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Kinasehemmer

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27.03.2018  11:49 Uhr

Von Sven Siebenand / Mehr als 500 Proteinkinasen sind beim Menschen bekannt. Ganz so umfangreich ist das Sortiment an ­Kinasehemmern nicht, aber immerhin sind etwa 40 Wirkstoffe in Deutschland zugelassen. Der Titelbeitrag gibt einen Überblick über das Angebot und schafft Ordnung im »Inibe-Wirrwarr«.

Aufgabe von Proteinkinasen ist es, andere Proteine zu modifizieren, indem sie Phosphatgruppen übertragen. Ein anderer Name für Kinasen lautet daher auch Phosphotransferasen. Infolge der Phosphorylierung verändern sich die biologischen Eigenschaften der Proteine. Die Weiterleitung von Signalen, das Zellwachstum und die Gefäßneubildung können damit entscheidend gesteuert werden. Kein Wunder also, dass eine unkontrollierte Aktivierung von ­Kinasen zu Krebs führen kann. Die meisten, aber nicht alle Kinasehemmer kommen daher bei Tumoren zum Einsatz.

Schon seit den 1950er-Jahren ist der Mechanismus der Proteinphosphorylierung bekannt. Die Forschung an und mit Kinasen nahm jedoch erst in den 1970er-Jahren so richtig an Fahrt auf, als klar wurde, welch wichtige Funktionen für zelluläre Prozesse diese Enzyme im Körper haben. Von Bedeutung war auch die Entdeckung, dass ein Protein des krebsauslösenden Rous-Sarkom-Virus Kinaseaktivität hat und in seiner Aminosäuresequenz einer menschlichen Kinase ähnelt. Immer mehr Forschergruppen befassten sich zunächst mit den Enzymen und später mit der Suche nach Kinase-Inhibitoren. Diese Suche ist längst noch nicht beendet.

 

Die meisten der heute zugelassenen Wirkstoffe richten sich gegen Tyrosin-Kinasen. Da sie inhibitorisch am Enzym wirken, hat sich die Abkürzung TKI für Tyrosin-Kinase-Inhibitoren etabliert. Fast alle Arzneistoffe sind peroral bioverfügbar.

 

Erste Kinasehemmer bei CML

 

Im Jahr 2001 kam der erste Kinasehemmer in Deutschland auf den Markt: Imatinib (Glivec® und Generika). Die Markteinführung bedeutete einen Durchbruch in der Therapie der chronischen myeloischen Leukämie (CML). Während neu diagnostizierte Patienten zuvor eine sehr schlechte Prognose hatten und ihre Lebenserwartung auf wenige Jahre beschränkt war, ist die Erkrankung heute kein Todesurteil mehr. Die Lebenserwartung nähert sich jener der Allgemeinbevölkerung an.

 

Wie ist das möglich? Fast alle CML-Patienten weisen ein sogenanntes Phi­ladelphia-Chromosom auf. Dabei handelt es sich um eine Verkürzung von Chromosom 22, die durch Austausch der Enden der Chromosomen 9 und 22 entsteht. Benannt ist es nach seinem Entdeckungsort in den USA. Durch Verbindung der beiden Genfragmente entsteht das Hybridgen Bcr-Abl, das für das dauerhaft aktivierte Fusionsprotein BCR-ABL codiert. Das normale ABL-Protein ist eine Kinase, die Funktionen in der Signaltransduktion übernimmt. Durch den zusätzlichen BCR-Teil wird sie dermaßen verändert, dass sie nicht mehr reguliert werden kann, sondern ständig aktiv bleibt.

 

Die erhöhte Tyrosinkinase-Aktivität führt zur chronischen Phase der CML. Imatinib hemmt spezifisch das für die CML charakteristische Fusionsprotein BCR-ABL. Merkt man sich den Welttag der CML, so kann man sich leicht auch ins Gedächtnis rufen, welche Chromosomen an der Erkrankung beteiligt sind: Es ist der 22. 9.

