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Vorhofflimmern

Der Thromboembolie vorbeugen

10.04.2012  11:24 Uhr

Von Charlotte Both und Georg Kojda / Etwa 4,2 Millionen Menschen in Europa leiden an Vorhofflimmern. Die Erkrankung verursacht unter anderem Schlaganfälle und andere thromboembolische Ereignisse sowie Herzinsuffizienz. Damit verdoppelt sich das Sterberisiko der Menschen. Eine Verminderung der Mortalität ist bislang nur für die Antikoagulation nachgewiesen. Klinische Studien belegen einen therapeutischen Fortschritt durch neu entwickelte Antikoagulanzien.

Vorhofflimmern (VHF) ist die häufigste Herzrhythmusstörung. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 1 bis 2 Prozent der europäischen Bevölkerung daran leiden, Tendenz steigend. Vorhofflimmern erhöht das Langzeitrisiko für Schlaganfall, Herzinsuffizienz und Gesamtsterblichkeit, insbesondere bei Frauen (1). Eine verheerende Folge ist ein ischämischer Schlaganfall, der in den meisten Fällen (über 90 Prozent) auf der Entstehung eines venösen Thrombus in einer Ausstülpung des linken Vorhofs (Herzohr) beruht. Nach der neuesten aktualisierten Leitlinie der European Society of Cardiology (ESC) geht etwa jeder fünfte Schlaganfall auf VHF zurück (2).

 

Das Schlaganfallrisiko ist bei den verschiedenen Formen des VHF in etwa vergleichbar, allerdings haben Frauen ein etwa 1,6-fach höheres Risiko als Männer (3). Nach Daten einer kürzlich publizierten klinischen Studie sind bei Patienten mit Herzschrittmachern bereits subklinische (nicht symptomatische) Vorhof-Tachyarrhythmien ohne VHF mit einem 2,5-fach erhöhten Schlaganfallrisiko verbunden (4).

Thrombosen bei Vorhofflimmern

 

Die Pathogenese der Thrombose bei Vorhofflimmern ist insgesamt komplex. Venöse Thromben entstehen aufgrund einer geringen Flussgeschwindigkeit des Blutes (Stase) über eine Aktivierung der sekundären Hämostase; sie verursachen vorwiegend periphere Thrombosen und Lungenembolien. Daher ist der Verschluss einer zerebralen Arterie durch einen im linken Vorhof des Herzens entstehenden venösen Thrombus ein Sonderfall (5). Begünstigt wird dies durch den verlangsamten Blutfluss im linken Herzohr bei VHF-Patienten.

 

Häufig liegen zusätzlich kardiovaskuläre Begleiterkrankungen vor, die zum Emboliegeschehen beitragen oder dieses verursachen können. Einige Komorbiditäten gelten als unabhängige Risikofaktoren für das Auftreten eines Schlaganfalls bei antikoagulierten Patienten mit VHF. Hierzu zählen eine transiente ischämische Attacke (TIA) oder ein Schlaganfall in der Anamnese, Lebensalter über 75 Jahre, koronare Herzkrankheit, Rauchen und auch Alkohol­abstinenz (2, 5).

 

Der Nutzen einer antikoagulatorischen Pharmakotherapie zur Reduktion des Schlaganfallrisikos bei Vorhofflimmern ist seit vielen Jahren bekannt (2). Die erste große randomisierte Studie mit 1007 Patienten, die dies bei Patienten mit chronischem VHF untersuchte, verglich den Vitamin-K-Antagonisten (VKA) Warfarin, Acetylsalicylsäure und Placebo. Dabei zeigte sich eine deutliche Überlegenheit von Warfarin, denn bei den Patienten in den beiden anderen Studienarmen traten thromboembolische Ereignisse innerhalb des Beobachtungszeitraums von zwei Jahren viermal häufiger auf.

