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Sensible Festung gegen Angreifer

25.01.2006  11:12 Uhr

Immunsystem im Darm

Sensible Festung gegen Angreifer

von Gudrun Heyn, Berlin

 

Hoch sensibel überwacht das Abwehrzentrum des Gastrointestinaltrakts, welche Nahrungsbestandteile und Stoffe in das Körperinnere gelangen dürfen. Kommensale Mikroorganismen der Darmflora werden als harmlos erkannt und pathogene Erreger bekämpft. Doch schon kleine Störungen des Gleichgewichts zwischen Immunabwehr und Toleranz können die Entstehung von Krankheiten begünstigen.

 

Dramatisch hat die Zahl der Menschen zugenommen, die in den westlichen Industrienationen unter chronischen Entzündungen leiden (1, 3). Bakterielle Infektionen werden dabei kaum beobachtet. Daher gingen Wissenschaftler in den letzten Jahren dazu über, den Hauptschauplatz der immunologischen Auseinandersetzung im menschlichen Körper, die Mukosa des Gastrointestinaltrakts, näher zu erforschen.

 

»In den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass das Immunsystem des Darms, die Darmflora und die Ernährung ganz wesentlich an der Entstehung verschiedener Erkrankungen beteiligt sind«, sagt der Ernährungsmediziner und Gastroenterologe Professor Dr. Stephan Bischoff von der Universität Hohenheim in Stuttgart (1).

 

Chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, aber auch bösartige Tumore, Reizdarmsyndrom, rheumatische Erkrankungen und Allergien können die Folge sein, wenn die gastrointestinale Immunabwehr aus dem Ruder läuft.

 

Organ der Superlative

 

Gewaltig sind die Aufgaben, die der menschliche Darm im Lauf eines Lebens zu bewältigen hat. 30 Tonnen Nahrung und 50.000 Liter Flüssigkeit sind zu verarbeiten und weiterzugeben.

 

Ebenso enorm sind die Dimensionen des Verdauungsorgans Darm. Billionen von Bakterien helfen, den Nahrungsbrei zu zerkleinern. Unterstützt von Hormonen und gastrointestinalen Peptiden steuern über 100 Millionen darmeigene Nervenzellen die Verdauung. Dabei arbeitet das so genannte Bauchhirn (enterisches Nervensystem) weitgehend unabhängig von der Zentrale im Gehirn.

Aufbau der Darmwand

Im gesamten Gastrointestinaltrakt bildet die Schleimhaut (Mukosa) die innere Grenzschicht zum Lumen. Sie besteht aus einem einschichtigen Epithel, der an Kapillaren und immunkompetenten Zellen reichen Lamina propria (subepitheliales Bindegewebe) und einer Schicht glatter Muskelzellen (Muscularis mucosae). Ihr folgt die Submukosa, die durch große Blut- und Lymphgefäße sowie Nerven und Ganglien gekennzeichnet ist. Das Schlusslicht bilden die Muscularis propria mit Muskelzellen und die Adventitia mit Binde- und Fettgewebe sowie kollagenen Fasern.

Acht Meter lang kann ein menschlicher Darm werden. Falten, Zotten (Ausstülpungen, Villi) und Krypten (Gruben) machen die innere Darmwand jedoch noch weitaus größer. Sie gewährleisten, dass eine Resorptionsfläche von der Größe eines halben Fußballfelds zur Nahrungsaufnahme bereitsteht. Feine bürstenartige Fortsätze (Mikrovilli) auf den freien Saumzellen des Oberflächenepithels (Enterozyten) verstärken zusätzlich die Resorptionsleistung. Dabei erweist sich die an das Lumen angrenzende Darmschleimhaut als besonders permeabel. Neben Aminosäuren und niedermolekularen Peptiden können sogar intakte Proteine wie Ovalbumin aufgenommen werden (2).

 

Wege durch die Darmwand

 

Nachgewiesen ist, dass feste ungelöste Nahrungspartikel bis zu 150 µm Größe durch die Epithelzellschicht des Darms bis in die darunter liegende Lamina propria gelangen.

