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Tourette-Syndrom

Wie Mozart tickte

11.02.2013  22:44 Uhr

Von Annette Mende, Berlin / Die Musik Mozarts ist makellos, doch seine Sprache war voller Kraftausdrücke und Fäkalworte. Experten glauben daher heute, dass der berühmte Komponist am Tourette-Syndrom litt. Diese psychische Störung würde nicht nur seinen Hang zu Anstößigkeiten erklären, sie könnte auch der Schlüssel zu seiner Kreativität gewesen sein.

Künstler sind häufig exzentrischer als durchschnittlich begabte Menschen. Wolfgang Amadeus Mozart (1756 bis 1791), Wunderkind, brillanter Pianist und genialer Komponist bildete diesbezüglich keine Ausnahme. In seinen Briefen wimmelt es von Fäkalausdrücken und unanständigen Wortspielen, und auch sein persönliches Auftreten war häufig unvereinbar mit dem strengen Verhaltenskodex des Rokoko, wie wir aus Zeitzeugenberichten wissen.

 

Doch waren diese Faxereien nur eine Facette seiner Persönlichkeit, die lediglich die Zeitgenossen verstörte, oder hatten sie tatsächlich Krankheitswert? Aus heutiger Sicht spricht einiges für die Annahme, dass Mozart ein Tourette-Syndrom hatte. Dr. Werner Felber, emeritierter Professor für Psychiatrie der TU Dresden, stellte die Argumente für diese These beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde in Berlin vor.

 

Reime voller Sauereien

 

Charakteristisches Kennzeichen des Tourette-Syndroms sind motorische und vokale Tics, die der Betroffene nicht steuern oder unterdrücken kann. Motorische Tics sind unwillkürliche, meist sehr heftige Bewegungen, vokale Tics reichen von undifferenzierten Lautäußerungen bis zum unkontrollierten Herausrufen von obszönen Worten. »Man staunt, wie viele Symptome des Tourette-Syndroms bei Mozart beschrieben sind«, sagte Felber.

 

Da ist zunächst die sogenannte Koprolalie, ein obszöner und aggressiver Wortausstoß. Dass Mozart daran Spaß hatte, zeigt die Nachschrift eines Briefes an seinen Vater aus dem Jahr 1777: »Ich johannes Chrisostomus Amadeus Wolfgangus sigismundus Mozart giebe mich schuldig, daß ich vorgestern, und gestern; auch schon öfters; … von 10 uhr an … bis nacht um 12 Uhr … gereimet habe; und zwar lauter Sauereyen, nemmlich, vom Dreck, und scheissen, und arschlecken, und zwar mit gedancken, worten und – – aber nicht mit wercken … und ich muss bekennen daß ich ordentlich Freude daran hatte ...«

 

Ein Brief an seine Cousine, das »Bäsle« Maria Anna Thekla, aus dem darauffolgenden Jahr liest sich, als ob Mozart den Drang, schmutzige Wörter auszusprechen beziehungsweise aufzuschreiben, nicht unterdrücken konnte oder wollte: »… wenn sie mir also wolln antworten, aus der stadt augsburg dorten, so schreiben sie mir baldt, damit ich den brief erhalt, sonst wenn ich etwa schon bin weck, bekomme ich statt einen brief einen dreck. dreck! – – dreck! – o dreck! – o süsses wort! – o charmante! – dreck, leck! – das freüet mich! – dreck, schmeck und leck! – schmeck dreck, und leck dreck! – – Nun um auf etwas anderes zu kommen …« Offenbar löst das Wort Dreck in ihm diesen Ausbruch aus, der ebenso abrupt endet, wie er begonnen hat.

 

Miauen wie eine Katze

 

Abgesehen von solchen koprolalischen Äußerungen scheint Mozart noch weitere vokale Tics gehabt zu haben, nämlich Pfeifen, Husten, Bellen, Grunzen, Zungeschnalzen, Zischen, Saugen, Huh-Laute und Miauen. So berichtet etwa seine Zeitgenossin Karoline Pichler 1844 in den »Denkwürdigkeiten aus meinem Leben« von einer Abend­gesellschaft, in der sich der 34-jährige Mozart sehr merkwürdig aufführte: »… Auf einmal ward ihm das Ding zuwider, er fuhr auf und begann in seiner närrischen Laune, wie er es öfters machte, über Tische und Sessel zu springen, wie eine Katze zu miauen und wie ein ausgelassener Junge Purzelbäume zu schlagen …« Wohlgemerkt: Mozart war damals kein kleiner Junge mehr; diese Episode ereignete sich ein Jahr vor seinem Tod.

