betrixaban, einem weiteren oralen DXI, für den kürzlich bei den Arzneimittelbehörden FDA und EMA die Zulassung zur verlängerten VTE-Prophylaxe akut kranker Patienten ­beantragt wurde, stehen zurzeit zwei neue Targets im Fokus, nämlich Faktor XII/XIIa und Faktor XI/XIa. Sowohl experimentelle Daten als auch epidemiologische Studien haben gezeigt, dass die Aktivierung des Kontaktsystems eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Thrombosen spielt, jedoch nicht bei der Hämostase. Hieraus resultiert die Hypothese, dass die Antagonisierung von Faktor XII/XIIa oder Faktor XI/XIa eine sicherere Antikoagulation als die Faktor Xa- und Thrombinhemmung ermöglicht (42).

 

Zurzeit werden unterschiedliche Strategien verfolgt, die beiden Targets zu adressieren:

 

  • Antisense-Oligonukleotide, die die Synthese von FXI oder FXII in der Leber reduzieren,
  • monoklonale Antikörper, die entweder die Aktivierung oder die Aktivität der beiden Faktoren blockieren,
  • Aptamere und kleine Moleküle, die entweder durch Bindung an das aktive Zentrum oder allosterische Modulation aktivitätshemmend ­wirken und schließlich
  • Agenzien, die Nukleinsäuren und ­Polyphosphate als wichtige Aktivatoren des Kontaktsystems neutralisieren.

Erste klinische Daten zu einem Faktor-XI-Antisense-Oligonukleotid sind vielversprechend. In der Phase-II-Studie FXI-ASO TKA zur VTE-Prophylaxe nach Kniegelenkersatzoperation war FXI-ASO (ISIS 416858) (300 mg) nicht nur wirksamer als Enoxaparin (4 Prozent versus 30 Prozent VTE), sondern führte auch zu weniger Blutungen (3 versus 8 Prozent) (43). /

 

Literatur bei der Verfasserin

Die Autorin

Susanne Alban ist approbierte Apothekerin und C3-Professorin für Pharmazeutische Biologie. Seit 2002 ist sie ­Direktorin des Pharmazeutischen Instituts der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Nach Studium, Promotion, Post-doc-Aufenthalten und Habilitation war sie bis 2002 als Oberassistentin an der Universität ­Regensburg tätig. Forschungsschwerpunkte sind Glycochemie/-biologie und das Netzwerk »Inflammation/Hämostase/Tumormetastasierung«. Ferner gilt ihr besonderes Interesse der medizinischen Hämostaseologie. Neben Tätigkeiten in staatlichen und wissenschaftlichen Gremien sowie Editorial Boards ist sie Mitglied der AMK der Deutschen Apotheker.

 

Professor Dr. Susanne Alban
Pharmazeutisches Institut
Christian-Albrechts-Universität
Gutenbergstraße 76
24118 Kiel
E-Mail: salban@pharmazie.uni-kiel.de 

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