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Immundefekte

Lücken in der Abwehr

12.04.2017  09:56 Uhr

Von Judith Mielke / Klinische Störungen des Immunsystems sind relativ selten und können angeboren (primär) oder erworben (sekundär) sein. Die Therapie richtet sich nach der Ursache. Neben der Infusion von Immunglobulinen (Ig) ist in bestimmten Fällen auch eine Stammzelltransplantation nötig.

Primäre Immundefekte können sowohl das humorale Immunsystem und damit die Antikörperproduktion als auch zelluläre Immun- und Abwehrmechanismen betreffen. Sie sind in der Regel genetisch bedingt und daher nicht heilbar. Sekundäre Immundefekte treten häufig in Verbindung mit Autoimmun­erkrankungen oder Tumorerkrankungen auf und entstehen, weil die Erkrankung selbst oder die angewandte Therapie das immunologische Gleichgewicht nachhaltig stören.

Die Inzidenz primärer Immunmangelerkrankungen ist unklar. Schätzungen in Fachpublikationen variieren zwischen 1 pro 20 000 und 1 pro 500 000 Einwohner, wobei von einer hohen Anzahl nicht diagnostizierter Fälle ausgegangen werden muss. Zu den genetisch bedingten Formen gehören IgA-Defekte, IgG-Defekte und das variable Immundefektsyndrom (CVID) sowie überlappende Formen. Je nachdem, welche Komponenten des Immunsystems durch Mutation beeinträchtigt sind, lassen sich mehr als 230 verschiedene primäre Immundefekte unterscheiden. Die Schwere der gesundheitlichen Beeinträchtigungen variiert nach Art der Störung und individueller Ausprägung.

 

Bakteriell oder viral

 

Das Infektionsrisiko und die vorherrschende Art der Infektionen lassen sich anhand der Grunderkrankung abschätzen. So überwiegen beispielsweise bei Antikörpermangelsyndromen schwere bakterielle Infektionen, während bei T-Zellstörungen meist virale Infektionen auftreten. In der Regel führen die Defekte direkt oder indirekt zu einem Antikörpermangel, der für die Patienten besonders problematisch ist, da atypische Infektionsverläufe auftreten können. Klassische Immun- beziehungsweise Entzündungsreaktionen bleiben aus, was die Diagnose erheblich erschwert.

 

Um Infektionen zu verhindern, sind Impfungen für Patienten mit angeborenen Immundefekten besonders wichtig. Eine aktive Immunisierung ist jedoch häufig schwierig, da Lebend­impfstoffe als kontraindiziert angesehen werden und Totimpfstoffe häufig nicht ausreichen. Zur Vermeidung schwerer Infektionen steht daher die passive Immunisierung mit Antikörperkonzentraten an erster Stelle.

Zur Infektionsprophylaxe hat sich bei vielen Immundefekten die Gabe von Immunglobulinkonzentraten (IVIG)durchgesetzt. Die empfohlene IVIG-Dosis beträgt laut Fachinformation initial 0,4 bis 0,8 g/kg Körpergewicht, gefolgt von 0,2 bis 0,4 g/kg Körper­gewicht im Abstand von zwei bis vier Wochen. Der IgG-Serumspiegel sollte auf einen Wert eingestellt werden, der effektiv eine hohe Anzahl von Infektionen verhindert. Diese Werte sind individuell verschieden. Eine 2014 im »Journal of Allergy and Clinical Immunology« erschienene Analyse der Daten von 2212 CVID-Patienten zeigte jedoch, dass ein höherer IgG-Spiegel mit einer geringeren Rate schwerer Infektionen einhergeht (DOI: 10.1016/j.jaci.2013.12.1077).

 

Von Bedeutung sind auch Stammzelltransplantationen aus Knochenmark oder Blut, die derzeit vor allem bei kombinierten Immundefekten durchgeführt werden. Besonders Kinder können davon profitieren, dass ihnen ein neues, gesundes Immunsystem übertragen wird. Allen prophylaktischen Therapiemöglichkeiten zum Trotz können schwere Infektionen und manchmal auch Organveränderungen häufig nicht vollständig verhindert werden.

 

Veränderungen des Immunsystems, die aufgrund einer anderen Erkrankung, beispielsweise einer Autoimmun­erkrankung oder Leukämie, oder deren Therapie auftreten, finden auf der zellulären Ebene statt. Sie betreffen in der Regel die Vermehrung und Reifung von Immunzellen. Eine typische Störung ist die deutliche Verminderung der Zell­aktivität. Dadurch kann die Produktion von Immunglobulinen so stark beeinträchtigt sein, dass die intravenöse Substitution notwendig wird.

 

Fremde oder eigene Stammzellen

 

Patienten mit schweren Störungen des Immunsystems, Leukämien oder anderen Tumoren und therapierefraktären Autoimmunerkrankungen profitieren häufig von einer hämatopoetischen Stammzelltransplantation (HSCT). Früher wurden dazu ausschließlich Stammzellen aus dem Knochenmark verwendet, heute können sie auch aus dem peripheren Blut beziehungsweise aus der Nabelschnur gewonnen werden. Einer der wichtigsten Faktoren für den Erfolg der Therapie ist nach wie vor der passende Spender.

 

Insbesondere Kinder mit primären Immundefekten sind dringend auf die Stammzelltransplantationen angewiesen, auch wenn kein passender Donor zur Verfügung steht. Bei diesen kann eine autologe Transplantation versucht werden. Allerdings muss vor der Transplantation mithilfe der Gentherapie eine korrekte Kopie des defekten Gens in patienteneigene Stammzellen inte­griert werden. Seit 1999 wurde dieses gentherapeutische Verfahren bereits mehrfach erfolgreich angewendet, doch einzelne Patienten entwickelten Leukämie-ähnliche Störungen. An der Lösung dieses Problems wird gearbeitet, um die Therapie für alle Patienten sicher zu machen. Klinische Studien mit selbst inaktivierenden retro- und lentiviralen Vektoren laufen (»Blood« 2010, DOI: 10.1182/blood-2009-10-250209). Diese Vektoren verringern das Risiko, dass durch die starken Enhancer-Elemente im Vektor potenzielle Onkogene in der Nähe des Integrationsortes aktiviert werden.

 

Unabhängig vom Ausgang der Stammzelltransplantation bedingt die notwendige Konditionierung der Patienten vor der Transplantation mittels Strahlen- und Chemotherapie einen zeitweiligen schweren sekundären Anti­körpermangel. Dieser hält über einige Wochen nach der Transplanta­tion, die sogenannte Erholungsphase, an. Auch in diesem Fall werden in der Regel Immunglobuline als Infektionsprophylaxe gegeben und, wenn das nicht reicht, auftretende Infektionen mit den zur Verfügung stehenden Medikamenten behandelt. /

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