Tabelle 1: Kinasehemmer gegen hämatologische Tumoren (in Deutschland auf dem Markt)

Wirkstoff Handelsname wichtige Zielstruktur Indikation
Imatinib Glivec und Generika Multikinasehemmer, unter anderem BCR-ABL CML, ALL, myelodysplastische/ myeloproliferative Erkrankungen, hypereosinophiles Syndrom und/oder chronische eosinophile Leukämie, GIST, ­Dermatofibrosarcoma protuberans
Dasatinib Sprycel BCR-ABL CML, ALL
Nilotinib Tasigna BCR-ABL CML
Bosutinib Bosulif BCR-ABL CML
Ponatinib Iclusig BCR-ABL CML, ALL
Ibrutinib Imbruvica Bruton-Tyrosinkinase CLL, Mantelzell-Lymphom, Morbus Waldenström
Idelalisib Zydelig Phosphatidylinositol-3- Kinase CLL und follikuläres Lymphom
Midostaurin Rydapt Multikinasehemmer, unter anderem FLT3 und cKIT AML, systemische Mastozytose

Vier weitere Kinasehemmer, die ebenfalls BCR-ABL zum Ziel haben, folgten einige Jahre später auf Imat­inib. Das sind Dasatinib (Sprycel®), Nilot­inib (Tasigna®), Bosutinib (Bosulif®) und Ponatinib (Iclusig®). Apotheker sollten die Patienten darüber informieren, dass sich eine gute Therapietreue auszahlt. Haben die Patienten über mehrere Jahre regelmäßig ihren Kinasehemmer eingenommen, ist eine molekulare Remission möglich. Die Erkrankung ist dann im Blut des Patienten nicht mehr nachweisbar. Hält dies über einen gewissen Zeitraum an, ist es sogar denkbar, den Kinasehemmer abzusetzen. In diesem Fall sollten die Patienten engmaschig überwacht werden, um bei ­einem erneuten Aufflammen der CML möglichst schnell wieder medikamentös reagieren zu können.

 

Das Philadelphia-Chromosom ist übrigens auch bei einigen Patienten mit akuter lymphatischer Leukämie (ALL) zu finden. Ihnen darf der Arzt die Wirkstoffe Imatinib, Dasatinib und Ponat­inib auch zur ALL-Behandlung verordnen. Imatinib hat als einziger Stoff dieser Klasse noch weitere Zulassungen (Tabelle 1).

 

Zwei Optionen bei CLL

 

Zwei andere Kinasehemmer sind zur Behandlung von Patienten mit chronischer lymphatischer Leukämie (CLL) zugelassen: Idelalisib (Zydelig®) und Ibrut­inib (Imbruvica®) (Tabelle 1).

Idelalisib hemmt die Phosphatidy­l­inositol-3-Kinase p110δ (PI3Kδ), die bei B-Zell-Malignomen hyperaktiv ist und eine zentrale Rolle in verschiedenen ­Signaltransduktionswegen spielt, die unter anderem Proliferation und Überleben maligner Zellen in Lymphgeweben und Knochenmark vermitteln. Der Kinasehemmer wird in der Regel mit einem CD20-Antikörper wie Rituximab oder Ofatumumab kombiniert. Beim follikulären Lymphom ist auch eine Idelalisib-Monotherapie möglich.

 

Die Behandlung mit Idelalisib sollte bei Patienten mit Verdacht auf eine akute systemische bakterielle, fungale oder virale Infektion nicht begonnen werden. Unter Idelalisib sind schwere und tödlich verlaufende Infektionen aufgetreten, darunter opportunistische Infektionen wie Pneumocystis-­jirovecii-Pneumonie und Infektionen mit dem Cytomegalievirus. Die Patienten sollten während der gesamten ­Behandlung auf Anzeichen von Atemwegserkrankungen überwacht und ­angewiesen werden, neu auftretende Atemwegssymptome unverzüglich dem Arzt zu melden.

 

Ibrutinib inhibiert die Bruton-Tyrosinkinase. Das Enzym ist Teil einer Signalkaskade, die nach Aktivierung des B-Zell-Rezeptors abläuft. Wird die ­Kinase blockiert, behindert dies die unkon­trollierte Vermehrung der B-Lymphozyten. Bei CLL-Patienten ist eine Monotherapie oder in bestimmten Fällen auch eine Kombination mit Rituximab und Bendamustin üblich. Weitere Zulassungen für eine Ibru­t­inib-Monotherapie bestehen beim Mantelzell-Lymphom und bei Morbus Waldenström, einer weiteren Lymphom-Erkrankung. Unter der Therapie besteht das Risiko einer Hepatitis-B-Virus-Reaktivierung.