 

Warfarin wird meist in den USA eingesetzt, in Deutschland vor allem Phenprocoumon, obwohl keine Pro­gnosedaten zur Thromboembolieprophylaxe bei Patienten mit VHF vorliegen. Allerdings werden beide Verbindungen in der aktuellen Leitlinie des ESC genannt (2). Dabei wird insbesondere darauf verwiesen, dass Phenprocoumon wegen der deutlich längeren Halbwertszeit (6,5 Tage) zehn Tage vor elektiven Eingriffen abgesetzt werden muss.

Der Nutzen von Warfarin gegenüber Placebo oder keiner Therapie wurde in weiteren randomisierten Studien mit mehr als 28 000 Patienten bestätigt: Die Reduktion des relativen Risikos eines Schlaganfalls wird mit 62 Prozent beziffert. Warfarin war auch gegenüber Thrombozyten-Aggregationshemmern einschließlich Dipyridamol und Clopidogrel deutlich überlegen (64 versus 22 Prozent Risikoreduktion).

 

Zur Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern sind Thrombozyten- Aggregationshemmer einschließlich Acetyl­salicylsäure den Vitamin-K-Ant­agonisten deutlich unterlegen.

 

Angesichts der verhängnisvollen Folgen eines Schlaganfalls ist es enorm wichtig, die Erkenntnisse der klinischen Forschung zur Thromboembolieprophylaxe möglichst vollständig in die Praxis zu übertragen. Tatsächlich geschieht dies nur unzureichend. In einer kanadischen Studie mit 948 Patienten, die wegen Schlaganfall und Vorhofflimmern ins Krankenhaus kamen, waren nur 37 Prozent überhaupt und nur 12 Prozent adäquat mit Warfarin therapiert (6).

 

Auch eine neuere Studie zeigte erhebliche Versorgungslücken, obwohl die Patienten neben VHF ein hohes Risiko für ein thromboembolisches Ereignis und keine Kontraindikationen für Antikoagulanzien hatten (7). In dieser Studie war nur jeder zehnte Patient bei Aufnahme therapeutisch ausreichend antikoaguliert. Die aufgetretenen Schlaganfälle endeten zu 20 Prozent tödlich und führten bei 60 Prozent der Patienten zu einer Behinderung.

 

Die Gründe für die unzureichende antikoagulatorische Therapie sind vielfältig. Oft werden das höhere Blutungsrisiko bei älteren Menschen, die schlechte Übertragbarkeit der Ergebnisse klinischer Studien in die ambulante Versorgung und die Schwierigkeit der therapeutischen Kontrolle (Monitoring) genannt. Zumindest die ersten beiden Gründe erscheinen als wenig haltbar (5).

 

Bisher wird die therapeutische orale Antikoagulation zur Thromboembolieprophylaxe nur unzureichend genutzt.

 

Vitamin-K-Antagonisten

 

Die Wirkung der Vitamin-K-Antagonisten (VKA) beruht auf einer Hemmung der Untereinheit 1 des Vitamin-K-Epoxid-Reduktase-Multiproteinkomplexes (VCORC1). Dieses mikrosomale Enzymsystem carboxyliert Glutaminsäurereste mithilfe von Vitamin K (Phytomenadion) als Kofaktor (Abbildung 1). Dabei wird Vitamin K oxidiert; die Reduktasehemmung verhindert die Rückbildung des Epoxids. Der Mangel an reduziertem Vitamin K hemmt unspezifisch die hepatische Synthese der Gerinnungsfaktoren II, VII, IX und X sowie der antikoagulatorischen Proteine C und S um etwa 50 Prozent. VKA induzieren einen langsam einsetzenden und lange anhaltenden Mangel an diesen Gerinnungsfaktoren, senken somit die Gerinnungsfähigkeit des Blutes und wirken damit der Entstehung von Thromben entgegen (5).