 

Der Stofftransport erfolgt hauptsächlich intrazellulär, indem die Makromoleküle an Rezeptoren der Epithelmembran gebunden und in die Zellen aufgenommen werden. Je unausgereifter die Epithelien, desto leichter fällt die Bindung der Antigene und umso offener ist der Weg. So können bei Neugeborenen unverdaute Proteine aus der Muttermilch wie Nerve Growth Factor (NGF), Epidermal Growth Factor (EGF) oder Immunglobulin G (IgG) über die Epithelbarriere in den Blutkreislauf gelangen (2). Für lösliche Moleküle ist der intrazelluläre Transport selbstverständlich. Auch für zahlreiche Viren ist dieser Weg beschrieben.

 

Ein alternativer Transportweg führt durch die Zellzwischenräume. Doch die Epithelzellen der Darmschleimhaut halten untereinander engen Kontakt und versiegeln über so genannte tight junctions weitgehend den Zugang. Während Elektrolyte, kleinere Moleküle bis 5500 Dalton und Wasser ungehindert passieren können, bleibt der parazelluläre Weg in das Gewebe für größere Moleküle die Ausnahme.

 

Mit Säure gegen Mikroorganismen

 

Geschätzte 400 Quadratmeter beträgt allein die Kontaktfläche des Dickdarms zur Außenwelt (1, 3). Während im gesamten Darmtrakt die Tore für Nahrungsbestandteile weit offen stehen, müssen potenzielle Angreifer möglichst ferngehalten werden.

 

Beim gesunden Menschen verhindert bereits die Magensäure, dass die feindliche Mikroorganismen-Fracht zu groß wird. Nur wenige grampositive Bakterien überleben das mit einem pH-Wert um 2 stark saure Magenmilieu. So sind es vor allem Nahrungsbestandteile, die im oberen Teil des Darms die Masse der Antigenexposition ausmachen. Mit der Entfernung zum Magen steigt nicht nur der pH-Wert, sondern auch die Anzahl und Artenvielfalt der Bakterien. Im Dickdarm schließlich tummeln sich bis zu 1011 Bakterien pro Gramm Darminhalt. Fremde Mikroorganismen haben es hier nicht leicht. Wenig angepasst müssen sie sich mit den vielfältigen Verteidigungsmechanismen der Festung Gastrointestinaltrakt auseinander setzen.

 

Komplexe Verteidigungsanlage

 

Im Darm sorgen chemische, immunologische und zelluläre Abwehrmechanismen dafür, dass Bakterien, Viren und Pilze nicht überhand nehmen.

 

Einen unspezifischen Schutz bieten antimikrobielle Peptide wie Defensine und Cathelicidine, die mikrobielle Zellmembranen zerstören. Da dieser Vorgang nicht auf bestimmte Eigenschaften der Angreifer abgestimmt ist, sind keine hoch komplexen Signalketten und Auslösemechanismen nötig, um diese Waffen des angeborenen Immunsystems in Stellung zu bringen. Für die Produktion von Defensinen sind Epithelzellen und insbesondere die Panethschen Körnerzellen in den Krypten der Darmschleimhaut verantwortlich. Bei Bedarf kann ihre Produktion sehr schnell anlaufen und der Körper gewinnt Zeit, die spezifische adaptive Immunantwort vorzubereiten.

 

Ebenso sind spezifische Antikörper des humoralen Immunsystems am Schutz der gastrointestinalen Barriere beteiligt. So dient Immunglobulin A (IgA) dazu, auch die körpereigenen (kommensalen) Mikroorganismen der Darmflora auf Distanz zur Darmwand zu halten. Gebildet wird es von B-Lymphozyten in der Lamina propria der Darmschleimhaut. Von dort gelangen täglich 3 bis 5 g des Antikörpers über das Epithel in das Lumen (3). IgA gilt als typischer Schleimhautantikörper und kann spezifisch Antigene binden, neutralisieren oder deren Aufnahme verhindern.

 

Die innere, mit Schleim belegte Darmwand wirkt wie eine Gleitfläche für den Darminhalt. Zusätzlich sorgt die Peristaltik dafür, dass Angreifern ein Andocken schwer fällt. Selbst in den Verdauungspausen schieben regelmäßige Einschnürbewegungen Nahrungsreste, Bakterienansammlungen und Fremdkörper nach unten (2).