 

Im Einsatz bei AML und Mastozytose

 

Ein weiterer Kinasehemmer, der bei Leukämie zum Einsatz kommt, ist 2017 auf den Markt gekommen. Midostaurin (Rydapt®) bietet sich bei Patienten mit FLT3-mutierter akuter myeloischer Leukämie (AML) an. Die FLT3-Mutation ist mit etwa 30 Prozent eine sehr häufige Mutation bei AML. Das FLT3-Gen ­kodiert für einen Tyrosinkinase-Rezeptor, der Proliferation, Differenzierung und Überleben hämatopoetischer Stammzellen steuert. Im Vergleich zur AML-Gesamtpopulation haben Patienten mit dieser Mutation eine deutlich schlechtere Prognose. Über die Hemmung der FLT3-Kinaseaktivität trägt Midostaurin dazu bei, das Wachstum sowie die Vermehrung von Krebszellen zu verlangsamen oder zu stoppen.

 

Das zweite Anwendungsgebiet von Midostaurin ist die fortgeschrittene systemische Mastozytose. Diese Erkrankung führt zur unkontrollierten Vermehrung und Akkumulation von Mastzellen in inneren Organen. Das kann sich in reduzierten Blutzellkonzentrationen, einer Leberdysfunktion und Gewichtsverlust äußern. Ursache ist eine übermäßig aktivierte c-KIT-­Kinase. Auch diese wird von Midostaurin gehemmt. Der Wirkstoff blockiert also verschiedene Kinasen und gehört damit zur Gruppe der Multikinasehemmer.

Tabelle 2: Kinasehemmer gegen solide Tumoren (in Deutschland auf dem Markt)

Wirkstoff Handelsname wichtige Zielstruktur Indikation
Erlotinib Tarceva EGFR NSCLC, Pankreaskarzinom
Gefitinib Iressa EGFR NSCLC
Afatinib Giotrif EGFR, HER2, ErB4 NSCLC
Osimertinib Tagrisso EGFR mit T790M-Mutation NSCLC
Crizotinib Xalkori ALK NSCLC
Ceritinib Zykadia ALK NSCLC
Alectinib Alecensa ALK NSCLC
Dabrafenib Tafinlar BRAF Melanom, NSCLC
Vemurafenib Zelboraf BRAF Melanom
Trametinib Mekinist MEK1/2 Melanom, NSCLC
Cobimetinib Cotellic MEK1/2 Melanom
Nintedanib Vargatef Multikinasehemmer, unter anderem VEGF-Rezeptoren NSCLC
Lenvatinib Lenvima Multikinasehemmer, unter anderem VEGF-Rezeptoren Schilddrüsenkrebs
Cabozantinib Cometriq Multikinasehemmer, unter anderem VEGF-Rezeptoren Schilddrüsenkrebs
Vandetanib Caprelsa Multikinasehemmer, unter anderem VEGF-Rezeptoren Schilddrüsenkrebs
Sorafenib Nexavar Multikinasehemmer, unter anderem VEGF-Rezeptoren Nierenkarzinom, Leberkarzinom, Schilddrüsenkrebs
Sunitinib Sutent Multikinasehemmer, unter anderem VEGF-Rezeptoren Nierenkarzinom, GIST, pankreatische neuroendokrine Tumoren
Axitinib Inlyta VEGF-Rezeptoren Nierenkarzinom
Pazopanib Votrient Multikinasehemmer, unter anderem VEGF-Rezeptoren Nierenkarzinom, Weichteilsarkom
Tivozanib Fotivda Multikinasehemmer, unter anderem VEGF-Rezeptoren Nierenkarzinom
Lapatinib Tyverb HER2, EGFR Brustkrebs
Palbociclib Ibrance CDK4/6 Brustkrebs
Ribociclib Kisqali CDK4/6 Brustkrebs

Viele Optionen bei ­Lungenkrebs

 

Eine zielgerichtete Therapie mit einem Kinasehemmer ist oft auch bei Lungenkrebspatienten möglich. Der Grund dafür ist, dass bei der Entwicklung eines Bronchialkarzinoms verschiedene sogenannte Treibermutationen eine Rolle spielen (lesen Sie dazu Seite 38).