Tabelle 1: Intrakranielle Blutungen durch Warfarin in Studien mit Warfarin versus neuen Antikoagulanzien

Studie (Arzneistoff) Patientenzahl Warfarin-Gruppe Intrakranielle Blutungen (n) Häufigkeit/Jahr (Prozent)
RE-LY (9) (Dabigatran) 6022 87 0,74
ROCKET-AF (10)* (Rivaroxaban) 7133 133 1,2
ARISTOTLE (11) (Apixaban) 9052 122 0,8

In allen Studien waren Blutungen signifikant häufiger als beim Komparator (p < 0,001). Tabelle aus (8) *) auch andere kritische Blutungen.

Die wichtigste Nebenwirkung der Cumarine sind schwere Blutungen, beispielsweise im Magen-Darm-Trakt, Gehirn und Rückenmark oder in der Netzhaut. In drei großen, kürzlich publizierten Studien mit etwa 22 000 Patienten betrug die Häufigkeit intrakranieller Blutungen unter Warfarin circa 0,8 Prozent pro Jahr; ähnliche Angaben für schwere Blutungen (mehr als 1/1000) finden sich auch in der Fachinformation für Marcumar (Tabelle 1). Dabei zeigte sich, dass die geprüften neuen Antikoagulanzien signifikant weniger Gehirnblutungen auslösten. Eine Reihe von Kontraindikationen (Überemp­findlichkeit, erhöhte Blutungsneigung, Gefäßläsionen, Niereninsuffizienz, Schwangerschaft) sowie das ausgeprägte Interaktionspotenzial limitieren den Einsatz der VKA.

 

Wie wichtig ist das INR-Monitoring?

 

Im Prinzip birgt jede Änderung des Gerinnungsstatus durch Erkrankungen, medizinische Eingriffe oder Arzneistoffe teilweise letale Risiken (Abbildung 2).

Daher und wegen des unspezifischen Eingriffs in das Gerinnungssystem sowie den Interaktionen mit Nahrungs- und Arzneimitteln muss das therapeutische Ausmaß der Antikoagulation mit VKA durch das »International Normalized Ratio« (INR) eingestellt und kontrolliert werden. Dies ist ein standardisierter Messwert zur Erfassung der Verlängerung der Prothrombinzeit. Das medizinisch beste Verhältnis zwischen Schlaganfallrisiko und Blutungsneigung wird bei Zielwerten zwischen 2 und 3 erreicht, denn jede Schwankung des INR außerhalb dieses Bereichs birgt ein erhöhtes Risiko von Blutungen (INR über 3) oder Schlaganfällen (INR unter 2).

 

Einer Metaanalyse zufolge gibt es bei Patienten mit VHF einen weiten Bereich der INR-Einstellung. Diese jedoch hängt direkt mit dem Risiko für thromboembolische und schwere hämorrhagische Ereignisse zusammen (8). Kriterium für die Qualität der INR-Einstellung ist der prozentuale Anteil der Zeit, in der der INR innerhalb des empfohlenen Bereichs liegt (Time in Therapeutic Range, TTR). Bei den in der Metaanalyse eingeschlossenen Studien schwankte die TTR zwischen 29 und 75 Prozent. Die Analyse ergab, dass bei einem TTR-Bereich von 70 bis 80 Prozent das geringste Risiko für Ereignisse besteht (Abbildung 3).

Eine weitere Studie belegt, dass die Qualität der INR-Einstellung auch vom Land abhängt (12). Es handelt sich dabei um eine Post-hoc-Analyse der RE-LY-Studie (»Randomized Evaluation of Long-Term Anticoagulation Therapy«, ClinicalTrials.gov-Nummer NCT00262600), in die 18 113 VHF-Patienten aus 44 Ländern eingeschlossen waren. Danach liegt die TTR in Taiwan (44 Prozent) oder Indien (49 Prozent) am Ende der Skala, während in Deutschland eine deutlich höhere, aber immer noch suboptimale mittlere TTR von 67 Prozent gemessen wurde. Dagegen erreichten beispielsweise Kanada, Italien und Schweden eine mittlere TTR über 70 Prozent und damit den unteren Rand des empfohlenen Bereichs.