Immunsystem im Dünndarm: M-Zellen und dendritische Zellen wehren Pathogene ab. In der Epithelschicht sind CD8-Zellen und in der Lamina propria CD4-Zellen, Makrophagen und IgA produzierende Plasmazellen dargestellt. Regulatorische T-Zellen und immunsuppressive Zytokine inhibieren hier möglicherweise schädliche Immunantworten.

Nur wenige Mikroorganismen können die schützende Schleimschicht durchqueren. Diejenigen, die es bis zur Epithelschicht geschafft haben, stehen vor den tight junctions, die ebenfalls eine effektive mechanische Barriere bilden. Außerdem werden die Zellzwischenräume der Epithelialmembran von Zellen der Immunabwehr genutzt. Dendritische Zellen aus der Lamina propria winden ihre langen »Arme« durch die tight junctions und nehmen so Kontakt mit den Antigenen auf. Gleichzeitig werden die entstehenden Löcher von den Fortsätzen der Dendritischen Zellen durch Enzyme so abgedichtet, dass zu keiner Zeit eine Gefahr für die Barrierefunktion besteht.

 

Dendritische Zellen gehören zur Gruppe der Phagozyten und können als Fresszellen pathogene Keime in ihr Zellinneres aufnehmen und dort enzymatisch abbauen. Gleichzeitig gehören sie zu den antigenpräsentierenden Zellen (APC), die Antigene aufnehmen, verarbeiten und in Lymphknoten präsentieren, um eine gezielte Immunantwort zu stimulieren.

 

Auftrag für Spezialisten

 

Die wichtigsten APC im Darm sind die so genannten M-Zellen (membranous cells). Als spezialisierte Epithelzellen übernehmen sie die ständige Überwachung des Darmlumens, indem sie dort Antigene aller Art aufsammeln und ins Innere der Mukosa weiterleiten. Dabei zerlegen die M-Zellen ihr Frachtgut in Fragmente und binden diese an Histokompatibilitätsmoleküle (MHC-Moleküle). Dieser Vorgang entspricht etwa dem Aufkleben eines Fotos auf einen Steckbrief. Immunkompetente Zellen, denen die Antigenfragmente vorgelegt werden, haben nun einen Auftrag. Die »Auftragsvergabe« selbst findet meist in Zentren wie den Lymphknoten statt. Dank der MHC-Moleküle ist dort stets ein genaues Abbild der immunologischen Lage vorhanden.

 

Auftragnehmer und damit die eigentlichen Spezialisten sind die T- und B-Lymphozyten (T- und B-Zellen) des adaptiven Immunsystems. Nur nach einer Stimulation durch die APC oder durch Interleukine sind sie in der Lage, auf Fremdproteine oder Mikroben mit einer spezifischen Immunantwort zu reagieren.

Aufgaben des Gastrointestinaltrakts

Verdauung und Resorption von Nahrung

Resorption von Flüssigkeiten

Rückresorption von endogenen Molekülen, zum Beispiel von Gallensäuren und Elektrolyten

Peristaltik zum adäquaten Transport des Darminhalts

unspezifische Abwehr von Pathogenen (MALT)

Entwicklung von Toleranz gegen Nahrungsproteine und Antigene der Darmflora

aus (2)

Aufgabe der CD8-positiven T-Lymphozyten (CD8-Zellen) ist es beispielsweise, virusbefallene Zellen zu töten. CD4-positive T-Lymphozyten (CD4-Zellen) haben dagegen wichtige indirekte Funktionen. Zellen vom TH1-Typ (T-Helferzellen vom Typ 1) aktivieren Makrophagen, damit diese intrazelluläre Erreger töten, und Zellen vom TH2-Typ (T-Helferzellen vom Typ 2) regen B-Lymphozyten dazu an, sich in antikörperbildende Plasmazellen umzuwandeln. Diese Plasmazellen sind die Hauptproduzenten der Immunglobuline und damit Träger der humoralen Immunität.

 

Nachdem die Abwehrspezialisten nun wissen, wen sie bekämpfen müssen, wandern sie zu den eigentlichen Schauplätzen der immunologischen Auseinandersetzung. Diese liegen in der Regel weit von den Lymphknoten entfernt. So wird sichergestellt, dass nicht schon in den Auftragszentren ständig Entzündungsreaktionen ablaufen.