 

So ist es sehr sinnvoll, Patienten mit einem nicht kleinzelligen Lungenkrebs (NSCLC) auf Mutationen des epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptors (EGFR) zu untersuchen. Etwa 10 bis 15 Prozent der NSCLC-Patienten kaukasischer Herkunft haben EGFR-Mutationen, bei ­Asiaten sind es sogar 40 Prozent. Solche Mutationen findet man oft bei Frauen und Nie-Rauchern. Der EGFR gehört zur sogenannten ErbB-Familie. Insgesamt besteht diese aus vier eng verwandten Rezeptor-Tyrosinkinasen: EGFR (ErbB1), HER2 (ErbB2), ErbB3 und ErbB4.

 

Ziel EGFR

 

Der EGFR besteht aus einem extrazellulären Außenbereich, an den Liganden wie Wachstumsfaktoren oder Arzneistoffe angreifen können, und einer ­intrazellulären Domäne mit Enzymaktivität. Eine Überaktivierung oder Mutation der ErbB-Rezeptor-Tyrosinkinasen kann intrazelluläre Signalwege abnorm aktivieren und zu unkontrollierter Zellproliferation sowie Hemmung der Apoptose führen. Damit werden Tumorwachstum und -ausbreitung gefördert. Ein aktiver ErbB-Rezeptor entsteht erst bei Dimerisierung von zwei Rezeptormolekülen.

 

Die Tyrosinkinase-Hemmer Gefit­inib (Iressa®) und Erlotinib (Tarceva®) richten sich ausschließlich gegen Homo- und Heterodimere, die EGFR enthalten. Afatinib (Giotrif®), der Dritte im Bunde, ist nicht nur gegen EGFR, sondern auch gegen andere Rezeptoren der ErbB-Familie gerichtet. Dieser Wirkstoff bindet kovalent und irreversibel an EGFR, HER2 und ErB4. Davon versprach man sich eine stärkere und breitere Hemmung der Signalweiterleitung, doch bislang wurde das Anwendungsgebiet nicht erweitert.

Wie Erlotinib und Gefitinib ist ­Afatinib zur Behandlung des lokal fortgeschrittenen oder metastasierten ­NSCLC mit aktivierenden EGFR-Muta­tionen zugelassen (Tabelle 2). Vor Therapiestart ist der Mutationsstatus des Patienten zu testen. Nur 1 Prozent der Patienten ohne diese Mutationen spricht auf die Kinasehemmer an. ­Erlotinib ist in Kombination mit Gemcitabin zudem zur Behandlung von Patienten mit metastasiertem Pankreaskarzinom zugelassen.

 

Klassenspezifische Nebenwirkungen sind zum Beispiel Diarrhö, Hautausschlag und Nagelbettveränderungen. Die unerwünschten Effekte können auch noch Monate nach Therapie­beginn auftreten. Erste Anzeichen von Durchfall können Patienten ab Therapiestart proaktiv mit adäquater Hydrierung und Antidiarrhoika wie Loperamid behandeln.

 

Bei den in Studien beobachteten Hautreaktionen handelt es sich oft um einen leichten bis mittelschweren erythematösen akneartigen Ausschlag, der in sonnenexponierten Hautbereichen auftreten oder sich dort verstärken kann. Geht der Patient an die Sonne, sollte er daher schützende Kleidung tragen und ein Sonnenschutzmittel mit einem hohen Lichtschutzfaktor auftragen. Die rechtzeitige Behandlung dermaler Reaktionen, zum Beispiel mit Hautpflegemitteln oder Antibiotika, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Behandlung mit den Kinasehemmern fortgesetzt werden kann. Reagiert die Haut allerdings zu heftig, kann es erforderlich sein, die Behandlung vorübergehend zu unterbrechen oder die Dosis zu reduzieren. Auch ein Therapieabbruch ist in bestimmten Fällen notwendig.

Wichtig für die Beratung in der Apotheke ist, dass sich die Hautveränderungen meist innerhalb einiger Wochen nach Therapieende zurückbilden. Mit diesem Wissen lässt sich die Adhärenz der Patienten trotz der oft massiven Hautreaktionen unter Umständen positiv beeinflussen. Das Apothekenteam kann ferner zu einer phasen­gerechten Behandlung der dermalen Nebenwirkung raten. So können die Patienten bereits zu Beginn einer ­EGFR-Therapie ihre Haut mit rück­fettenden, feuchtigkeitsspendenden Pflegeprodukten eincremen. Sobald erste Pusteln auftreten, sind nicht ­fettende Pflegeprodukte vorzuziehen.