 

Die Ursachen der weltweit unzureichenden INR-Einstellung sind vielfältig. Im Wesentlichen sind Veränderungen der Ernährung mit deutlich höherer Aufnahme von Vitamin K, Arzneimittelinteraktionen und Non-Compliance zu nennen. So könnte die einseitige Aufnahme von Nahrungsmitteln mit hohem Gehalt an Vitamin K (mehr als 100 μg/100 g), zum Beispiel Spinat, Grünkohl, Zwiebeln oder Petersilie, den INR senken. Daher sollten die Patienten eine, wenn auch nur vorübergehende, einseitige Ernährung wie Saft- oder Gemüsetage meiden und eine ausgewogene (fettreduzierte) Mischkost bevorzugen, wie sie auch für die Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen empfohlen wird.

 

Auch Arzneimittelinteraktionen können die Therapie mit Antikoagulanzien beeinträchtigen. Arzneistoffe, die beispielsweise die VKA aus der Plasmaeiweißbindung verdrängen oder das für deren Verstoffwechselung verantwortliche CYP3A4-Enzym beeinflussen, können die Antikoagulation stören.

 

Nahrungsmittelinteraktionen (Veränderungen der Ernährungsgewohnheiten mit deutlich höherer Aufnahme von Vitamin K), Arzneimittel­interaktionen (Selbstmedikation, Polypharmakotherapie), Einnahmefehler (Compliance) und Erkrankungen, zum Beispiel kognitive Einschränkungen, können die therapeutische Wirkung von Antikoagulanzien verändern.

 

Neue Antikoagulanzien

 

In den letzten Jahren wurde viel Aufwand in die Entwicklung »idealer« Antikoagulanzien gesteckt, die neben einem verbesserten Wirksamkeits- und Sicherheitsprofil keine regelmäßige therapeutische Kontrolle benötigen. Drei neue Substanzen sind zur Thromboembolieprophylaxe bei Patienten nach Knie- und Hüftgelenksersatz-Operationen zugelassen (Tabelle 2): der Thrombin-Inhibitor Dabigatran (Pradaxa®) und die Faktor-Xa-Inhibitoren Rivaroxaban (Xarelto®) und Apixaban (Eliquis®). Dabigatran und Rivaroxaban sind bereits zur Prävention von Schlaganfall und systemischer Embolie bei Patienten mit VHF zugelassen.

Tabelle 2: Pharmakodynamische und -kinetische Eigenschaften der neuen oralen Antikoagulanzien

Dabigatran (Pradaxa®) Rivaroxaban (Xarelto®) Apixaban (Eliquis®)
Prodrug ja nein nein
Wirkmechanismus direkte Thrombin- Hemmung direkte Faktor-Xa- Hemmung direkte Faktor-Xa- Hemmung
perorale Dosierung (mg/Tag) 2 x 110 und 2 x 150 1 x 20 (15) 2 x 5 (2,5)
Bioverfügbarkeit (Prozent) 6,5 80 bis 100 50
Halbwertszeit (h) 14 bis 17 7 bis 11 8 bis 14
CYP-450-Substrat P-gp-Substrat nein ja ja ja ja ja
Eliminierung (Prozent) Faezes: 6 renal: 85 Faezes: 33 renal: 66 Faezes: 55 renal: 25
Interaktionen Protonenpumpen-Inhibitoren P-gp-Modulatoren P-gp-Modulatoren CYP-Modulatoren P-gp-Modulatoren CYP-Modulatoren

Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion (Kreatinin-Clearance 30 bis 49 ml/min) erhalten Rivaroxaban 15 mg/Tag. Liegen zwei der folgenden Kriterien (Alter über 80 Jahre, Gewicht unter 60 kg, Serumkreatinin über 1,5 mg) vor, wird Apixaban mit 2,5 mg/Tag dosiert.