 

Peyersche Plaques heißen die Lymphknotenhaufen im Darm, in denen das adaptive Immunsystem seine Aufträge erhält. Sie gibt es nur im Dünndarm, in dessen Schleimhaut 60 Prozent aller T-Lymphozyten des Menschen zu finden sind. Ein pH-Wert von 4 bis 5 im Lumen des Dünndarms hält die Mikrobendichte gering und sorgt dafür, dass die Lymphozyten in Ruhe instruiert werden können.

 

Der Ort der Immunantwort im Darm ist die Lamina propria. Dort sind Makrophagen, dendritische Zellen, Mastzellen und eosinophile Granulozyten angesiedelt, ebenso wie die stimulierten T- Zellen und B- Zellen.

 

Kommen nun die instruierten Verteidiger in Kontakt mit einem gesuchten Antigen, können sie ihre Waffen ausspielen und etwa eine Entzündungsreaktion auslösen. Bei intakter chemisch-mechanischer Außenbarriere können Mikroorganismen jedoch nicht bis zur Lamina propria der Darmschleimhaut vordringen. Dann sterben die Lymphozyten nach kurzer Zeit ab und Entzündungsreaktionen bleiben aus.

 

»Dieser Mechanismus ist sicher ein Steinchen in dem Mosaik, das zu oraler Toleranz führt«, erklärte der Mikrobiologe Dr. Tobias Ölschläger vom Institut für Molekulare Infektionsbiologie der Universität Würzburg (1).

 

Freund und Feind erkennen

 

Das Epithel der Darmschleimhaut ist nicht nur eine passive Barriere für Fremdorganismen, es hat auch ein ausgeklügeltes Sensorsystem für kommensale Bakterien und Pathogene.

 

Im Zytosol von Epithelzellen und Immunzellen, zum Beispiel in dendritischen Zellen, sind NOD-Moleküle (NOD: nucleotid-binding oligomerization domain) präsent, auf Zellmembranen Toll-Like-Rezeptoren (TLRs), die zur Gruppe der Mustererkennungsrezeptoren gehören (3). Sie binden artfremd aussehende Peptide sowie Moleküle, die in menschlichen Zellen nicht vorkommen. So werden etwa Peptidoglycan-Bruchstücke aus der Zellwand von Bakterien durch NOD1 und NOD2, doppelsträngige RNA, die bei der Virenreplikation eine Rolle spielt, durch TLR3 und Flagellin, das Hauptprotein der Bakteriengeißeln, durch TLR5 erkannt.

 

Auch Immunzellen wie Makrophagen haben ein solches Sensorsystem mit mehreren Arten von Rezeptoren, darunter auch TLRs. Fremde Strukturen werden so erkannt, phagozytiert und eliminiert; gleichzeitig werden Zytokine freigesetzt, die die Funktion anderer Zellen beeinflussen. Makrophagen schütten vor allem Interleukin-1 und -6 (IL-1, IL-6) sowie Tumor-Nekrose-Faktor α (TNF-α) aus. IL-1 stimuliert unter anderem die Proliferation von B-Lymphozyten; TNF-α bewirkt eine erhöhte Permeabilität von Gefäßwänden, sodass etwa IgG einströmen kann. IL-6 regt die Bildung von Akute-Phase-Proteinen an, die an akuten entzündlichen Prozessen beteiligt sind. Die Zytokine können außerdem Fieber fördern und das Krankheitsverhalten beeinflussen (4).

 

Damit die normale Darmflora nicht ständig das Alarmsystem auslöst, muss das Immunsystem nicht nur eigen und fremd, sondern auch kommensal von pathogen unterscheiden können. Bausteine und Muster, die von NODs und TLRs erkannt werden, sind in der Regel typisch für Freund und Feind. Pathogene Bakterien unterscheiden sich von ihren nicht pathogenen Verwandten vor allem durch die Präsenz zusätzlicher Gene (5). So exprimieren Pathogene Virulenzfaktoren wie Toxine oder IgA-Proteasen und haben die Fähigkeit zur Zellinvasion. Eine nicht chemisch geschützte Epithelschicht stellt deshalb für sie kein großes Hindernis dar. Bei Kommensalen findet man diese Eigenschaften nicht.