 

In den Fachinformationen der Präparate wird ferner auf das erhöhte Risiko einer Hornhautentzündung eingegangen. Patienten mit akuten oder sich verschlechternden Augenentzündungen, vermehrter Tränensekretion, Lichtempfindlichkeit, verschwommenem Sehen, Augenschmerzen und/oder geröteten Augen sollen umgehend einen Augenarzt aufsuchen. Das Tragen von Kontaktlinsen ist ungünstig, da dies ein weiterer Risikofaktor für Hornhautentzündungen und Ulzera­tionen ist.

 

Bei Patienten mit NSCLC und aktivierenden Mutationen im EGFR verlieren die genannten Kinasehemmer jedoch in der Regel irgendwann ihre Wirksamkeit, weil der Tumor Resistenzmechanismen dagegen entwickelt. Bei etwa 60 Prozent der betroffenen Patienten ist die T790M-Mutation der Grund für die Resistenz. In diesen Fällen kann eine Zytostatika-Therapie hinausgezögert werden, wenn die Therapie mit einem anderen Kinasehemmer fortgesetzt wird: Osimertinib (Tagrisso®). Der Wirkstoff bindet selektiv und irreversibel an den EGFR mit T790M-Mutation und unterbindet dessen dauerhafte Aktivierung. Voraussetzung für die Therapie ist der Nachweis der T790M-Mutation.

 

Ziel ALK-Kinase

 

Drei weitere Kinasehemmer sind für eine zielgerichtete Therapie von Lungenkrebspatienten zugelassen, wenn das Enzym anaplastische Lymphomkinase (ALK) übermäßig aktiv ist. Das sorgt dafür, dass Krebszellen schneller wachsen und sich vermehren. Bei gut 5 Prozent der NSCLC-Patienten ist ALK übermäßig aktiv.

Die Kinasehemmer Crizotinib (Xalkori®), Ceritinib (Zykadia®) und Alect­inib (Alecensa®) fungieren als ALK-Hemmer (Tabelle 2). Alectinib ist das jüngste Mitglied in diesem Dreigespann. Es kam 2017 auf den Markt und hat mittlerweile auch eine Zulassung für die Erstlinientherapie erhalten. Und das ist gut so, denn Hirnmetastasen – ein häufiges Problem bei Lungenkrebs – sprechen auf Alectinib deutlich besser an als auf die beiden anderen Wirkstoffe. Der Grund dafür: Alectinib ist kein Substrat des p-Glykoproteins. Diese »Arzneistoffpumpe nach draußen« kann den Kinasehemmer somit nicht wie ­Crizotinib und Ceritinib wieder aus den Tumorzellen und dem ZNS hinausbefördern.

 

Für die Beratung zu Alectinib kann man sich merken: Die Patienten sollten übermäßige UV-Strahlung meiden, nicht ins Solarium gehen und insbesondere im Sommer eine Sonnencreme und Lippenschutz mit einem hohen Lichtschutzfaktor auftragen, um einen Sonnenbrand zu vermeiden.

 

Ziel BRAF

 

Sehr selten liegt bei Patienten mit fortgeschrittenem NSCLC eine BRAF-V600-Mutation vor. Kann sie nachgewiesen werden, verspricht eine Kombinationstherapie aus den beiden Kinasehemmern Dabrafenib (Tafinlar®) und Trametinib (Mekinist®) einen Nutzen.

 

Dabrafenib und Trametinib hemmen zwei verschiedene Kinasen – nämlich BRAF beziehungsweise MEK1/2 – im sogenannten RAS/RAF/MEK/ERK-Signaltransduktionsweg (Abbildung 1). Die doppelte Hemmung dieses Signalwegs bringt einen zusätzlichen Nutzen, wie Studien zeigen.

 

Kinasehemmer bei ­Hautkrebs

 

Die erste Indikation von Dabrafenib und Trametinib war nicht der Lungen-, sondern der Hautkrebs. Die genannte BRAF-V600-Mutation tritt beim Melanom deutlich häufiger auf (Abbildung 1). Bei gut 40 Prozent aller Patienten mit fortgeschrittenem Melanom kann man sie nachweisen.