Weitere Antikoagulanzien in der Entwicklung sind beispielsweise das ultraniedermolekulare Heparin Semuloparin, die direkten Faktor-Xa-Inhibitoren Flovagatran und Pegmusirudin, der direkte Faktor-XIa-Inhibitor Clavatadin, der direkte Faktor-IXa-Inhibitor RB-006, der Faktor-VIIIa-Inhibitor TB-402, der Faktor-Va-Inhibitor Drotrecogin und der duale Faktor-IIa/Xa-Inhibitor Tanogitran.

 

Pharmakologische Eigenschaften

 

Die drei neuen oralen Antikoagulanzien unterscheiden sich von den VKA vor allem darin, dass sie die Aktivität von Gerinnungsfaktoren selektiv hemmen. Die Substanzen erreichen maximale Wirkspiegel schon nach etwa zwei Stunden und verlieren ihre Wirkung auch relativ schnell (Tabelle 2). Somit sind sie gut steuerbar, und ein regelmäßiges INR-Monitoring ist nicht notwendig.

 

Als Vorreiter einer neuen Generation von Antikoagulanzien wurde 2004 Ximelagatran zugelassen. Das mit dem Blutegelwirkstoff Hirudin vergleichbare Wirkprinzip hatte einen vergleichbaren therapeutischen Nutzen wie Warfarin bei weniger Blutungskomplikationen (5); lebertoxische Effekte führten 2006 jedoch zur Marktrücknahme. Die Nachfolgesubstanz Dabigatran ist ebenfalls ein direkter Thrombin-Inhibitor und wird als Prodrug (Etexilat) verabreicht. Nach enteraler Resorption erfolgt eine rasche Spaltung durch Serum-Esterasen. Dabigatran wird überwiegend renal eliminiert; eine Dosisanpassung ist bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion (Kreatinin-Clearance 30 bis 49 ml/min) daher essenziell (siehe Kapitel zur klinischen Wirksamkeit).

 

Die Faktor-Xa-Inhibitoren Rivaroxaban und Apixaban haben eine deutlich höhere Bioverfügbarkeit. Beide Substanzen werden renal und hepatisch verstoffwechselt, unter anderem über das für Wechselwirkungen sehr relevante CYP3A4-Enzym. Dabei hat Riva­roxaban die kürzeste Halbwertszeit (Tabelle 2). Alle neuen oralen Antikoagulanzien sind Substrate von P-Glykoprotein (P-gp). Schwankende Plasmaspiegel können daher durch Interaktionen mit Arzneistoffen, zum Beispiel Amiodaron, Verapamil und Chinidin, an diesem Effluxtransporter entstehen.

 

Klinische Wirksamkeit

 

Drei große randomisierte Phase-III-Studien (Tabelle 3) zur Beurteilung der Wirksamkeit und Sicherheit der neuen Antikoagulanzien im Vergleich zum »Goldstandard« Warfarin wurden publiziert (große Studien mit Phenprocoumon als Vergleichsmedikation liegen nicht vor). Gemeinsam war der primäre Endpunkt, der sich aus der Summe von Schlaganfällen und systemischen Embolien ergab. Als Sicherheitsendpunkte wurden schwere Blutungen definiert, vor allem intrakranielle Blutungen. Es handelt sich um Nicht-Unterlegenheitsstudien, die darauf abzielen, ob die gewählte Intervention (neues Antikoagulanz) einem etablierten Präparat (Warfarin) »nicht unterlegen« ist.

