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Heroinsubstitution

Schneewittchen in der Drogenambulanz

08.04.2008  17:38 Uhr

Heroinsubstitution

Schneewittchen in der Drogenambulanz

Von Daniela Biermann, Hamburg

 

In Hamburg versuchen 70 Süchtige, ihr Leben in den Griff zu kriegen - mithilfe von Heroin. Ein Tag in einer von bundesweit sieben Modellambulanzen.

 

Noch ist es dunkel draußen. Die Stadt scheint sich noch einmal umdrehen zu wollen, bevor die Rushhour sie aus ihrem Schlaf reißt. Auch Otto (Name geändert) muss zur Arbeit. Anders als bei den meisten Pendlern schafft es der aufputschende Geruch von frischem Coffee-to-go nicht, ihn auf den täglichen Arbeitskampf vorzubereiten. Er braucht etwas anderes. Deswegen ist er hier.

 

Mit der Zeitung unter dem Arm betritt er den weiß schimmernden Containerbau am Högerdamm, versteckt hinter Bäumen und Plakatwänden. »Moin Svenja«, grüßt er die junge Frau am Empfang. Sie reicht ihm ein Instrument, das auf den ersten Blick aussieht wie eine Harmonika. Otto weiß, was er zu tun hat. Er pustet. Kräftig und lang. Es ist kein Ton zu hören, aber das Ergebnis ist wie immer. Null Promille. Nur wer nüchtern ist, bekommt ein grünes Zettelchen mit einer Nummer. Otto setzt sich an einen der Tische, direkt gegenüber der Anzeigetafel, und fängt das Kreuzworträtsel auf der letzten Zeitungsseite an. Weit kommt er nicht, denn schon bald wird seine Nummer angezeigt. Mit einem Schwung, der an seine längst vergangene Jugend erinnert, springt er auf. Surrend öffnet sich die Tür zum Injektionsraum. Statt Coffein gibt es hier Heroin.

 

Rein in die Routine

 

Otto ist einer von 70 Hamburger Drogenabhängigen, die auch nach Abschluss des Modellprojekts zur Heroinvergabe (siehe dazu Kasten) weiterhin ihren Schuss erhalten. Mit gutem Grund, findet Dr. Albrecht Hübner, als ärztlicher Betreuer seit Anfang des Projekts dabei. Denn die Erfolge sind beachtlich. Einige haben den Absprung von der Nadel ganz geschafft. Viele haben Arbeit gefunden. Alle haben mittlerweile einen geregelten Tagesablauf. Zwei- bis dreimal täglich, 365 Tage im Jahr kommen sie zur Drogenambulanz - so wie Schneewittchen (Name geändert).

Die Heroinstudie

Am Modellprojekt zur Heroinsubstitution nahmen von 2002 bis 2006 bundesweit rund 1000 Schwerstabhängige teil. Bei ihnen waren andere Drogen-entzugsprogramme inklusive der Methadonsubstitution fehlgeschlagen. Durch die tägliche Gabe von reinem Heroin als Medikament profitierten sie eindeutig mehr als die Vergleichsgruppe mit Methadonsubstituierten. Die Heroinbehandlung ermöglicht es den Suchtkranken in erster Linie, wieder ein geregeltes Leben (fester Wohnsitz, Arbeit) frei von Beschaffungskriminalität oder Prostitution zu führen. Langfristig wird Drogenfreiheit angestrebt, was einigen dank des Projekts gelang. Für die anderen Studienteilnehmer gilt momentan eine Zwischenregelung. Trotz der positiven Studienergebnisse ist das Projekt politisch umstritten. Ob und wie es weitergeht, ist derzeit unklar. In München und Hamburg läuft die Übergangsfrist Mitte des Jahres ab.

Sie fällt sofort auf, als sie den mittlerweile gut gefüllten Behandlungsraum betritt. Sie ist Anfang Zwanzig. Ungefähr so viele Jahre sind viele der anderen Patienten schon süchtig. Träfe man sie in der U-Bahn, würde man sie schlicht für ein bisschen blass und müde halten. Ansonsten sieht sie aus wie all die anderen hübschen Mädchen mit schlanken Beinen in Röhrenjeans. Sie holt ihr Tablett mit fertig aufgezogener Spritze, Abbindegurt und Tupfer ab und legt sich auf eine der Pritschen. Die Hose zieht sie bis zu den Knien herunter, setzt sich ihre Spritze in die Oberschenkelvene und drückt auf den Kolben. Sie schließt die Augen und wartet. Als das Heroin anflutet, entspannen sich ihre Gesichtszüge und sie lehnt sich zurück. Ihre verkrampften Finger sinken herab, als ob ihr ein vergifteter Apfel aus der Hand rollt. Die Welt um sie herum, der karge Raum, die anderen Patienten, scheinen nicht mehr zu existieren. Innen euphorisch, außen leblos.