 

Erster Meilenstein in der Therapie des metastasierten Melanoms mit dieser Mutation stellte die Einführung der beiden BRAF-Inhibitoren Dabrafenib und Vemurafenib (Zelboraf®) dar. Sie binden an mutiertes BRAF, hemmen so den gestörten Signalweg und dadurch Neubildung und Wachstum der Tumorzellen. Ärzte können mit beiden Arz­neistoffen eine Monotherapie beim BRAF-V600-Mutation-positiven nicht resezierbaren oder metastasierten Melanom einleiten. Doppelt hält aber auch hier besser: Dabrafenib ist auch in Kombination mit dem MEK1/2-Hemmstoff Trametinib zur Behandlung dieser Hautkrebspatienten zugelassen. Ein zweites gemischtes Doppel mit identischem Einsatzgebiet bilden Vemurafenib und der MEK-Hemmer Cobimetinib (Cotellic®).

 

Vom Melanom noch mal zurück zum Lungenkrebs: Auch der Arzneistoff Nintedanib (Vargatef ®) ist eine mögliche Option beim Bronchialkarzinom. In Kombination mit Docetaxel darf er in der Zweitlinientherapie des lokal fortgeschrittenen, metastasierten oder lokal rezidivierten NSCLC vom Typ eines Adenokarzinoms angewendet werden. Auch Nintedanib bremst gleich mehrere Kinasen aus. Die Substanz richtet sich gegen verschiedene Rezeptorfamilien, die nicht nur bei der Entstehung, sondern auch bei Wachstum und Metastasierung von Tumoren eine Rolle spielen.

 

Multikinasehemmer mit multiplen Einsatzfeldern

Das Spektrum weiterer Multikinasehemmer ist groß. Drei davon sind ­ausschließlich zur Behandlung des Schilddrüsenkarzinoms zugelassen: Lenvatinib (Lenvima®), Cabozantinib (Cometriq®) und Vandetanib (Caprelsa®). Sie unterscheiden sich im Portfolio der gehemmten Enzyme. Jedoch hemmen alle drei die Kinaseaktivitäten von Rezeptoren des vaskulären Endothelwachstumsfaktors (VEGF) und blockieren damit die Angiogenese, das heißt die Gefäßneubildung zur Versorgung der Krebszellen. Sie zählen damit zur umfangreichen Gruppe der VEGF-Inhibitoren.

 

Auch der bei Darm- und Leberkrebs sowie bei gastrointestinalen Stromatumoren (GIST) zugelassene Multikinasehemmer Regorafenib (Stivarga®) gehört in diese Gruppe. Hersteller Bayer hat ihn aber 2016 in Deutschland vom Markt genommen, nachdem der Gemeinsame Bundesausschuss dem ­Medikament einen Zusatznutzen abgesprochen hatte.

 

Im Handel verfügbar ist dagegen eine Handvoll Multikinasehemmer zur Behandlung von Nierenkrebspatienten: Pazopanib (Votrient®, zusätzlich auch bei Weichteilsarkomen), Axitinib (Inlyta®), Tivozanib (Fotivda®), Sorafenib (Nexavar®, auch bei Leber- und Schilddrüsenkrebs) und Sunitinib (Sutent®, auch bei GIST und pankreatischen neuroendokrinen Tumoren).

 

Kinasehemmer bei ­Brustkrebs

 

Übersichtlicher als beim Nierenkrebs sind die Therapiemöglichkeiten mithilfe eines Kinasehemmers bei Brustkrebs. Bei dieser Tumorart gibt es zum Beispiel den Wirkstoff Lapatinib (Tyverb®), der – immer in Kombination, zum Beispiel mit Trastuzumab (Herceptin®) – eingesetzt werden darf bei Brustkrebspatientinnen, deren Tumor HER2 überexprimiert. Der weniger gängige Name dieses Rezeptors lautet ErbB2. Seine intrazelluläre Tyrosinkinase-Domäne ist einer der Angriffspunkte von Lapatinib. In der Fachinforma­tion von Tyverb wird folgender Vorteil genannt: »Die Kombination von Lapa­tinib und Trastuzumab bietet kom­plementäre Wirkmechanismen sowie möglicherweise nicht überlappende Resistenzmechanismen.«