 

Verbündete bei der Abwehr

 

Mehr als 500 verschiedene Bakterienarten leben natürlicherweise im Darm. Für sie sind die Mikroorganismen, die über den Magen in den Darm gelangen, oft ungewollte Konkurrenten. Mit eigenen Abwehrstrategien gehen sie daher gegen die Fremden vor und werden so Verbündete bei der Abwehr.

 

Um sich einen Wachstumsvorteil zu verschaffen, können kommensale Bakterien ein Toxin produzieren, das die Zellwandsynthese anderer Bakterien hemmt. Auch mykotoxische Stoffe werden ausgeschüttet. Außerdem verhindern physiologische Bakterien, dass bestimmte Mikroorganismen wie Salmonellen an der Darmwand anheften oder die Darmbarriere überwinden. Sie können fremdes Toxin zerstören, die Bildung von Defensinen anregen, eine vermehrte Schleimproduktion induzieren oder auch nur die Peristaltik in Schwung bringen. Aktiv unterstützen sie die Reparaturmechanismen der Darmwand, indem das Wachstum von Epithelzellen stimuliert und die Blutgefäßbildung in der Darmwand angeregt wird.

 

Weiterhin sorgt ein entsprechendes Milieu im Darm dafür, dass sich hier nur die »richtigen« Bakterien ansiedeln. So bilden die Epithelzellen Lactoferrin, das Eisen bindet und den Mikroorganismen diesen lebensnotwendigen Stoff vorenthält. Da kommensale Bakterien in der Regel jedoch um Eisen konkurrieren können, haben sie hierdurch einen wesentlichen Überlebensvorteil.

 

Bei jeder Mahlzeit speisen die darmbewohnenden Mikroben mit. Epithelzellen nehmen deren Abfallprodukte, beispielsweise kurzkettige Fettsäuren, auf. Außerdem bilden Mikroben Vitamine, zum Beispiel Vitamin B12, und sekundäre Gallensäuren, die nicht nur einen Beitrag zur Verdauung leisten, sondern auch an der Inaktivierung krebserregender Stoffe beteiligt sind. »Jede Darmflora sollte daher gut gepflegt werden, denn ist sie erst geschädigt, ist auch der Mensch viel empfänglicher für Infektionskrankheiten«, meinte Professor Dr. Ingo Autenrieth, Ärztlicher Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie am Universitätsklinikum Tübingen (1).

 

Schäden durch Antibiotika

 

Jede Einnahme von Antibiotika betrifft auch die Mikroben im Darm. Je breiter das Wirkspektrum, desto stärker bricht die Darmflora ein. Eine bekannte Folge ist die Diarrhö.

 

Neuere Studien legen zudem viel weitreichendere Konsequenzen nahe. So können schon niedrige Antibiotikadosen, wie sie in der Tiermast eingesetzt wurden, unter physiologischen Bakterien erheblichen Stress verursachen. In der Folge schütten diese Toxine aus. So reagieren etwa enterohämorrhagische E. coli mit einer 160fachen Erhöhung der Toxinbildung. »Zur Stressantwort der Bakterien gehört außerdem die Ausschleusung von Toxin-kodierenden Bakteriophagen, die bewirken, dass sich andere Colibakterien zu Krankheitserregern entwickeln können«, berichtete der Mikrobiologe Professor Dr. Herbert Schmidt von der Universität Hohenheim (1). Enterohämorrhagisches E. coli verursacht Durchfall bei kleinen Kindern und weitere Komplikationen bis hin zum plötzlichen Kindstod. Bei akut infizierten Patienten ist daher eine Antibiotikatherapie kontraindiziert. Sicher ist, dass diese die Komplikationen bei akut infizierten Kindern verstärken kann.

