Pharmazeutische Zeitung online
Porträt

Drei Wochen in Haiti

09.03.2010  18:11 Uhr

Von Daniela Biermann / Als erster Helfer von »Apotheker ohne Grenzen« traf Dr. Julia Micklinghoff am 20. Januar im vom Erdbeben zerstörten Haiti ein. Mit der Pharmazeutischen Zeitung sprach die Apothekerin über knappe Schmerzmittel, Amputationen ohne Vollnarkose und wie selbstverständlich Hilfe sein kann.

»Wie war’s in Haiti?« Diese Frage wurde Dr. Julia Micklinghoff in letzter Zeit oft von Bekannten gestellt. Was soll man auf so eine Frage antworten? Die junge Apothekerin weiß es nicht. Schließlich war sie nicht im Urlaub, sondern hat den Erdbebenopfern in einem bitterarmen und zerstörten Land geholfen.

Man merkt ihr an, dass sie auch nach zwei Wochen noch nicht wieder richtig im winterlich grauen Hannover angekommen ist. Auf die Frage, warum sie sich sofort freiwillig gemeldet hat, antwortet sie schlicht: »Man hilft einfach.«

 

Das ist kein Abenteuerurlaub

 

Seit etwa zwei Jahren ist sie Mitglied bei Apotheker ohne Grenzen. Im September 2008 nahm sie an einer Schulung in Oberbayern teil, die die Hilfsorganisation zur Voraussetzung für einen Auslands­einsatz macht. »Ein Wochenende im Wald haben wir unter sehr einfachen Bedingungen verbracht«, erzählt Micklinghoff. Es ging um Teambildung, das Verhalten in Gebieten mit Minenfeldern und andere Sicherheitsfragen. So ein Wochenende kann nur bedingt auf einen Einsatz im Katastrophen­gebiet vorbereiten, sagt Micklinghoff, »aber man bekommt schon ein Gefühl dafür, ob man sich für einen Auslandseinsatz eignet. Es wird klar, dass das kein Abenteuerurlaub ist.«

 

Es ist das erste Mal, dass die 31-Jährige in ein Katastrophengebiet reist. Erfahrungen aus Entwicklungsländern hat sie jedoch bereits. Sie war erst kurz zuvor aus Nepal zurückgekommen, als sie die Bilder des Erdbebens am 12. Januar im Fernsehen sah. »Ich habe mich sofort bei Apotheker ohne Grenzen gemeldet. Da ich gerade zwischen zwei Jobs steckte, hat es zeitlich gut gepasst«, sagt sie wie selbstverständlich. Dass sie ihren Skiurlaub für den Einsatz absagen musste, scheint kein großes Opfer gewesen zu sein. »Ich wollte schon seit Längerem bei einem solchen Einsatz helfen.«

 

Dann ging alles ganz schnell: Innerhalb weniger Stunden kommt die E-Mail von Apotheker ohne Grenzen, dass ein Team aus Ärzten, Rettungsassistenten und Krankenschwestern von Humedica nach Haiti fliegen wird und vermutlich ein Pharmazeut gebraucht wird. Am Freitag, drei Tage nach dem Beben, steht der Abflug fest. Telefonische Briefings, die Familie beruhigen und ein paar Fachbücher einpacken – zur Vorbereitung bleibt kaum Zeit. Die Humedica-Leute lernt sie erst am Flughafen kennen. Natürlich habe sie ein bisschen Angst gehabt. »Es war überhaupt nicht klar, wie die Sicherheitslage aussieht und wo wir schlafen werden.« Wir, das sagt Micklinghoff oft. Gemeint ist das Humedica-Team und im späteren Verlauf des Hilfseinsatzes die nachrückenden Kollegen von Apotheker ohne Grenzen.