 

Mit Palbociclib (Ibrance®) und Ribociclib (Kisqali®) sind 2016 sowie 2017 zwei Vertreter einer neuen Klasse von Kinasehemmern auf den Markt gekommen: die Hemmstoffe der Cyclin-abhängigen Kinasen 4 und 6 (CDK4/6). Auch sie sind beim Mammakarzinom indiziert. Die CDK4/6 sind in Kombination mit Cyclin D wichtige Regulatoren des Zellzyklus und treiben die Zellproliferation an, wenn sie übermäßig aktiv sind. Durch die Hemmung von CDK4/6 verringern die beiden Arzneistoffe das Tumorwachstum (Abbildung 2).

Tabelle 3: Kinasehemmer bei Tumoren und anderen Indikationen (in Deutschland auf dem Markt)

Wirkstoff Handelsname wichtige Zielstruktur Indikation
Ruxolitinib Jakavi JAK 1/2 Myelofibrose. Polycythaemia vera
Baricitinib Olumiant JAK1/2 rheumatoide Arthritis
Tofacitinib Xeljanz JAK 1/2/3 rheumatoide Arthritis
Sirolimus ­(Rapamycin) Rapamune mTOR Prophylaxe der Organabstoßung nach Nierentransplantation
Everolimus Certican, Afinitor, Votubia mTOR Certican: Prophylaxe der Organabstoßung nach Herz-, ­Nieren- oder Lebertransplantation Afinitor: Brustkrebs, neuroendokrine Tumoren, Nierenkarzinom Votubia: renales Angiomyolipom und subependymales ­Riesenzellastrozytom
Temsirolimus Torisel mTOR Nierenzellkarzinom und Mantelzell-Lymphom

Zugelassen sind sie zur Behandlung von Frauen mit lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem Brustkrebs, wenn die Krebszellen Hormonrezeptor-positiv sind, aber nicht HER2 exprimieren. Die CDK4/6-Inhibitoren werden nie als Monotherapie eingesetzt, sondern in Kombination mit einem Aromatase-Hemmer. Palbociclib darf auch mit dem Estrogenrezeptor-Antagonisten Fulvestrant kombiniert werden. ­Sowohl bei Palbociclib als auch bei ­Ribociclib machen die Frauen nach einer dreiwöchigen täglichen Einnahme eine Therapiepause von sieben Tage. Danach nehmen sie den Kinasehemmer wieder für drei Wochen ein. Wichtig sind regelmäßige Blutbildkontrollen, unter anderem um eine Neutro­penie möglichst in der Entstehungsphase zu erkennen.

 

Januskinasen als Ziel

 

Vor einigen Jahren kam mit Ruxolitinib (Jakavi®) der erste JAK-Kinasehemmer auf den Markt. Da bei diesen Kinasen zunächst unklar war, welche Funktion sie erfüllen, gab man ihnen kurzerhand den Namen JAK: Just Another Kinase. Gebräuchlicher ist mittlerweile aber die Bezeichnung Januskinase. Abgeleitet ist dieser Name vom römischen Gott Janus, dem Gott mit den zwei Gesichtern. Auch die Januskinasen haben auf ihre Weise zwei Gesichter: eines nach außen und eines, das nach innen in die Zelle schaut. Signale können mithilfe dieser Enzyme von der Zellober­fläche ins Zellinnere weitergeleitet werden.

Nützliche Off-Target-Effekte

Von Annette Mende, Heidelberg / Die meisten Kinase-Inhibitoren hemmen nicht nur eine bestimmte Kinase im Körper, sondern mehrere. Einige Wirkstoffe könnten deshalb vielseitiger eingesetzt werden als ursprünglich vorgesehen. Das berichtete Dr. Stephanie Heinzlmeir von der TU München bei einem Presseworkshop des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg. Sie war als Erstautorin an einer großen, im Fachjournal ­Science publizierten Studie beteiligt, in der eine Landkarte der Kinasehemmer mit allen ihren On- und Off-­Target-Effekten erstellt wurde (DOI: 10.1126/science.aan4368).