Tabelle 3: Vergleich der Zulassungsstudien zur Schlaganfallprophylaxe bei Patienten mit Vorhofflimmern

Studie RE-LY ROCKET-AF ARISTOTLE
Verum/Vergleich Dabigatran/Warfarin 2 x 110 und 2 x 150 mg/Tag Rivaroxaban/Warfarin 1 x 20 (15) mg/Tag Apixaban/Warfarin 2 x 5 (2,5) mg/Tag
Patienten (n) 18 113 14 264 18 201
Design offen mit verblindeter Evaluation Nichtunterlegenheit doppelblind*, doppel- dummy** Nichtunterlegenheit doppelblind*, doppel- dummy** Nichtunterlegenheit
Schlaganfallrisiko (CHADS2-Score) 2,1 3,5 2,1
Therapietreue bei Warfarin (TTR in Prozent) 64 55 62
primärer Wirksamkeits­endpunkt Schlaganfall und systemische Embolie
Ergebnisse 2 x 110 mg/Tag: Nichtunter­legenheit 2 x 150 mg/Tag: Überlegenheit Nichtunterlegenheit Überlegenheit
primärer Sicherheitsendpunkt schwere Blutung Kombination von schweren und von klinisch relevanten, nicht schweren Blutungen schwere Blutung
Ergebnisse 2 x 110 mg/Tag: Überlegenheit 2 x 150 mg/Tag: Nichtunterlegenheit Nichtunterlegenheit Überlegenheit

*) Weder Patienten noch Studienärzte kennen die jeweilige Gruppenzugehörigkeit (Kontroll-, Interventionsgruppe). **) Patienten werden mit einer Kombination aus Gerinnungshemmer und komplementärem Placebo behandelt.

Die RE-LY-Studie (9) wurde mit offenem Studiendesign mit verblindeter Evaluation durchgeführt; das bedeutet, dass die Prüfärzte die Zuordnung zur Intervention kannten, die Evaluierung für die Behandlungsgruppen aber verblindet stattfand. Es wurden zwei Dosierungen von Dabigatran untersucht (dreiarmige Studie). In der ROCKET-AF- (10) und der ARISTOTLE-Studie (11) wurden aufwendigere Studiendesigns gewählt (Tabelle 3), jedoch nur jeweils eine Dosierung geprüft. Trotz der vergleichsweise kurzen Halbwertszeit wurde Rivaroxaban nur einmal täglich gegeben.

 

Die RE-LY-Studie zeigte eine signifikante Überlegenheit der zweimal täglichen Gabe von 150 mg Dabigatran bei der Reduktion von Schlaganfällen und systemischen Embolien im Vergleich zu Warfarin (9). Dabei war die therapeutische Sicherheit vergleichbar. Die geringere Dosierung (zweimal täglich 110 mg) verhinderte zwar nicht signifikant mehr Schlaganfälle als Warfarin (Nichtunterlegenheit), aber das Blutungsrisiko war geringer. Intrakranielle Blutungen traten bei beiden Dosierungen seltener auf (Tabelle 1). Ein Rote-Hand-Brief vom 27. Oktober 2011 weist jedoch darauf hin, dass Todesfälle auftreten können, wenn bei nachlassender Nierenfunktion die renale Ausscheidung von Dabigatran stark abnimmt. So wird empfohlen, bei älteren Patienten (über 75 Jahre) oder bei bestehender Nierenfunktionseinschränkung jährliche Kontrollen durchzuführen und gegebenenfalls die Arzneimitteldosis zu reduzieren. Häufige unerwünschte Wirkungen wie dyspeptische Beschwerden und gastrointestinale Blutungen beruhen vermutlich auf der Weinsäure-haltigen galenischen Zubereitung (5).

Die ROCKET-AF-Studie sah eine Dosierung von 20 mg Rivaroxaban vor (15 mg bei eingeschränkter Nierenfunktion, Kreatinin-Clearance 30 bis 49 mg/ml). Wesentliche Unterschiede zu RE-LY und ARISTOTLE bestanden in der einmal täglichen Gabe und dem vergleichsweise hohen Schlaganfallrisiko der Studienpopulation. Letztere kann anhand des CHADS2-Score ermittelt werden, einem Punktwert zur Einschätzung des Schlaganfallrisikos bei Patienten mit VHF (2, 5). Ein weiterer wichtiger Unterschied betrifft die klinische Effektivität, denn im Gegensatz zu Dabigatran und Apixaban war Rivaroxaban nach der Intention-to-treat-Analyse nicht signifikant wirksamer als Warfarin (Tabelle 3) (10). Die Rate an schweren Blutungen war nicht signifikant erniedrigt, wobei intrakranielle Blutungen seltener auf­traten.

