Als Kräuterland fast unbekannt |
10.04.2018 12:09 Uhr |
Von Klaus Sieg / Albanien ist einer der größten Produzenten von Heil- und Gewürzpflanzen der Welt. In den kargen Bergen des Balkanlandes wachsen viele eingesessene Wildarten von Salbei, Oregano oder Wacholder. Immer mehr albanische Landwirte bauen Kräuter aber auch an.
Flink wie eine Gämse kraxelt Petrica Ngjela den steilen Hang hinauf. Geröll und Steine knirschen unter seinen Schuhen. Das Geräusch mischt sich mit den Rufen der anderen Sammler und dem Rascheln des Plastiksacks in seiner linken Hand. In der anderen Hand hält der drahtige Mann eine Sichel. Er bückt sich, trennt mit einem schnellen Schnitt ein Büschel Salbei ab und stopft es in den Sack. Wieder aufgerichtet, lässt er seinen Blick über die karge Landschaft schweifen. Wo steht das nächste Büschel? Ein Greifvogel schwebt über die Hänge aus trockenem Gras und kalkigen Felsbrocken, zwischen denen Schafe mit Glocken um den Hals grasen. »Salbei wächst meistens an Felsen und Steinen«, sagt Ngjela und hastet weiter den Bergrücken hinauf. Ungeduldig klopft er mit der flachen Seite der Sichel gegen seinen Oberschenkel.
Bewässerte Salbeipflanzen vor den Albanischen Alpen.
Alle Fotos: Jörg Böthling, Hamburg
Bei Asterix-Lesern löst die Sichel unweigerlich das Bild von Miraculix aus. Mit dem Druiden in dem wallenden Gewand hat der 40-Jährige Albaner allerdings keine Ähnlichkeit. Er trägt Jeans, Turnschuhe und ein blaukariertes Hemd. Statt eines weißen Rauschebartes sprießen schwarze Stoppeln auf seinen eingefallenen Wangen. Die Assoziation ist dennoch nicht unbegründet: Salbei fand bereits im frühen Altertum Anwendung. Die alten Ägypter heilten mit der Pflanze Impotenz und Unfruchtbarkeit. Keltische Druiden sahen in ihr ein magisches Kraut, das sogar Tote zum Leben erwecken konnte.
Heute nimmt man die Pflanze gegen Entzündungen, Halsschmerzen oder übermäßiges Schwitzen. Und natürlich zur Verfeinerung zahlreicher Pasta- und Fleischgerichte, von denen der italienische Klassiker Saltimbocca das wohl bekannteste sein dürfte.
Auch hier in den Bergen bei Berat, im Süden Albaniens, sammeln die Menschen schon seit Jahrtausenden Heil- und Gewürzpflanzen. Ob Salbei, Oregano, Wacholder, Myrte, Melisse, Johanniskraut oder einfache Himbeerblätter – die sehr unterschiedlichen Böden, Klimazonen und Landschaften Albaniens bringen eine große Vielfalt an Arten hervor. In dem Balkanland wachsen dreißig Prozent der Pflanzenarten Europas. Viele von ihnen kommen nur hier vor. An Heil- und Gewürzpflanzen wurden in Albanien alleine 300 Arten bestimmt. Zum Teil zeichnen sie sich durch einen besonders hohen Gehalt an Inhaltsstoffen aus, die sie von ihren Artgenossen aus anderen Ländern unterscheiden. Auf dem Weltmarkt sind Kräuter aus Albanien deshalb begehrt, ob für die Herstellung von Nahrungsmitteln, Gewürzen, Essenzen, Tees, Kosmetik- oder Medizinprodukten. Eine Chance für das ärmste Land Europas, in dem so viele Familien am Tropf der Überweisungen ihrer Auswanderer hängen. Schon zu kommunistischen Zeiten bediente das Land auf der Balkanhalbinsel die Welt mit Kräutern. Mit dem Umweg über Frankreich wurde selbst der Klassenfeind USA beliefert. 100 000 Menschen erwirtschafteten in dieser Zeit jährlich 50 Millionen Dollar Devisen für das Regime Enver Hoxhas, von dem noch heute fast 200 000 kleine Bunkeranlagen zeugen. Der isolierte Diktator ließ sie von der Bevölkerung zur Verteidigung gegen Angriffe aus allen Himmelsrichtungen errichten.
Hauptabnehmer Deutschland
Farmer Ilir Gjolaj im Lavendelfeld.