»Bei unserer Ankunft waren Sicherheitslage und Unterkunft besser als erwartet«, erzählt Micklinghoff. Als Basislager dient eine Schule, eines der wenigen unversehrten Gebäude in der Hauptstadt Port-au-Prince. »Die Stimmung in der Stadt war jedoch überhaupt nicht aggressiv«, sagt sie, wohl wissend, dass dies bei mancher Essensverteilung von Hilfsorganisationen anders aussah. Bei der Arzneimittelausgabe kam es jedoch nicht zu Zwischenfällen, auch wenn die Schlangen oft lang waren. Hat sie sich Sorgen um ihre eigene Sicherheit gemacht? »Eigentlich nicht. Wir sind immer nur im Hellen zu den Kliniken hin und zurück gefahren. Und von den Nachbeben habe ich nichts gemerkt.«

 

Man darf nicht frustriert sein

 

Jeden morgen um sechs aufstehen, zum Frühstück ein bisschen Weißbrot mit Erdnussbutter. Danach werden die Bestände an Arzneimitteln und anderem medizinischen Material überprüft. Was brauchen die Ärzte heute? Gibt es noch Antibiotika? Wo lagern die Arzneimittel am besten? Micklinghoff ist für die medikamentöse Versorgung von drei Standorten verantwortlich. »Die Verhältnisse sind hier sehr einfach. Man darf nicht gleich frustriert sein«, erklärt die Pharmazeutin. Das habe sie in Nepal gelernt. Dort hat sie als Freiwillige zwei Monate in Gesundheitszentren gearbeitet. Die Leitung einer Apotheke ist jedoch Neuland für sie. Überfordert hat sie sich trotzdem nie gefühlt, auch dank der guten Zusammenarbeit der Hilfsorganisationen. Während einiger Operationen half sie bei der Anästhesie. Es klingt einfach und bescheiden, wenn sie erzählt: »Man kennt die Wirkstoffe aus dem Studium. Ich habe Spritzen aufgezogen und sie nach Anweisung der Ärzte appliziert.«

 

Auch Verbandswechsel gehören zu ihrer täglichen Arbeit. Die Kliniken sind voll mit frisch amputierten Patienten. »Es ist zwar keine einfache Aufgabe, da die Patienten starke Schmerzen haben. Aber jeder, der gerade eine Hand frei hatte, hat mitgeholfen.« Zwischenzeitlich drohten die Schmerzmittel auszugehen. »Dann gibt man eben auch bei stärkeren Schmerzen Paracetamol. Doch zum Glück sind wir nie an den Punkt gekommen, an dem wir keine Operation mehr durchführen konnten«, erzählt sie; schiebt aber nach: »Auch wenn wir zwischendurch nah dran waren.«

 

Wir haben viele Leben gerettet

 

Mit solchen Erfahrungen kann sie nur irritiert reagieren, wenn sie von Bekannten gefragt wird, ob ihr Einsatz sinnvoll gewesen sei. »Wir haben viele Menschenleben gerettet. Die Arbeit im Team und auch zwischen den Hilfsorganisationen war sehr gut. Ich wäre gern länger geblieben, doch nach drei Wochen ist man ziemlich erschöpft.« Ob sie noch einmal an einem Auslandseinsatz teilnehmen würde? »Wenn sich die Gelegenheit bietet sofort!«, antwortet sie, ohne überhaupt zu überlegen. Sie hofft, ihr Engagement auch mit ihrem neuen Job als Postdoc in Einklang bringen zu können. Komplett in die Entwicklungshilfe zu gehen, kann sie sich jedoch nicht vorstellen.

 

Apotheker ohne Grenzen will sich längerfristig in Haiti engagieren. Den einheimischen Apothekern soll geholfen werden, die Arzneimittelversorgung wieder aufzubauen. »Es ist immer noch viel Hilfe nötig. Es ist ja nicht damit getan, dass man ein paar Knochenbrüche versorgt«, weiß Micklinghoff, die weiterhin im engen Kontakt mit dem Verein steht. »Man kann sich vielleicht nicht über jedes Einzelschicksal Gedanken machen, aber man muss sehen, wo man helfen kann. Und das sollte man so gut wie möglich.« / 

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