 

Damit konnten unter anderem die molekularen Ursachen von Nebenwirkungen aufgeklärt werden, etwa bei Vemurafenib, das nicht nur an mutiertes BRAF, sondern auch an die ­Ferrochelatase FECH bindet und so bei etwa der Hälfte der Behandelten zu Photosensitivität und Ausschlag führt. Zudem zeigte sich, dass die ­Kinase MELK, die als Biomarker für ­ungünstige Prognosen bei Lungenkrebs bekannt ist, aber bislang noch kein Arzneistofftarget darstellt, von einigen Kinase-Inhibitoren gehemmt wird.

 

»Die Ergebnisse dieser Studie bilden die Basis der interaktiven Website ProteomicsDB.com, auf der Nutzer zum Beispiel gezielt nach einem geeigneten Inhibitor für ein bestimmtes Protein suchen können«, sagte Heinzlmeir. Die Gruppe will so dazu beitragen, dass die Kinasehemmer in der Klinik noch gezielter und breiter eingesetzt werden können.

JAK-Hemmer greifen in den dys­regulierten JAK-STAT-Signalweg (Abbildung 3) ein, indem sie das katalytische Zentrum von JAK-Kinasen besetzen und den Signalweg damit stören. Die Produktion von Proteinen im Zellkern, die für eine verstärkte Immun- und Entzündungsantwort verantwortlich sind, wird damit gedrosselt.

 

Ruxolitinib darf bei zwei seltenen Erkrankungen der blutbildenden Zellen im Knochenmark angewendet werden: Myelofibrose sowie Polycythaemia vera (Tabelle 3).

 

Das Prinzip der Januskinase-Hemmung funktioniert aber auch bei einer anderen, häufigeren Erkrankung. 2017 kamen mit Baricitinib (Olumiant®) und Tofacitinib (Xeljanz®) zwei Vertreter dieser Wirkstoffklasse auf den Markt, die bei rheumatoider Arthritis eingesetzt werden. Beide Arzneistoffe könnten auch bei Psoriasis oder chronischen entzündlichen Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa eine neue Therapieoption werden.

 

Auch mTOR-Hemmer sind Kinasehemmer

 

Häufig vergessen wird, dass auch das Protein mTOR (mechanistic Target of Rapamycin) nichts anderes ist als eine Kinase und mTOR-Inhibitoren damit zu den Kinasehemmern zählen. Die mTOR-Kinase ist wichtig für viele Prozesse im Körper, unter anderem für einen Signalweg der Immunantwort. Wird das ­Enzym gehemmt, schwächt dies das Immunsystem. Das nutzt man zum Beispiel beim Einsatz von Sirolimus (= Rapamycin, Rapamune®) zur Prophylaxe einer Organabstoßung nach Nieren­transplantation (Tabelle 3).

 

Das Rapamycin-Analogon Everolimus (Certican®) ist zugelassen zur Prophylaxe der Transplantatabstoßung nach Herz-, Nieren- und Lebertransplantation. Zudem gibt es zwei weitere Everolimus-haltige Präparate im Handel: Afinitor® und Votubia®. Afinitor ist zugelassen zur Behandlung des Hormonrezeptor-positiven fortgeschrittenen Mammakarzinoms, bei verschiedenen neuroendokrinen Tumoren und beim Nierenzellkarzinom. Votubia darf beim subependymalem Riesenzell­astrozytom, einem gutartigen Tumor des Gehirns, und zum anderen beim renalen Angiomyolipom, einem gut­artigen Tumor der Nieren, gegeben werden. Der dritte mTOR-Hemmer auf dem Markt ist Temsirolimus (Torisel®), das beim Nierenzellkarzinom und Mantelzell-Lymphom zugelassen ist. /

Der Autor

Sven Siebenand studierte Pharmazie an der Martin-Luther-Universität in Halle. Die Approbation als Apotheker erfolgte 2001 nach dem Praktischen Jahr in der pharmazeutischen Industrie und der öffentlichen Apotheke, wo er im Anschluss mehrere Jahre tätig war. Seit seinem Vo­lontariat bei der Pharmazeutischen Zeitung arbeitet er als Redakteur bei der PZ, seit 2010 ist er stellvertretender Chefredakteur. Seit 2015 ist er als Referent bei Fortbildungsveranstaltungen, unter anderem zum Thema »Neue Arzneistoffe des Jahres«, tätig.

 

E-Mail: s.siebenand@avoxa.de

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