Sucht gemeinsam bekämpfen |
30.04.2012 18:39 Uhr |
Von Annette Mende, Berlin / Medikamente haben als Suchtmittel mittlerweile eine größere Bedeutung als Alkohol. Dennoch finden nur wenige Arzneimittelabhängige den Weg in Selbsthilfegruppen. Damit mehr Betroffene die benötigte Hilfe in Anspruch nehmen, müssen alle Akteure zusammenwirken. Auch Apotheker wollen und können einen wichtigen Beitrag leisten.
Wer an Suchtselbsthilfe denkt, dem fallen vermutlich als erstes die »Anonymen Alkoholiker« ein. Ähnlich bekannte und etablierte Hilfsangebote für arzneimittelabhängige Menschen gibt es nicht. Dabei ist der Bedarf mindestens ebenso groß: Bei geschätzten 1,3 Millionen Alkoholabhängigen in Deutschland und schätzungsweise 1,4 bis 1,5 Millionen Arzneimittelsüchtigen haben Medikamente als Suchtmittel dem Alkohol zumindest zahlenmäßig bereits den Rang abgelaufen.
Tagung ohne Apotheker
Die Medikamentensucht war daher am vergangenen Wochenende Thema einer Tagung von Selbsthilfeverbänden in Erkner bei Berlin. Dort diskutierten sie mit Ärzten, Kassenvertretern und Politikern. Die Veranstaltung fand jedoch ohne Beteiligung der Apothekerschaft statt.
In Deutschland sind rund 1,5 Millionen Menschen arzneimittelabhängig. Nur wenige finden den Weg in Selbsthilfegruppen.
Foto: imago/blickwinkel
»Die ersten Selbsthilfegruppen von Alkoholabhängigen haben sich bereits vor mehr als 100 Jahren gegründet«, sagte Dr. Heribert Fleischmann, Vorstandsvorsitzender der DHS, bei einer Pressekonferenz in Berlin im Vorfeld der Tagung. Dass sich die Selbsthilfe von Alkoholabhängigen so gut etablieren konnte, liegt aus seiner Sicht jedoch nicht nur an deren langer Tradition. Die Abhängigkeit vom Genussmittel Alkohol galt lange als selbstverschuldet – und Betroffene mussten eben auch selbst zusehen, wie sie mit ihrer Sucht fertig wurden.
Ganz anders sieht es bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln aus. »Hier tragen Ärzte als Verordner zumindest eine Mitverantwortung, wenn der Patient eine Abhängigkeit entwickelt«, so Fleischmann. Viele Arzneistoffklassen wie Analgetika, Anxiolytika und Sedativa besäßen ein Abhängigkeitspotenzial, seien aber zur Therapie von Erkrankungen unverzichtbar. »Es ist eine Gratwanderung: Einerseits brauchen wir diese Medikamente für die Behandlung, andererseits können Patienten davon abhängig werden, wenn sie nicht indikationsgerecht eingesetzt werden«, sagte der Suchtmediziner.
Die Tatsache, dass das entsprechende Arzneimittel ärztlich verordnet ist, legitimiere aus Sicht der Patienten oftmals die unkritische Einnahme. Arzneimittel mit Abhängigkeitspotenzial sollten daher nur bei klarer Indikation und zeitlich begrenzt gegeben werden. Jede Dauermedikation müsse regelmäßig auf den Prüfstand gestellt und gegebenenfalls ausgeschlichen werden.
Dass auch Apotheker dabei wertvolle Hilfe leisten können, zeigt ein Modellprojekt aus Baden-Württemberg, dessen Ziel die schrittweise Entwöhnung von Benzodiazepin-abhängigen Patienten ist. Ärzte und Apotheker kooperieren hier sehr erfolgreich miteinander und unterstützen sich gegenseitig beim Erkennen betroffener Patienten sowie deren gezielter Ansprache. Betreut wird das Projekt von Dr. Ernst Pallenbach von der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg, der es im vergangenen Herbst bei einer Pressekonferenz der ABDA zum Thema Arzneimittelabhängigkeit vorstellte (lesen Sie dazu auch Arzneimittel: Gemeinsam gegen Missbrauch, PZ 45/2011).
Angebote bekannter machen
Die Zusammenarbeit mit Ärzten ist nur eine Möglichkeit, wie Apotheker sich in der Betreuung von suchtkranken Patienten einbringen können. Eine weitere besteht darin, die vorhandenen Hilfsangebote allgemein bekannter zu machen und so dafür zu sorgen, dass mehr Betroffene den Weg dorthin finden. Denn obwohl es Schätzungen zufolge ähnlich viele arzneimittelabhängige Patienten wie Alkoholkranke in Deutschland gibt, machen erstere nur gut 3 Prozent der Klientel von Suchtselbsthilfeverbänden aus. »Wir wollen weg von dem Klischee, dass wir uns nur mit Alkohol auskennen«, sagte denn auch Wiebke Schneider, Geschäftsführerin der Selbsthilfeorganisation Guttempler, in Berlin.
Bei der Arbeit von Selbsthilfeverbänden steht heute nicht mehr das jeweilige Suchtmittel im Vordergrund, sondern die Verstrickung in süchtige Verhaltensweisen. »Gesunde Lebens- und Verhaltensweisen zu fördern, soziale Kontakte aufzubauen und verlorene Lebensfreude wiederzufinden, ist für alle Menschen mit Suchtkrankheiten wichtig«, so Schneider. Dieses Angebot müsse verstärkt auch Patienten mit Arzneimittelabhängigkeit nahegebracht werden. /
Alle in einem Boot
Ein ganzes Wochenende lang ging es in Erkner bei Berlin um das Thema Medikamentensucht, doch einen Vertreter der Apothekerschaft suchte man bei dem Treffen vergebens. Das ist schade, denn im Kampf gegen Arzneimittelsucht sitzen Patienten, Ärzte und Apotheker in einem Boot – und sie müssen alle in dieselbe Richtung rudern. Eigentlich sollten wir Apotheker als Arzneimittelfachleute die selbstverständlichen Ansprechpartner sein, auch wenn es um die Schattenseiten von Medikamenten geht. Dass wir es aus Sicht mancher Außenstehender offenbar nicht sind, zeigt, wie sehr wir alle weiter daran arbeiten müssen, dass unser Bild in der Öffentlichkeit noch mehr von unserem pharmazeutischen Sachverstand geprägt wird.
Annette Mende
Redakteurin Pharmazie