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Arzneimittel-Nutzenbewertung

Eine für alle

07.02.2018  10:17 Uhr

Von Ev Tebroke / Künftig soll die Nutzenbewertung von neuen Medikamenten und bestimmten Medizinprodukten einheitlich auf EU-Ebene erfolgen. Das sieht ein Verordnungsentwurf der EU-Kommission vor. Während die Pharmahersteller die Pläne grundsätzlich begrüßen, stößt das Vorhaben nicht zuletzt bei den Krankenkassen auf Ablehnung.

Alle auf europäischer Ebene neu zugelassenen Medikamente sollen künftig zentral in einem für alle Mitgliedsstaaten einheitlichen verbindlichen Verfahren klinisch bewertet werden. Dies sieht ein Gesetzesvorhaben der EU-Kommission zur Bewertung von Gesundheitstechnologien (Health Technology Assessment – HTA) vor, das sie vergangenen Mittwoch veröffentlicht hat. 

 

Die Kommission will damit nach eigenen Angaben den Nutzen neuer Medikamente für Patienten transparenter machen. Auch sollen Innovationen so schneller in der Versorgung zur Verfügung stehen. Während die Kassen ein Absenken des hierzulande geltenden hohen Bewertungsniveaus für neue Arzneimittel befürchten, begrüßen die Arzneimittel-Hersteller den Gesetzesplan weitgehend.

 

Rotes Tuch für die Kassen

 

»Einheitliche Anforderungen bei der klinischen Bewertung von Arzneimitteln werden den Patientenzugang zu innovativen Arzneimittel in Europa verbessern und Komplexität und Kosten für Arzneimittel-Hersteller verringern«, kommentiert der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller (BAH), Martin Weiser. Für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist das Vorhaben, das 95 Prozent aller neuen Medikamente betreffen würde, aber ein rotes Tuch. Dieser »tiefe Einschnitt in das bestehende Verfahren zur Nutzenbewertung« sei »nicht akzeptabel«, so der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands, Johann-Magnus von Stackelberg.

 

Der nun vorgelegte Entwurf ist das Resultat eines seit vielen Jahren andauernden Prozesses. Bereits seit 2013 gibt es auf Basis einer Richtlinie ein EU-weites HTA-Netzwerk, das auf Freiwilligkeit basiert. Mit der neuen Verordnung wäre ein gemeinsames klinisches Bewertungsprozedere für alle Mitgliedstaaten verpflichtend. Bislang erfolgt die Nutzenbewertung für ein neues Arzneimittel oder Medizinprodukt dezentral einzeln in jedem EU-Mitgliedsstaat. Ein und dasselbe Produkt wird also stets mehrfach bewertet. Laut BAH gibt es europaweit rund 90 verschiedene HTA-Agenturen, die sowohl in ihren Anforderungen als auch bei den Ergebnissen divergieren. Hierzulande ist das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) für die unabhängige wissenschaftliche Bewertung von Nutzen und Schaden neuer Gesundheitstechnologien zuständig.

 

Während der klinische Bewertungsprozess vereinheitlicht wird, bleiben laut EU-Kommission nicht-klinische, sprich wirtschaftliche, soziale und ethische Aspekte weiterhin Sache der Nationalstaaten – auch die Bestimmung von Erstattungssätzen und Preisen. Genau hier liegt das Problem: die Auswirkungen der neuen Regelung auf die Sozialversicherungssysteme. Das Bundesgesundheitsministerium will den Vorschlag diesbezüglich nun »eingehend prüfen und bewerten«, heißt es auf Anfrage der PZ. Es sei wichtig, den unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten in der Ausgestaltung ihrer sozialen Sicherungssysteme auch künftig ausreichend Rechnung zu tragen. »Gerade in Deutschland hat die Nutzenbewertung eine sehr hohe Bindungswirkung auch für die Preisverhandlung für Arzneimittel.«

 

Versorgungssteuerung

 

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G- BA) sieht den Vorstoß als »unzulässigen Eingriff in die Autonomie und Zuständigkeit der einzelnen Länder für ihre Gesundheitssysteme«. Es bestehe die Gefahr, »dass die Versorgungssteuerung von Arzneimitteln mittelbar auf EU-Ebene verlagert wird und die hohe Qualität der Versorgung leidet«, so der unparteiische Vorsitzende des G-BA, Professor Josef Hecken.

 

Die AOK bemängelt zudem den Anspruch der EU-Kommission, HTA-Berichte fast zeitgleich zur Marktzulassung vorzulegen. Zu diesem Zeitpunkt lägen oft noch keine oder nur wenige nutzenrelevante Daten über ein Arzneimittel vor. Datennachforderungen der Zulassungsbehörden blieben damit potenziell unberücksichtigt.

 

Wird das IQWiG also demnächst nicht mehr gebraucht? Nein, im Gegenteil: Experten der Arzneimittel-Industrie gehen davon aus, dass das Institut auch im EU-Prozess eine zentrale Rolle spielen wird. Für die HTA-Prozesse sind neben Deutschland noch Frankreich und bislang Großbritannien mit starken Instituten vertreten. Ähnlich wie schon jetzt bei der dezentralen Zulassung von Arzneimitteln soll künftig jeweils ein EU-Staat als verfahrensführendes Land (assessor) die Nutzenbewertung durchführen, assistiert von einem zweiten EU-Staat (co-assessor). Auf EU-Ebene soll ein Sekretariat die nationale Koordination übernehmen. Das letzte Sagen hätte die EU-Kommission, die die finalen Berichte prüft und veröffentlicht. Das Ergebnis wäre dann für alle EU-Mitgliedsstaaten verbindlich. Die geplante Verordnung sieht in Artikel 9 aber die Möglichkeit von Nachbewertungen des Nutzens vor, sofern es neue Erkenntnisse zu dem Produkt gibt.

 

Der Vorschlag wird nun vom EU-Parlament und dem Ministerrat beraten. Sobald die Verordnung angenommen und in Kraft getreten ist, gilt eine dreijährige Übergangsfrist. Im Anschluss haben die EU-Mitgliedsstaaten weitere drei Jahre, um die Verordnung national umzusetzen. Voraussichtlich im Jahr 2025 wäre sie dann bindend. /

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