 

Diese Unterschiede haben die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) 2011 zu ernsthaften Bedenken veranlasst (13). So wird angemerkt, dass die kurze Halbwertszeit von Rivaroxaban die einmal tägliche Gabe nicht unterstützt und dass die Nichtunterlegenheit bei vergleichsweise geringer Therapietreue gegenüber Warfarin erzielt wurde (TTR von 55 Prozent). Daher könnte sich Rivaroxaban gegenüber Dabigatran und Warfarin als unterlegen erweisen, insbesondere bei guter Therapietreue zu Warfarin, die ja die Effektivität dieser Standardtherapie verbessert. Weiterhin merken die FDA-Experten an, dass den Patienten bei Behandlung mit Rivaroxaban möglicherweise eine wirksamere Therapie vorenthalten bleibt (13).

 

Apixaban ist das einzige neue Antikoagulans, dessen Zulassung bei Vorhofflimmern noch aussteht. Untersucht wurde es in der ARISTOTLE-Studie an 18 201 Patienten (11). Nach zweimal täglicher Gabe von 5 mg oder 2,5 mg war Apixaban dem Warfarin sowohl beim primären Wirksamkeits- als auch primären Sicherheitsendpunkt überlegen. Dabei wurden Blutungen, einschließlich intrakranieller Blutungen, sowie die Gesamtmortalität signifikant reduziert.

 

Chancen und Grenzen

 

Zusammenfassend kann man feststellen, dass die neuen Antikoagulanzien wegen des geringeren Auftretens

 

von Schlaganfällen und systemischen Embolien,

von allen Blutungsereignissen sowie

von schweren, zum Beispiel intrakraniellen Blutungen

gegenüber dem Standard Warfarin eine klinisch relevante Verbesserung der Thromboembolieprophylaxe bei Vorhofflimmern darstellen (8). Auf­grund der direkten Hemmung der Gerinnungsfaktoren tritt die antikoagulatorische Wirkung deutlich schneller ein als bei Gabe eines Vitamin-K-Antagonisten und klingt auch schneller wieder ab, was die Therapie besser steuerbar macht.

Der Wegfall der INR-Kontrolle wird insgesamt als Vorteil angesehen. Dies kann jedoch nachteilig sein, beispielsweise wenn es durch Arzneimittelinteraktionen sowohl am CYP-System, zum Beispiel durch Azol-Antimykotika oder HIV-Protease-Inhibitoren, als auch am P-Glykoprotein, zum Beispiel durch Amiodaron, Verapamil oder Chinidin, und/oder durch Abnahme der Nierenfunktion zur Überdosierung kommt (siehe Rote-Hand-Brief zu Dabigatran). Ebenfalls zu bedenken sind klinische Situationen, die mit einer erhöhten Blutungsneigung einhergehen, etwa die gleichzeitige Therapie mit Thrombo­zyten-Aggregationshemmern (ASS, Clopidogrel).

 

Zudem ist für keinen der neuen Arzneistoffe ein Antidot verfügbar. Allerdings klingt ihre antikoagulatorische Wirkung relativ schnell ab.

 

Auch wenn keine direkten Vergleichsstudien vorliegen und ein indirekter Vergleich immer schwierig ist, lässt die Datenlage den Schluss zu, dass Rivaroxaban bislang als Mittel der letzten Wahl (nach VKA sowie Dabigatran) anzusehen ist, während Dabigatran und Apixaban in etwa vergleichbar sind. Aber auch diese beiden Arzneistoffe bleiben bei guter Therapietreue gegenüber VKA Reservetherapeutika, die bis auf Weiteres nur bei Unverträglichkeiten oder Kontraindikationen gegenüber der Standardtherapie eingesetzt werden sollten.

