Zweifel an Wirksamkeit |
24.01.2012 16:04 Uhr |
Von Daniela Biermann / Ein neues Cochrane-Review zur Influenza-Therapie und Prophylaxe mit Oseltamivir äußert Zweifel an der Wirksamkeit und Sicherheit des Grippemittels. Die Studienautoren kritisieren die Informationspolitik des Herstellers.
Ein neues Cochrane-Review fällt ein tendenziell negatives Urteil über das Grippemittel Oseltamivir (Tamiflu®). Ein internationales Epidemiologenteam stellte in seiner Metaanalyse widersprüchliche Angaben zwischen publizierten und unveröffentlichten Daten fest (doi: 10.1002/14651858.CD008965.pub3). Zudem fand es Hinweise, dass Hersteller Roche Daten zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen zurückgehalten hat. Daten von 60 Prozent der Teilnehmer an randomisierten, placebo-kontrollierten Phase-III-Studien seien nie veröffentlicht worden, kritisieren die Forscher. Darunter sei die größte Studie mit mehr als 1400 Teilnehmern jeden Alters. Zwar erhielten die Wissenschaftler Einblick in die zur Zulassung eingereichten Daten. Den kompletten Datensatz rückte Roche auf Anfrage der Forscher jedoch nicht heraus.
Foto: picture-alliance
Zwar kann Oseltamivir laut Metaanalyse die Zeit bis zur Linderung der Symptome um 21 Stunden verkürzen. Deswegen reduziere sich jedoch nicht die Zahl der Krankenhauseinweisungen, schreiben die Cochrane-Autoren. Auch den Schutz vor schwerwiegenden Verläufen wie Lungenentzündungen zweifeln die Forscher an. Zudem würden Nebenwirkungen wie psychischen Effekte vermutlich öfter auftreten als bislang angenommen. »Wir glauben, bis mehr bekannt ist über den Wirkmechanismus der Neuraminidase-Hemmer sollten Heilberufler, Patienten und andere Entscheidungsträger die Ergebnisse dieses Reviews überdenken, bevor sie darüber entscheiden, ob sie den Arzneistoff einsetzen«, sagte Studienleiter Tom Jefferson in einer Pressemitteilung.
Roche betonte in einer Stellungnahme, Oseltamivir sei »nachweislich wirksam und im Allgemeinen gut verträglich für die Behandlung und Vorbeugung einer Influenza bei Erwachsenen und Kindern«. Das Cochrane-Review schließe Studien mit Patienten mit grippeähnlichen Erkrankungen ein – gegen die Oseltamivir naturgemäß nicht wirksam ist. Roche habe den Gesundheitsbehörden weltweit vollständige Daten aus klinischen Studien im Rahmen des Zulassungsverfahrens zur Verfügung gestellt. 80 Prozent der klinischen Daten seien veröffentlicht; der Großteil der unveröffentlichten Daten stamme aus erst kürzlich abgeschlossenen Studien, die das Unternehmen jedoch auch bald freigeben will.
Foto: Fotolia/ arsdigital
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte prüfe zwar das Cochrane-Review, die jetzt diskutierten Daten zur Wirksamkeit und zum Nebenwirkungsprofil seien aber bereits in die Zulassungsentscheidung eingeflossen und »damit keinesfalls neu«, äußerte sich die Behörde. Entsprechende Informationen seien bereits in den Fach- und Gebrauchsinformation berücksichtigt. Nach derzeitigem Kenntnisstand habe sich an der positiven Nutzen-Risiko-Bewertung von Tamiflu bei bestimmungsgemäßer Anwendung nichts geändert.
Die Neuraminidase-Hemmer Oseltamivir und Zanamivir verhindern die Ablösung neuer Viruspartikel, nachdem sich die Influenzaviren in menschlichen Zellen vermehrt haben. So verhindern sie nicht die Infektion, aber die weitere Verbreitung im Körper. Damit sollen die Arzneistoffe die Dauer und Ansteckungsphase beim einzelnen Grippekranken verkürzen und die Symptome mildern. Unabhängige Studien, die dies beweisen, fehlen jedoch. /
Vertane Chance
Es hat schon etwas von einem Worst-case-Szenario, wenn eine Arzneimittelgruppe so in die Schlagzeilen gerät, wie kürzlich die Neuraminidase-Hemmer Oseltamivir (Roche) und Zanamivir (GlaxoSmithKline). Das Problem aus pharmapolitscher Sicht liegt nicht etwa darin, dass Wirksamkeit oder Nutzen angezweifelt werden. Vielmehr liegt es darin, dass man es Kritikern so einfach macht, indem man sie nach Daten suchen lässt, die es offensichtlich gibt, und indem man ihnen die Daten vorenthält, nachdem diese sie gefunden zu haben – wenn das denn tatsächlich der Fall sein sollte. Der Vorwurf, der hier zu allererst im Raum steht, lautet: publication bias! Und dieser Vorwurf richtet sich weniger an GlaxoSmithKline als vielmehr an Roche, um hier korrekt zu sein.
Über Wirksamkeit und Nutzen kann man streiten, vor allem dann, wenn man gesund und nicht betroffen ist. Einen solchen Streit sollte man aber mit offenem Visier ausfechten, und hier scheint es Probleme zu geben. Denn leider ist es so, dass im Zweifel heute immer die pharmazeutische Industrie in der öffentlichen Wahrnehmung als Verlierer dasteht – berechtigt oder unberechtigt.
Dass sich ein Wirkstoff als Target für eine überkritische Evaluation anbietet, der u. a auf der Basis zugelassen wurde, die Krankheitsdauer bei einer Infuenza-Infektion bei Patienten ohne Grunderkrankung um etwa einen Tag zu verkürzen, liegt gewissermaßen auf der Hand. Sich darauf zu verlassen, dass Unregelmäßigkeiten in der heutigen Zeit unentdeckt bleiben, ist entweder naiv oder arrogant. Das eine ist so schlimm wie das andere. Denn so verhärten sich Feindbildklischees, wodurch die Interessen der pharmazeutischen Industrie wie die der Patienten gleichermaßen beeinträchtigt werden. Der »Sieger« einer solchen Auseinandersetzung ist immer der »Pharmaskeptiker«, der diese Position entweder einnimmt, weil er gesund ist oder weil es sein Geschäftsmodell ist.
Im Pharmabusiness darf man heute in puncto Transparenz und Redlichkeit keinerlei Kompromisse zulassen. Dann bleibt immer noch genug Raum für »Streit« um Wirksamkeit und Nutzen. Und schließlich sind die Neuraminidase-Hemmer auch Substanzen »von öffentlichem Interesse«. Sie wurden mit erheblichen Mitteln aus dem Steueraufkommen zur Eindämmung einer möglichen Epidemie/Pandemie in die Reserve genommen.
Da muss man es sich erst recht und zu Recht gefallen lassen, kritisch unter die Lupe genommen zu werden. Aber fair muss es dabei zugehen. Fairness kann man allerdings nur erwarten, wenn alle Bewertungskriterien auf dem Tisch liegen. In der jetzigen Situation scheint diese Chance vertan.
Professor Dr. Theo Dingermann
Mitglied der Chefredaktion