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Karpaltunnelsyndrom

Nerven in die Enge getrieben

18.03.2015  09:26 Uhr

Von Nicole Schuster / Es kribbelt vor allem nachts vom Daumen bis zum Mittelfinger, Taubheitsgefühle und Schmerzen treten auf. Ursache kann eine Nervenschädigung in der Hand sein. Ein Karpaltunnelsyndrom ist belastend und verläuft chronisch. Eine Operation kann die Symptome lindern.

Schmerzhafte Beschwerden in der Hand können verschiedene Ursachen haben. Eine ist das sogenannte Karpaltunnelsyndrom. Der Karpaltunnel (auch als Karpalkanal bezeichnet) ist eine anatomische Engstelle im Handgelenk zwischen den Handwurzelknochen und dem darüberlegendem Karpalband (Retinaculum flexorum). Durch diese laufen Sehnen und drei Nerven. Der mittlere Nerv, der Nervus medianus, ist dafür verantwortlich, dass Daumen, Zeige- und zum Teil auch Mittelfinger sensorisch empfindlich sind. Zudem steuert er einen Daumenmuskel.

Bei einem zu engen Karpalkanal steigt der Druck auf den Nerv und die ihn versorgenden Blutgefäße. Es kommt zu einer Unterversorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen, die langfristig irreparable Nervenschädigungen zur Folge haben kann. An der unbehandelt meist progredient verlaufenden Krankheit leiden Frauen etwa drei- bis viermal häufiger als Männer. Sie betrifft es besonders häufig in den Wechseljahren, aber auch während der Schwangerschaft. Insgesamt sollen in Deutschland bis zu 10 Prozent der Bevölkerung an einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Form des Syndroms erkrankt sein. Die Mehrzahl der Patienten befindet sich im Alter zwischen 40 und 70 Jahren, aber auch schon Jugendliche zählen zu den Betroffenen.

 

Die Verengung des Karpalkanals kann grundsätzlich zwei Ursache haben: Entweder liegt eine zum Beispiel angeborene Engstellung vor oder der Rauminhalt hat infolge verschiedener Auslöser zugenommen. Zu Letzterem können beispielsweise Wassereinlagerungen in das Handgelenk führen, die durch Krankheiten wie Diabetes oder infolge von hormonellen Veränderungen auftreten. »Auch eine krankhafte Verengung beispielsweise durch einen Tumor, Schwellungen der Sehnenscheiden, schlecht verheilte Brüche oder Arthrose können das Karpaltunnelsyndrom auslösen«, berichtet Privatdozent Dr. Oliver Kastrup, leitender Oberarzt der Klinik für Neurologie in Essen und federführender Autor der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zum Karpaltunnelsyndrom, gegenüber der Pharmazeutischen Zeitung. Auch eine Vielzahl von Patienten, die unter rheumatischen Erkrankungen leidet, klagt über Formen des Syndroms. Als Ursache kommen auch bestimmte, wiederkehrende Handgelenksbelastungen im Beruf infrage. Gefährdet sind hier zum Beispiel Polsterer, Landwirte oder auch Bediener von Geräten wie Presslufthämmern. »Sehr oft bleibt die Ursache aber unbekannt«, sagt Kastrup. »Ärzte sprechen dann von einem idiopathischen Karpaltunnelsyndrom.« Seelische Ursachen, etwa Stress, hat die Krankheit dem Experten zufolge aber nicht.

 

Nachts ist es am schlimmsten

 

Die Symptome sind individuell verschieden. Bei leichten Formen leiden Patienten unter geringen Missempfindungen, in extremen Fällen können aber auch bleibende Lähmungen auftreten. Oft treten die Anzeichen im frühen Stadium an nur einer Hand auf. Bei den meisten Betroffenen erscheinen sie zeitversetzt auch an der anderen Seite.

 

Yvonne Hartig* erkrankte vor drei Jahren. »Bei mir wurden die Beschwerden seither fortschreitend schlimmer«, sagt sie gegenüber der PZ. Sie erinnert sich, dass sich das Syndrom bei ihr zunächst als leichtes Taubheitsgefühl äußerte, das immer stärker wurde. Andere Patienten bemerken am Anfang auch ein Kribbeln oder Brennen in den Fingern, das mit dem Gefühl beim »Einschlafen« einer Gliedmaße vergleichbar ist. Die Missempfindung ist in frühen Stadien nur vorübergehend. Durch Schütteln oder Massieren der betroffenen Finger geht sie zurück.

 

Später treten stärkere Taubheitsgefühle und Schmerzen im Bereich von Daumen bis Mittelfinger auf und können sogar den ganzen Arm hinaufziehen. Patienten leiden darunter zwar überwiegend nachts und am frühen Morgen, doch können die Beschwerden auch den ganzen Tag über fortbestehen oder phasenweise erscheinen. Schließlich kann es zu einer anhaltenden Gefühlsminderung und Kraftlosigkeit sowie Bewegungseinschränkungen kommen. Bei bleibenden Nervenschädigungen wird die Daumenballenmuskulatur zunehmend abgebaut (Daumenballen-Atrophie). Den Patienten gelingt es nun kaum oder gar nicht mehr, den Daumen abzuspreizen.

Das Karpaltunnelsyndrom kann dann zu einer Behinderung im Alltag werden. »Die Krankheit macht hilflos«, bestätigt Hartig. »Die Feinmotorik der Hände ist verschwunden. Viele Tätigkeiten wie Handarbeiten oder die Bedienung der Computermaus sind für mich unmöglich.« Auch Telefonieren sei oft nur machbar, wenn sie den Hörer ständig von einer Hand in die andere wandern lasse.