 

Sogar Auswirkungen auf das protektive Potenzial von Nahrungsmitteln kann eine Antibiotikatherapie haben. Vermutet wird dies beispielsweise für Enterolacton, ein Phytoestrogen aus Gemüsen, Früchten und Getreide. Hohe Konzentrationen mindern das Brustkrebsrisiko erheblich (6) und sollen kardiovaskulären Erkrankungen vorbeugen. Doch bereits nach einer einmaligen Antibiotikagabe kann die Enterolacton-Konzentration im Serum bis zu 16 Monate lang erniedrigt sein, da es von der geschädigten Darmflora aus seinen pflanzlichen Vorstufen (Lignanen) nicht mehr verstoffwechselt wird.

 

Chronische Entzündung im Darm

 

Bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa ist das immunologische Gleichgewicht gestört. »Durch Defensin-Mangel kommt es bei diesen Patienten zu einer Bakterieninvasion«, sagte Professor Dr. Eduard Stange vom Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart (1).

 

Defensine sind als natürliche Antibiotika ein wichtiger Bestandteil der mukosalen Barriere. Auf Grund eines Mangels liegt bei Patienten mit Morbus Crohn jedoch ein intakter Film vitaler Bakterien direkt auf dem Epithel auf. Es kommt zu einer massiven Entzündung, die alle Schichten der Darmwand betreffen kann, zu schmerzhaften Fisteln und Abszessen. Alle Abschnitte des Verdauungstrakts vom Mund bis zum After können in Mitleidenschaft gezogen sein. »Wenn man einen Morbus Crohn im Dünndarm hat, ist es jedoch äußerst selten, dass sich die Erkrankung auch auf den Dickdarm ausdehnt und umgekehrt«, sagte Stange.

 

Besonders gut erforscht sind inzwischen die Mechanismen, die zum Ileum-Crohn führen. Im Dünndarm treten im Gegensatz zum Dickdarm ausschließlich α-Defensine auf. An der Basis der Krypten sorgen sie normalerweise für Bakterienfreiheit, denn hier werden Stammzellen produziert. Bei Menschen mit Ileum-Crohn ist die Defensin-Produktion um bis zu 70 Prozent niedriger als normal. Wenn zusätzlich noch eine Mutation im NOD2-Gen vorliegt, sinkt die Expression sogar noch um weitere 20 Prozent. Folge ist eine vermehrte bakterielle Invasion der Darmwand. Menschen mit einem homozygoten Defekt in dem zugehörigen NOD2-Gen haben ein 40fach höheres Risiko, an Morbus Crohn zu erkranken.

 

Bei Colitis-ulcerosa-Patienten wurde im Gegensatz dazu bislang kein Defensin-Defekt nachgewiesen. Dafür ist ihre Schleimschicht sehr viel dünner als die eines gesunden Menschen oder eines Crohn-Patienten. Besonders im Dickdarm tritt dieses Phänomen auf. Die Schleimschicht ist auf etwa 40 Prozent reduziert, weniger sulfatiert und weniger negativ geladen als normal. Die von den Epithelzellen gebildeten Defensine können dadurch sehr leicht in das Lumen abwandern. Doch ohne ausreichende antibakterielle Aktivität stellt die verdünnte Schleimschicht kein wirkungsvolles Hindernis für Bakterien dar. Direkt im Schleim sind daher Mikroben zu finden.

 

So erklärt sich auch, dass die Symptome von Morbus-Crohn- und von Colitis-ulcerosa-Patienten zum Teil sehr ähnlich sind. Schubweise leiden die Betroffenen unter Durchfall, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, krampfartigen Bauchschmerzen und Müdigkeit (3).

 

Rheumatische Erkrankungen

 

Das immunologische Geschehen bei Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, aber auch bei Darminfektionen kann außerhalb des Darms gravierende Folgen haben. Spondyloarthritiden nennt man die entzündlich-rheumatischen Erkrankungen, deren Genese mit bakteriellen Antigenen aus dem Darm in Beziehung gebracht wird. Dazu gehören Krankheiten wie Morbus Bechterew (Spondylitis ankylosans), reaktive Arthritis, Psoriasisarthritis und die Spondyloarthritiden bei CED.

