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Depersonalisation

Losgelöst von sich selbst

06.02.2018  15:56 Uhr

Von Nicole Schuster / Die Welt und sich selbst so wahrnehmen, wie es »normal« ist – das ist für manche Menschen episodisch wiederkehrend oder sogar kontinuierlich anhaltend nicht möglich. Die Entfremdungserlebnisse beängstigen und schränken das Funktionieren im Alltag ein. Zur Behandlung der primären Depersonalisationsstörung ist die Psychotherapie Mittel der Wahl.

Einzelne Körperteile erscheinen plötzlich als zu klein oder zu groß, Handlungen wie fremdgesteuert und Gefühle und Erfahrungen wie nicht zur eigenen Person gehörend. Wenn sich ein Mensch auf diese oder andere Weise als losgelöst von sich selbst empfindet, spricht man von Depersonalisation. 

 

Bei einem Derealisations-Erlebnis betrifft die verzerrte Wahrnehmung die belebte und unbelebte Umwelt. Gegenstände oder Menschen erscheinen unwirklich, künstlich oder wie durch einen Schleier betrachtet. Beide Arten der Entfremdung treten häufig gemeinsam auf. Experten bezeichnen die Krankheit als Deper­sonalisations-Derealisations-Syndrom (DDS) oder auch nur als Depersonalisationsstörung. Die Klassifikationen ICD und DSM ordnen das Syndrom den dissoziativen Störungen zu.

 

Schätzungen zufolge haben zwischen 1 und 10 Prozent der Bevölkerung in Deutschland mindestens einmal im Leben ein leichtes, kurz andauerndes Depersonalisations- oder Derealisations-Erlebnis. Auslöser können Stress oder Übermüdung sein. Die Lebenszeitprävalenz für ein DDS iegt bei etwa 2 Prozent. Genaue Zahlen liegen allerdings aufgrund von häufigen Fehl- beziehungsweise Unterdiagnosen nicht vor.

 

Ursache in den Genen

 

»Die idiopathische Depersonalisations-Störung hat eine relativ starke genetische Komponente«, sagt Professor Dr. Christian Schmahl, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin am Zen­tralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim im Gespräch mit der PZ. Bei einer erhöhten Disposition für DDS können extremer Stress und traumatische Erlebnisse Symptomauslöser sein. Erklärungsversuche für das Entstehen des Syndroms sehen darin unter anderem eine Art Schutzmechanismus, um mit schlimmen Situationen umzugehen. Auch Störungen in verschiedenen Transmittersystemen werden diskutiert.

 

Sich wie von außen beobachten

 

Das DDS mit Beginn im Erwachsenenalter tritt meistens im Zusammenhang mit anderen psychischen Krankheiten, etwa Autismus-Spektrum-Störungen, Phobien, Zwangsstörungen, chronischen Schlafstörungen, der Borderline-Störung oder Depressionen auf. Auch organische Krankheiten etwa strukturelle Veränderungen des Gehirns, entzündliche Hirnerkrankungen oder entzündliche systemische Erkrankungen wie Rheumatisches Fieber, Hashimoto-Thyreoiditis und systemischer Lupus erythematodes, Schädel-Hirn-Traumata sowie Migräne sind als mögliche Grunderkrankung der sekundären Form bekannt. Starke Müdigkeit, Hypoglykämie oder der Zustand vor oder nach einem epileptischen Anfall können die Symptome ebenfalls verursachen, das Gleiche gilt für die Einnahme bestimmter Medikamente oder Drogen.

 

Das Auftreten des DDSs muss nicht zwangsläufig krankheitsbedingt sein. Auch gesunde Menschen können gelegentlich das Gefühl haben, sich selbst von außen zu beobachten oder von ihrer Umwelt entfremdet zu sein. »Einen Krankheitswert bekommt die Depersonalisation beziehungsweise Derealisation dann, wenn der Patient stark darunter leidet und dadurch in seinem Alltag eingeschränkt wird«, so der Facharzt.