 

»Guckst du bitte mal her?«, fordert Dr. Hübner sie auf. Mühsam schlägt sie die Augen auf. Alles in Ordnung. Heroin lässt die Atmung abflachen. Oder gar stillstehen. Daher hat das Personal immer ein Auge auf die Patienten. Die meisten nicken weg, sind sediert durch die Droge. Andere wie Emilio (Name geändert), der unter einer Psychose leidet, wirken dagegen wie ein Duracell-Häschen, das gerade eine neue Batterie bekommen hat. Er tigert quer durch den Raum, trommelt auf den Tisch und rüttelt am Kanister mit den leeren Spritzen, bis das Personal ihn bremst. Singend marschiert er zurück zum Warteraum, der mittlerweile einem Bienenstock gleicht. Die Stimmung ist gelöst. Bei den einen wirkt das Heroin bereits, die anderen sind entspannt in der Gewissheit, auch gleich ihre Dosis zu bekommen.

 

»Junkie zu sein ist ein 24-Stunden-Job«, sagt Dr. Hübner. Fast jeder Süchtige muss kriminell werden, um an Drogen zu kommen. Geld besorgen, Dealer suchen, Drogen spritzen, schlafen und wieder von vorn. »Das Projekt gibt ihnen die Chance, sich von der Szene zu lösen und ein einigermaßen normales Leben zu führen.«

 

Hier bekommen sie nicht nur Heroin, sondern auch psychologische und medizinische Betreuung sowie konkrete Lebenshilfe. Wie reagiere ich auf den Brief vom Gericht? Wie finde ich einen Job? Was sind meine Interessen? Die meisten werden in ihrer Jugend abhängig. Ihnen bleibt keine Zeit, Hobbys zu entwickeln. Jetzt ist oft zu viel Zeit da.

 

Niemals aufgeben

 

Vera (Name geändert) hilft jetzt im Kulturladen mit. Früher hat sie selbst in der Drogenberatung gearbeitet. Obwohl sie süchtig war. »Niemand hat etwas mitgekriegt«, sagt sie. Jahrelang konnte sie ihre Sucht verstecken. Hat gearbeitet und ihre Tochter versorgt, die sie im Alter von 19 Jahren bekommen hat. Stolz schwingt in ihrer rauchigen Stimme mit. Auf den ersten Blick sieht ihr Gesicht verbraucht und müde aus. Wer aufmerksam zuhört, erkennt die Würde dieser Frau, versteckt hinter Falten und Augenringen. Obwohl sie seit mehr als 20 Jahren süchtig ist, klingt es glaubhaft, wenn sie sagt: »Man muss seine Grenzen kennen.« Mit 28 hat sie sich das erste Mal Heroin gespritzt. Coabhängig wegen ihres damaligen Partners. Die jahrelange Behandlung mit Methadon hat ihr nicht geholfen (siehe dazu Kasten). »Man fühlt sich anders, ist oft nicht arbeitsfähig.« Der Beikonsum anderer Drogen war hoch. Im Heroinprojekt hat sie ihn innerhalb von drei Monaten in den Griff gekriegt.

Warum Heroin statt

Veras Geschichte zeigt, wie erfolgreich das Projekt ist. Trotzdem wissen Patienten und Personal nicht, wie es weitergehen wird. Heroin hat noch nicht den Status als Arzneimittel wie Methadon. »Wir hoffen, dass wir weitermachen können«, sagt Dr. Hübner. »Wir würden gern noch mehr Patienten aufnehmen.« Täglich fragen andere Drogenambulanzen an. Zurzeit dürfen sie jedoch nur die ehemaligen Studienteilnehmer versorgen. Aber jeder hier ist optimistisch. Von Kampfmüdigkeit auch nach fünf Jahren noch keine Spur. Im Gegenteil: Dank des Projekts sind sie wieder in der Lage zu kämpfen. Sie leben nach dem Zitat von Hermann Hesse, das im Warteraum hängt: »Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden.«

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