Heute beträgt das Handelsvolumen für Heil- und Gewürzkräuter zwar nur noch 25 bis 30 Millionen Dollar. Trotzdem sind Kräuter das wichtigste Exportgut des Landes. Hauptabnehmer sind die USA und die EU, allen voran Deutschland. Albanien exportiert von den wichtigsten Kräutern wie Salbei oder Oregano jeweils mehrere Tausend Tonnen Trockenware pro Jahr. Die Bedeutung dieses Exportgutes für die Wirtschaft des EU-Beitrittskandidaten zeigt sich selbst mitten in der Hauptstadt: Vor dem Kulturpalast aus kommunistischen Zeiten in Tirana wachsen Salbei, Oregano und Lavendel in eingefassten Beeten. Vor allem in entlegenen Bergregionen leben viele Albaner vom Sammeln der Wildbestände. Bis zu umgerechnet 25 Euro verdient Ngjela am Tag. Dafür sammelt er fünfzig bis sechzig Kilogramm. »Das ist das wichtigste Einkommen unserer Familie, und das nun schon seit zwanzig Jahren.« Salbei kann Ngjela von Juni bis Oktober sammeln. Zusätzlich verdient er unter anderem mit Wacholder sein Geld. »So muss ich nicht als Erntehelfer nach Griechenland.« Ngjela tritt von einem Fuß auf den anderen. Genug geredet. Schließlich wird er nach Kilogramm bezahlt. Und nicht nach Zeit.
Umweltschutz im eigenen Interesse
Trotz des Tempos achtet er sorgsam darauf, die Wurzeln nicht zu beschädigen. Außerdem lässt er ungefähr ein Drittel jeder Pflanze stehen. »Damit wir hier nächstes Jahr auch wieder sammeln können.« So schreiben es die Regeln für nachhaltiges Sammeln des französischen Ecocert-Verbandes vor, der Bio- und Naturkosmetik zertifiziert. Schließlich gilt es Albaniens Natur vor dem Raubbau zu schützen, den die weltweite Nachfrage nach den Kräutern von der Balkaninsel und die Not vieler Albaner geschaffen hat.
Sechs bis zehn Liter Öl destilliert diese Anlage aus einer Tonne Lavendel.
Ngjela bringt seine Ernte zu einem klapprigen Lastwagen am Fuße des Berges, den die Firma Gjerda Medical Plants geschickt hat. Für den lokalen Verarbeiter sind rund zweitausend Sammler im Einsatz. Als die Ladefläche voll ist, zuckelt der Lastwagen über gewundene Bergstraßen hinab zur Verarbeitung nach Berat. Die Stadt mit ihrer gut erhaltenen osmanischen Architektur gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Die Fahrt geht vorbei an kleinen Maisfeldern. Männer ernten die braungelben Pflanzen per Hand und laden sie gebündelt auf einen Esel. In Albanien ein häufiger Anblick. Erst langsam entwickelt sich eine mechanisierte Landwirtschaft. Auf einem kahlen Hang neben dem Feld liegt aus Steinen in riesigen Buchstaben das Wort »Never«. »Bis zum Sturz des Regimes 1990 waren die Steine noch zu »Enver« angeordnet, dem Namen des Diktators«, erklärt der Fahrer. Bis beherzte Anwohner die Umgestaltung übernahmen.
Sokol Proja von Naturalba prüft die Qualität des sortierten Salbeis.
In den Hallen der Firma Gjerda Medical Plants im Gewerbegebiet Berats rattern und schnaufen moderne Maschinen. Sie entfernen Stengel, Staub und Steine. Ein eigenes Labor testet den Ölgehalt und bestimmt die Arten. »Wir müssen unsere hohe Qualität sicherstellen, ansonsten haben wir keine Chance«, erklärt Gjergji Qose gegen den Lärm an. Um die 2500 Tonnen aus einhundert verschiedenen Produkten verkauft das Unternehmen pro Jahr, überwiegend Salbei, Oregano und Lavendel. »80 Prozent der Pflanzen kommen aus der Sammlung von Wildbeständen«, so der Direktor weiter.
Doch die Geschäfte mit dem Hauptprodukt Salbei gehen schlechter. Seit einigen Jahren ist das Angebot sehr gestiegen, weil immer mehr Landwirte die Pflanze anbauen. Statt wie zu Beginn Setzlinge einheimischer Arten aus den Bergen, kam immer mehr importiertes Pflanzgut zum Einsatz.
Heilkräuter-Beete vor dem 1963 während kommunistischer Herrschaft erbauten Kulturpalast in Tirana.
»Das bringt zwar höhere Erträge, aber weniger Qualität.« Salbei aus Albanien verlor seinen guten Ruf. In den letzten zwei Jahren greifen die Landwirte aber wieder vermehrt auf lokales Pflanzgut zurück. »Zum Glück wächst außerdem der Markt für Bioprodukte aus nachhaltiger Sammlung, er macht mittlerweile fast ein Drittel unseres Verkaufes aus.« Qose zeigt auf eine Karte hinter seinem Schreibtisch, auf der die zertifizierten Areale zum Sammeln in den Bergen von Berat eingezeichnet sind.