 

Geeignet sind die Neuerungen bei Patienten, die eine unzureichende INR-Kontrolle oder Risikofaktoren hierfür haben. Dies sind beispielsweise wiederholte Hospitalisierungen, Polypharmakotherapie, Tumorerkrankung, Demenz, bipolare Depression, chronische Lebererkrankung, weibliches Geschlecht und Missbrauch von Alkohol und anderen Drogen (5).

 

Fazit

 

Die neuen Antikoagulanzien Dabi­gatran und Apixaban können throm­boemboli­sche Ereignisse infolge Vorhofflimmerns im Mittel klinisch relevant besser verhindern als die Standardtherapie mit Vitamin-K-Antagonisten; Rivaroxaban war den VKA nicht unterlegen. Apotheker können dazu beitragen zu erkennen, bei welchen Patienten der INR-Wert unzureichend kontrolliert ist; diese könnten sich für eine Therapie mit den neuen Reserve­therapeutika eignen. Zudem können Apotheker mitwirken, die Qualität der INR-Kontrolle und damit die Effizienz der Standardtherapie zu verbessern, was ebenfalls kostengünstig ist. Schließlich sollten Apotheker bei jedem antikoagulierten Patienten nach Arznei­mittelinteraktionen fahnden und dies auch bei der Selbstmedikation berücksichtigen, um thromboemboli­sche Ereignisse oder schwerwiegende Blutungen zu vermeiden. /

Literatur

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Erklärung zu Interessenkonflikten:

 

Georg Kojda erhielt Forschungsgelder (1) sowie dienstlich genehmigte Beratungs- (2) und Referentenhonorare (3) von folgenden Arzneimittelherstellern: Actavis (1), Boehringer (3), Mundipharma (3), Schwarz Pharma (1), Pfizer (1, 2), Shire (1)

Die Autoren

Georg Kojda studierte Pharmazie in Bonn und Medizin in Köln und wurde 1990 im Fachgebiet Pharmakologie promoviert. 1997 folgten Habilitation und Venia Legendi sowie die Anerkennung zum Fachpharmakologen und zum Fachapotheker für Arzneimittelinformation. 1996 und 1998 verbrachte Kojda Forschungsaufenthalte an der Cardiology Division, Emory University, Atlanta (USA). Seit 2003 ist er Professor an der Medizinischen Fakultät des Universitätsklinikums Düsseldorf, seit 2005 Fortbildungsbeauftragter des Apothekerverbands Köln und der Apothekerkammer Nordrhein und seit 2007 Herausgeber des Fortbildungstelegramm Pharmazie.

 

Charlotte Both studierte Pharmazie von 2003 bis 2008 in Bonn. Ihr Praktisches Jahr absolvierte sie im Institut für Pharmakologie in Bonn und in einer Apotheke in Berlin. Im Oktober 2009 erhielt die Diplom-Pharmazeutin die Approbation zur Apothekerin. Seit 2010 promoviert sie unter der Leitung von Professor Dr. Georg Kojda im Institut für Pharmakologie und Klinische Pharmakologie in Düsseldorf. Seit 2011 bildet sie sich zur Fachapothekerin für Arzneimittelinformation weiter. Den Schwerpunkt ihrer Doktorarbeit bilden Untersuchungen zum Einfluss körperlichen Trainings auf den Erhalt kognitiver Funktionen.

 

Korrespondenzautor:

Professor Dr. Georg Kojda, Institut für Pharmakologie und Klinische Pharmakologie, Universitätsklinikum Düsseldorf, Moorenstraße 5, 40225 Düsseldorf E-Mail: kojda@uni-duesseldorf.de

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