 

Als Mustererkrankung gilt die reaktive Arthritis, bei der die Mechanismen der Krankheitsentstehung inzwischen sehr gut bekannt sind. Nach einer Darminfektion durch Salmonellen, Yersinien, Shigellen oder Campylobacter entwickeln etwa zwei Prozent der Menschen eine enterogene Spondyloarthritis. Bis zu sechs Wochen nach dem Genuss eines keimbelasteten Gerichts kann es dauern, bis die ersten Beschwerden im Rücken oder den Gelenken auftreten. »Daher stellen die Betroffenen zumeist keinen Zusammenhang zwischen ihrem Durchfall und der Arthritis her«, sagte die Direktorin der Inneren Medizin des Städtischen Klinikums Wiesbaden, Professor Dr. Elisabeth Märker-Hermann (1).

 

Obwohl die reaktive Arthritis Folge einer Darminfektion ist, sind in den entzündeten Gelenken keine bakteriellen Erreger nachweisbar. Daher ist eine Antibiotikatherapie erfolglos. Dafür können in den Gelenken Erreger-spezifische T-Lymphozyten gefunden werden. Die CD8-Zellen, die auf das Töten von Bakterien spezialisiert sind, und die CD4-Zellen, die im Gelenk eine Entzündungsantwort induzieren, sind wahrscheinlich im Darm stimuliert und über die Blutbahn verbreitet worden. Die Arbeitsgruppe von Märker-Hermann konnte identische T-Zellen im Darm und in den Gelenken der Patienten nachweisen.

 

Dies erklärt jedoch noch nicht, warum in den Gelenken eine Immunantwort mit Entzündungsreaktionen erfolgt. Dazu müssten die gesuchten Antigene auch hier vorhanden sein. Dies ist zwar bei den Erkrankten nicht der Fall, aber es kommt auf Grund einer genetischen Disposition zu einer fatalen Verwechslung. Die Patienten exprimieren das HLA-B27-Molekül. Peptide aus diesem Molekül haben große Ähnlichkeit mit Peptiden von Darmbakterien wie Klebsiellen oder Pseudomonaden. Es kommt zu einer Kreuzreaktion, bei der CD8- und CD4-Zellen auf humane HLA-B27-Moleküle wie auf pathogene Keime reagieren.

 

Auch bei der Entstehung der häufigsten entzündlich-rheumatischen Erkrankung, der rheumatoiden Arthritis, könnten immunologische Vorgänge im Darm eine Rolle spielen. Vermutet wird, dass Zellwandbestandteile der kommensalen Darmflora die entzündlichen Immunreaktionen in den Gelenken beeinflussen und aufrechterhalten.

 

Trainingseinheiten für den Darm

 

Die Fähigkeit, auf potenziell pathogene Keime und Substanzen angemessen zu reagieren und gleichzeitig Nahrungsantigene und kommensale Mikroflora zu tolerieren, scheint in den westlichen Industrienationen immer mehr verloren zu gehen (1, 3). Epidemiologen sind sich einig, dass es nicht nur einen Zusammenhang zwischen Allergien und dem Hygienestandard in der Kindheit gibt. Auch die Inzidenz von Erkrankungen wie Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Asthma und Neurodermitis ist umso höher, je steriler Kinder aufwachsen. So sind die meisten Crohn-Patienten in den Städten Nordeuropas zu finden (3).

 

Das menschliche Immunsystem wird schon sehr früh geprägt. Erste Trainingseinheiten mit fremden Mikroorganismen finden bereits Wochen vor der Geburt statt. So gewöhnt sich der Darm des Ungeborenen an bakterielle Angriffe und lernt damit umzugehen. Bis zu zwei Jahre nach der Geburt dauert die Schule durch bakterielle Stimulation. Ohne sie fehlen später wichtige Komponenten der normalen Immunabwehr.

 

Durch bewusste Ernährung lässt sich diese Lernphase noch effektiver gestalten. Finnische Studien zeigten, dass Mütter, die in der späten Schwangerschaft und in der Stillphase Lactobacillus rhamnosus GG (LGG) zu sich nahmen, das Risiko ihrer Kinder, an Neurodermitis zu erkranken, nahezu halbieren konnten. Im Tiermodell ließ sich ein allergieprotektiver Effekt des Probiotikums für Asthma nachweisen.