Heilpflanzen für Medizin und Kosmetik
Vom Bioboom profitiert auch das italienisch-albanische Joint Venture Naturalba in der Nähe der Hafenstadt Durres. Vom Firmensitz auf dem Cap Rodoni aus geht der Blick über Pinienwälder und das azurblaue Meer der Adria. In den Bergen rundherum sorgen Wildkräuter für einen betörenden Duft, der sich mit der salzigen Brise vom Meer vermischt. Man muss an Kräutertee denken. »Kräutertee? Dafür ist unsere Ware eigentlich zu wertvoll.« Irene Tosti und ihr Geschäftspartner beliefern handverlesene Heilpflanzen an renommierte Hersteller von Naturkosmetik. Andere Kunden verwenden die Ware zur Herstellung von Medizin oder Nahrungsergänzungsmitteln.
Anwendungen und Wirkungen sprudeln nur so aus der Italienerin heraus. Ebenso die lateinischen Namen von Arten wie etwa Ruscus Aculeatus. Der stechende Mäusedorn wirkt entzündungshemmend und entwässernd. »Das hilft sehr gut gegen schwere Beine.« Tosti führt durch die Produktion. An Sortiertischen stehen Frauen und Männer mit Mundschutz. So schützen sie sich gegen Staub und eine Überdosis ätherischer Öle, während sie Verunreinigungen aus der Ware sammeln, sie nach Größen und Qualität sortieren sowie ganze Blätter von zerbrochenen trennen. Mit seinen niedrigen Löhnen hat Albanien einen Wettbewerbsvorteil auf dem Weltmarkt. Neben dem Sammeln und der Weiterverarbeitung erfordert auch der Anbau von Heil- und Gewürzpflanzen viel Handarbeit. Die Setzlinge müssen per Hand gesteckt, anschließend muss sehr häufig Unkraut entfernt werden, weil die Pflanzen nur langsam wachsen. Auch die Ernte geschieht per Hand. Um so wichtiger ist es für die Produzenten trotz niedriger Löhne, einen angemessenen Preis zu erzielen.
Ilir Gjolaj hat deshalb in eine eigene Destillationsanlage für seine selbstangebauten Heil- und Gewürzpflanzen investiert. »Dann bin ich nicht abhängig von den Einkäufern und Exporteuren.« Mit zusammengekniffenen Augen blickt er über seinen Acker im Nordwesten Albaniens. Ein Traktor pflügt durch den steinigen Boden, zieht eine haushohe Staubfahne hinter sich her. Dahinter glitzert der Shkodrasee vor den kahlen Bergen Montenegros in der Sonne.
Vor dreizehn Jahren hat Gjolaj seinen ersten Hektar hier in der Region Koplik gekauft. Für 200 Euro. »Alle haben mich damals für verrückt erklärt, weil ich mein Geld in einen Haufen Steine steckte, niemand wollte in die Landwirtschaft gehen.« Gjolaj schmunzelt. Mit seinen Partnern von der Firma Agro-Map baut der Landwirt Salbei, Lavendel, Kornblumen und verschiedene andere Medizinal- und Gewürzpflanzen an. Insgesamt 90 Hektar bewirtschaftet Agro-Map mittlerweile.
Für Gjolaj fiel der Erfolg nicht vom Himmel. Er versuchte sich zunächst in Italien, startete ein kleines Handelsgeschäft. Dann kehrte er zurück. »Eine Sekunde auf dem Acker verband mich sofort mit den Wurzeln meiner Familie, die hier immer die Böden bearbeitet hat.« Die kalkhaltigen Böden der Region Koplik sind gut geeignet für den Anbau von Heil- und Gewürzpflanzen, unter anderem weil die vielen Steine die Wärme speichern.
Zunächst hatte Gjolaj in eine gebrauchte Destillationsanlage sowjetischer Bauart investiert. Nun hat er mit seinen beiden Partnern von Agro-Map eine neue angeschafft. Sie arbeitet leise zischelnd in einer zugigen Halle oberhalb der Anbauflächen. »Die neue Anlage holt den gesamten Ölgehalt aus den Pflanzen, den wir vorher im Labor gemessen haben, die alte schaffte nicht einmal die Hälfte.« Die Ausbeute aber ist gering. Sie tropft in eine Plastikflasche, die an dem gewaltigen Kessel hängt. Aus einer Tonne Strohblume gewinnt man 1,5 bis zwei Liter Öl, aus Lavendel sechs bis zehn Liter. Wie kann sich das rechnen? Durch Preise von bis zu 1500 Euro pro Liter. So viel bezahlen Kosmetikfirmen oder Hersteller von Arzneimitteln für diese Konzentrate. Wenn die Qualität stimmt. /