 

Auch motorische Tics sind von Mozart überliefert: Er soll grimassiert, die Lippen gespitzt, mit den Schultern, dem Kopf und anderen Körperteilen geruckt und mit den Armen gezuckt haben. Komplexe motorische Tics, die laut Felber langsamer und bewusster ablaufen, beschreibt die Schwägerin des Komponisten, Sophie Weber Haibl, 1828 in ihren Erinnerungen: »… Selbst wenn er sich in der Frühe die Hände wusch, ging er dabey im Zimmer auf und ab, blieb nie ruhig stehen, schlug dabey eine Ferse an die andere … Bey Tische nahm er oft eine Ecke seiner Serviette, drehte sie fest zusammen, fuhr sich damit unter der Nase herum und schien in seinem Nachdenken Nichts davon zu wissen, und öfters machte er dabey noch eine Grimasse mit dem Munde …«

 

Musizieren als Therapie

 

Kritiker der These, dass Mozart ein Tourette-Patient gewesen ist, argumentieren, dass motorische Tics ihm das Klavierspielen unmöglich gemacht hätten. Auch heute gibt es aber einige Komponisten und Pianisten, die trotz schwerer Tics musizieren. Felber berichtete vom Briten James McConnel, der 2005 in der Radiodokumentation »What Made Mozart Tic – Mozart and Tourette’s« fest davon ausgeht, dass Mozart ein Tourette-Syndrom hatte. McConnel schließt dabei von sich auf Mozart, denn er ist selbst ein Betroffener. »Die einzige Gelegenheit, bei der McConnel nicht zuckt, ist, wenn er am Klavier sitzt um zu komponieren. Er glaubt, dass auch Mozart sich durch Musikschreiben selbst behandelt hat«, erklärte Felber.

Der berühmte Neurologe Oliver Sacks griff bereits vor zwanzig Jahren die Theorie auf und verknüpfte sie mit Überlegungen zur Kreativität Mozarts. 2007 interviewte er für eine Fernsehdokumentation zwei weitere Musiker mit Tourette-Syndrom, den US-Amerikaner Tobias Picker und den Briten Nick van Bloss. Beide berichten, genau wie McConnel, dass ihre Tics beim Klavierspielen verschwinden.

 

Sacks nimmt an, dass beim Tourette-Syndrom der Neurotransmitter Dopamin eine Rolle spielt, der neben der muskulären Beweglichkeit »auch für den Fluss des Geistes, den des Bewusstseins, der Emotionen und der Wahrnehmung verantwortlich« sei. Als musikalischer Tourette-Patient neige man dazu, eine Art rauschhafte, sturzflutartige Qualität in sich zu haben. »Ich denke nicht, dass man eine ›kreative Krankheit‹ haben kann. Vielmehr ist man durch Tourette etwas brillanter in seiner Stimulation der Phantasie und der Emotionen«, fasste Sacks zusammen.

 

Erweiterte Wahrnehmung

 

»Dieses Rauschhafte, Sturzflutartige finden wir auch bei Mozart«, sagte Felber. In einem ihm zugeschriebenen Brief, dessen Adressat unbekannt ist, beschreibt er 1790 seine Art zu komponieren: »... Wenn ich recht für mich bin und guter Dinge …: da kommen mir die Gedanken stromweis und am besten. Woher und wie, das weiss ich nicht … Die mir nun gefallen, die behalte ich im Kopfe, und summe sie wohl auch vor mich hin ... Halt’ ich das nun fest, so kommt mir bald Eins nach dem Anderen bey ... Da wird es immer grösser; und ich breite es immer weiter und heller aus; und das Ding wird im Kopfe wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so daß ichs hernach mit Einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild …, im Geiste übersehe, und es auch gar nicht nach einander, wie es hernach kommen muß, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen ...«

 

Mozart konnte also in seinem Kopf in einem Moment eine ganze Sinfonie hören. Ob diese Fähigkeit tatsächlich auf ein Tourette-Syndrom zurückzuführen ist, wird sich nie mit abschließender Sicherheit klären lassen. Sie ist in jedem Fall außergewöhnlich und übersteigt die Vorstellungskraft der meisten Menschen. / 

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