 

Ein Stochern im Dunklen

 

Im frühen Stadium erkannt, kann eine geeignete Therapie oft Folgeschäden verhindern. Erschwert wird die Diagnose aber dadurch, dass die Symptome gerade zu Beginn unspezifisch sind und auch auf verschiedene andere Erkrankungen der Hand oder Finger hindeuten können. Neben der Anamnese gibt eine körperliche Untersuchung wie Tests zur Beweglichkeit der Finger und Hände erste Hinweise, ob ein Karpaltunnelsyndrom vorliegen könnte. In späteren Stadien bei einer bereits zurückgebildeten Muskulatur des Daumenballens kann der Flaschentest Hinweise geben, bei dem der Patient eine Flasche umgreifen soll. Bei einer Muskelatrophie gelingt ihm das kaum oder gar nicht mehr (positives Flaschenzeichen).

 

Zur Absicherung der Diagnose sollte der Mediziner eine Leitgeschwindigkeitsmessung des Nervs vornehmen (Elektroneurografie). »Typisch für das Karpaltunnelsyndrom ist eine herabgesetzte sensible Nervenleitgeschwindigkeit«, sagt Kastrup. Auch könne durch die Untersuchung gezeigt werden, dass keine anderen Nervenerkrankungen vorlägen.

 

In schweren Fällen, um zu untersuchen, ob die nervale Verbindung der Handmuskeln unterbrochen ist, bestimmt der Arzt die elektrische Muskelaktivität (Elektromyografie). Dabei sticht er eine dünne Nadel in die Muskulatur und leitet durch sie elektronische Reize in den Muskel. Gelegentlich wird auch eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt. Hiermit kann eine die Diagnose stützende Verdickung des Nervus medianus nachgewiesen werden. Einen Tumor als Ursache kann der Arzt durch die Magnetresonanztomografie erkennen.

Je nach Beschwerdegrad und Ursache empfehlen Ärzte eine konservative Behandlung oder einen operativen Eingriff. »Erstere ist in leichten bis mittelschweren Fällen angezeigt. Das betrifft besonders jüngere Patienten mit kurzer Krankheitsdauer, Schwangere und Menschen mit behandelbarer Grundkrankheit sowie jene, bei denen eine, ablegbare manuelle Tätigkeit der Auslöser ist«, erklärt der Experte. Betroffenen helfen hier neben einer Schonung der Handgelenke auch spezielle Armschienen, die sie vor allem nachts tragen sollen. Hartig macht damit gute Erfahrungen. »Teilweise trage ich sie auch tagsüber, um die Schmerzen zu reduzieren.« Die Linderung der Beschwerden kommt dadurch zustande, dass die Hand geschient nicht abknickt und somit kein übermäßiger Druck mehr auf dem Nerv lastet. Auch Medikamente können eine Behandlungsoption sein. So helfen Hartig Injektionen von Procain. Danach ist die Patientin bis zu zwei Wochen beschwerdefrei. Die Leitlinien empfehlen, Cortison in den Karpaltunnel zu spritzen. Wichtig ist, dass ein Arzt die Methode gut beherrscht, denn bei einer falschen Injektionstechnik kann es zu Nerv- oder Sehnenschädigungen kommen. Als Alternative zu den Cortisonspritzen empfiehlt Kastrup: »Möglich ist auch die orale Verabreichung, beispielsweise von 20 mg Prednisolon morgens über zwei Wochen.« Der Nutzen von Cortison liege darin, dass es entzündungshemmend und abschwellend wirke und somit ebenfalls Druck vom Nerv nehme.

 

Schmerzfrei leben

 

Zu einer Operation raten Ärzte meistens erst dann, wenn sich die Beschwerden durch konservative Maßnahmen nicht in den Griff kriegen lassen. »Auch beim Vorliegen funktionell behindernder Ausfallserscheinungen, etwa einer Beeinträchtigung des Tastsinns und einer starken manuellen Ungeschicklichkeit, raten wir zur Operation«, sagt der Experte. Der Eingriff wird entweder in Vollnarkose, meist aber ambulant unter örtlicher Betäubung durchgeführt. Zu wählen ist hier zwischen der offenen Methode und einer endoskopischen. Bei der ersten Variante setzt der Chirurg den Schnitt am Handgelenk an und gelangt von dort in den Karpaltunnel. Dort durchtrennt er das den Nervus medianus umschließende Karpalband (siehe Grafik). Diese Spaltung kann der Arzt auch endoskopisch durch mehrere kleine Hautschnitte vornehmen, durch die er seine Instrumente einführen kann.

 

Frühe Therapie erhöht Heilungsaussichten

 

Ziel des Eingriffs ist es, den Druck im Karpaltunnel zu reduzieren, sodass weitere Nervenschäden verhindert werden. »In der Regel verlaufen die Operationen erfolgreich und die Patienten sind danach weitgehend beschwerdefrei«, so Kastrup. Bis sich die Gefühllosigkeit in den Fingern zurückgebildet hat, kann es allerdings Wochen bis Monate dauern. Manchmal ist eine Folgeoperation notwendig, besonders dann, wenn der Chirurg das Karpalband nicht vollständig durchtrennt hat. Erfolgte der Eingriff jedoch zu spät, können die Beschwerden auch anhaltend fortbestehen. Um möglichst viel Lebensqualität zu erhalten, sollten Betroffene daher bei ersten Symptomen ihren Hausarzt oder gleich einen Neurologen aufsuchen. /

 

* Name von der Redaktion geändert

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