 

Auch als Therapeutika und Vorbild für Medikamente eignen sich lebende Mikroorganismen. So sind etwa Bakterien vom Stamm Escherichia coli Nissle 1917 in der Lage, die Defensin-Produktion anzukurbeln. In Studien zur Remissionserhaltung bei Colitis ulcerosa waren sie vergleichbar effektiv wie das Standardpräparat Mesalazin (7). Die Arbeitsgruppe um Professor Stange konnte das Molekül isolieren, das die Defensin-Synthese induziert. »Irgendwann werden wir es als Medikament einsetzen können«, hofft der Spezialist für entzündliche Darmerkrankungen.

 

Abwehr präventiv stärken

 

Bewusst wird heute versucht, die enterale Immunabwehr durch Ernährung positiv zu beeinflussen. Zum Spektrum der Substanzen, die im Rahmen der präventiven Immunonutrition eingesetzt werden, gehören Aminosäuren wie Glutamin und Arginin, Omega-3-Fettsäuren, Antioxidantien wie die Vitamine C und E sowie sekundäre Pflanzenstoffe wie Phytosterole.

 

Derzeit ist die Immunonutrition noch weitgehend den Krankenhäusern vorbehalten (1), wo sie vor allem in der Sepsis-Prophylaxe auf Intensivstationen eingesetzt wird. Dort ist das Multiorganversagen auf dem Boden einer Infektion immer noch eine der häufigsten Todesursachen. Eine mögliche These lautet, dass bei diesen Patienten etwa durch Ernährungsmangel oder Durchblutungsstörungen die Darmbarriere nicht mehr richtig funktioniert. Klinische Daten belegen nun, dass auf Intensivstationen mit einer gezielten Immunonutrition sowohl die Liegezeit und die Zeit an einer Beatmungsmaschine als auch die Infektionsrate gesenkt werden können. Allerdings gibt es noch keinen statistischen Beweis, dass Patienten länger leben.

 

Vieles auf dem Gebiet der Immunsystemstärkung durch Probiotika und Ernährung ist heute noch Spekulation. Doch immer mehr Beispiele zeigen, dass sich das enterale Immunsystem über Darmflora und Ernährung beeinflussen lässt. Da schon ein kleiner Fehler in der Immunabwehr zu schweren Krankheiten führen kann, könnte hier einer der Schlüssel für mehr Gesundheit liegen.

Literatur und Anmerkungen

Vorträge auf dem 7. Presse-Workshop des Instituts Danone für Ernährung e. V., Umgeschrieben: Das Drehbuch der Immunabwehr. Stuttgart, 14. bis 15. Juli 2005.

Bischoff, S., Sellge, G., Gastrointestinaltrakt. Manuale allergologicum Grundwerk. Dustri-Verlag 2004.

MacDonald, T., Montelone, G., Immunity, Inflammation, and Allergy in the GUT. Science Vol. 307 (2005) 1920-1925.

Helmberg, A., Infektion, Immunologie und Allergologie. Skriptum Abwehr-Immunologie, Medizinische Universität Innsbruck 2005.

Oelschläger, T., Hacker, J., Impact of pathogenicity islands in bacterial diagnostics. APMIS Nr. 112 (2004) 930-936.

Spechter, A., Umweltfaktoren, Pestizide und Brustkrebs ­ eine klinische Fall-Kontroll-Sudie. Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München 2005.

Heyn, G., Auf die Keime kommt es an. Pharm Ztg. Nr. 32 (2005) 32-33

 

Die Autorin

Gudrun Heyn war im Anschluss an ihr Geologiestudium als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin tätig und untersuchte toxische Einflüsse aus Grundwässern. Nach der Promotion arbeitete sie in verschiedenen Forschungseinrichtungen, darunter am Kernforschungszentrum Karlsruhe und beim Niedersächsischen Landesamt für Bodenforschung. Sie hatte Lehraufträge an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Freien Universität Berlin. In Fachpublikationen veröffentlichte sie Ergebnisse eigener Forschungen. Seit ihrer Ausbildung als Journalistin ist Dr. Heyn als freie Wissenschaftsjournalistin in Berlin tätig und schreibt für Fachzeitschriften über aktuelle Themen aus Medizin und Pharmazie.

 

 

Anschrift der Verfasserin:

Dr. Gudrun Heyn

Ferbitzer Weg 33 B

13591 Berlin

gheyn(at)gmx.de

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