 

Zu den belastenden Symptomen zählt, dass Menschen während eines Depersonalisations-Erlebnisses nicht mehr wissen, wer sie sind und sich auch nicht mehr im Spiegel erkennen können. Auch sogenannte außerkörperliche Erfahrungen (»out-of-body experience«) können auftreten. Damit ist gemeint, dass Patienten sich in einen handelnden und einen beobachtenden Teil gespalten empfinden. Ein Bezug zum eigenen Körper und dem ausführenden Ich fehlt dabei weitgehend. Ein weiteres Symptom sind fragmentarische und zusammenhangslose Erinnerungen. Bei begleitend auftretenden Derealisationen erleben Betroffene ihre Umwelt wie verschwommen oder wie in einem Traum. Damit einher gehen auf der Gefühlsebene eine innere Leere, emotionale Taubheit und eine depressive Stimmungslage.

 

Psychotherapie ist Mittel der Wahl

 

Das Depersonalisations-Syndrom kann chronisch werden und tritt dann bei etwa einem Drittel der Patienten in Form einzelner Episoden anfallartig auf. Bei einem Drittel bleibt es kontinuierlich bestehen und bei dem restlichen Drittel geht der anfallartige Verlauf in einen kontinuierlichen über.

 

Entfremdungserlebnisse im Sinne einer Depersonalisation oder Derealisation dürfen nicht mit Psychosen gleichgesetzt werden. Anders als Patienten, die an der Schizophrenie leiden, ist den vom DDS Betroffenen durchaus bewusst, dass ihre Wahrnehmung »falsch« im Sinne von nicht normal ist. Die Symptome werden als beunruhigend und beängstigend empfunden.

 

Der Untersuchung auf mögliche Grunderkrankungen und dem Ausschluss eines auslösenden Konsums bestimmter Substanzen kommt diagnostisch eine große Bedeutung zu. Zur Abgrenzung von anderen psychischen Störungen dienen klinische Fragebögen.

 

Liegt eine Grunderkrankung vor, die die Symptome verursacht, therapiert der Arzt oder Psychotherapeut diese. Handelt es sich hingegen um eine eigenständige Erkrankung, sind die therapeutischen Möglichkeiten beschränkt. Mittel der Wahl ist die Psychotherapie. Der Psychiater oder Psychotherapeut sollte dem Patienten vermitteln, dass das DDS eine behandelbare Krankheit ist, und ihm die Angst nehmen, langsam verrückt zu werden. Neben dieser Psychoedukation können Stressmanagement, der Abbau von Ängsten und ein geeigneter Umgang mit schwierigen Situationen weitere Bestandteile der Therapie sein. Da Schlafmangel, extremes Computerspielen, eine reizreiche Umgebung und Substanzmissbrauch oft einen negativen Einfluss auf die Symptomatik haben, kann eine Änderung des Lebensstils erforderlich sein.

 

Ziel ist es bei schwachen Formen, das Auftreten weiterer Entfremdungserlebnisse zu verhindern beziehungsweise bei stärkeren Fällen die Häufigkeit des Auftretens zu reduzieren.

 

Arzneitherapie nur Off-Label

Ein speziell zur Behandlung des DDS zugelassenes Arzneimittel gibt es nicht. »Ist der Leidensdruck bei chronischen und episodisch rasch wiederkehrenden Symptomen hoch, kann der Arzt einen pharmakologischen Therapieversuch außerhalb der offiziellen Zulassung unternehmen«, erklärt Schmahl. Dafür stehen je nach Art der Beschwerden verschiedene Mittel zur Verfügung. Antidepressiva können zwar in der Regel nicht die Störung an sich verbessern, haben aber möglicherweise einen positiven Einfluss auf komorbide Störungen wie Depressionen oder Phobien. Versuchsweise kann der Arzt auch den Opiatantagonisten Naltrexon (50 bis 200 mg/d) verschreiben. Auch Lamotrigin (bis 400 mg/d) allein oder zusammen mit einem Antidepressivum kann eine Option sein. Nur in Ausnahmefällen sollte die Verordnung von Antipsychotika erfolgen. Sie verschlechtern ebenso wie Benzodiazepine häufig das Krankheitsbild.

 

Nach einem angemessenen Zeitraum sind Nutzen und Risiken der Arzneitherapie zu überprüfen. Bleibt ein Behandlungserfolg aus, sollte das Medikament abgesetzt und eventuell durch ein anderes ersetzt werden. Wichtig ist eine begleitende Psychotherapie. /

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