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Weltraumpharmazie

50 Jahre Apollo 11

Am 20. Juli 1969 (21. Juli MEZ) betraten die ersten Menschen den Mond. An Bord von Apollo 11 waren sorgsam ausgesuchte Arzneimittel, darunter Acetylsalicylsäure, D-Amphetamin, Secobarbital und Oxymetazolin. Aus Anlass des 50-jährigen Mondlande-Jubiläums ein Blick auf die Entwicklung der Weltraumapotheken und die gewonnenen pharmazeutischen und medizinischen Erkenntnisse.
Christiane Staiger
07.07.2019  08:00 Uhr

Zu Beginn der bemannten Raumfahrt waren die Auswirkungen einer Weltraummission auf den menschlichen Organismus unklar. Wie würde sich ein längerer Zustand der Schwerelosigkeit auf die Körperfunktionen, besonders Atmung, Kreislauf, Bewusstsein, Magen-Darm-Tätigkeit, Reaktions-, Konzentrations- und Sehfähigkeit und andere geistige Leistungen der Raumfahrer auswirken? Wie würden Menschen die hohen Beschleunigungen von einem Vielfachen der Erdgravitation, die auf dem Weg ins All und zurück zur Erde auf sie einwirken, körperlich meistern?

Um die Astronauten bestmöglich hierauf vorzubereiten, stellte man weitreichende Tests an. In einem rigiden Auswahlverfahrens mussten die Kandidaten ihre exzellente körperliche Fitness sowie Stressfestigkeit, Geschicklichkeit, Durchhalte- und Teamfähigkeit und den lösungsorientierten Umgang mit unvorhergesehenen Zwischenfällen beweisen. Beispielsweise war in den USA als Leistungstest gefordert, im Rhythmus eines Metronoms fünf Minuten lang auf eine 50 cm hohe Plattform hinauf- und herunterzuspringen; als Motivationstest mussten die Füße sieben Minuten lang in Eiswasser gehalten werden.

Aus der Militärfliegerei bestanden viele flugmedizinische Vorkenntnisse. Unter anderem deshalb wurden für die ersten Raumfahrprogramme ausschließlich erfahrene Militärpiloten ausgewählt. Die Bedingungen des Weltalls versuchte man bestmöglich zu simulieren. Die Beschleunigungskräfte lassen sich auf der Erde mit Zentrifugen erzeugen. Diese bilden bis heute ein wichtiges Trainingselement in der Astronauten- und Kosmonauten-Ausbildung.

Schwerelosigkeit lässt sich allerdings nur für weniger als eine Minute mit außergewöhnlichen Flugmanövern herbeiführen. Die Parabelflüge konnten zwar nicht die Frage nach den langfristigen Auswirkungen auf den menschlichen Körper beantworten, bewährten sich aber ebenfalls bis heute als wichtiges Element in der Ausbildung. Zum Beispiel übte man, einen Raumanzug in Schwerelosigkeit an- und auszuziehen.

Um Menschen keinen unwägbaren Gefahren auszusetzen, erprobte man den Raumflug zunächst mit Tieren, etwa Mäusen. Besonders bekannt wurden die Hündin Laika auf sowjetischer und die Schimpansen Ham und Enos auf US-amerikanischer Seite. Nachdem sie ihre Raketenflüge gut überstanden hatten, schickte man auch Menschen ins All.

Wostok und Mercury: erstmals Menschen im All

Die ersten Raumfahrer starteten ihre Reise unter besonderer medizinischer Beobachtung. Am 12. April 1961 umrundete Juri Alexejewitsch Gagarin (1934 bis 1968) in seinem Geschichte machenden Flug als erster Mensch die Erde einmal im Orbit. Der Aufenthalt im All dauerte 108 Minuten. Währenddessen nahm Gagarin in seinem Raumschiff Wostok 1 auch einen Snack aus der Tube zu sich. Damit wollte man testen, ob ungehindertes Schlucken, Essen und Trinken im All möglich war.

Auch die NASA (National Aeronautics and Space Administration, Weltraumbehörde der USA) sammelte möglichst viele medizinische Daten. Während des ersten US-Raumfahrprogramms, den mit einem Mann besetzten Mercury-Missionen (1961 bis 1963), wurden ständig Atemfrequenz, Blutdruck, Herzfunktion und Körpertemperatur (mit einem rektal eingeführten Thermoelement) überwacht. Gesicht und Oberkörper wurden während des Flugs gefilmt.

Die Bordapotheke war auf die Kürze der Missionen und die größten medizinischen Risiken abgestimmt. Oralia konnten in dem geschlossenen Raumanzug nicht eingenommen werden. So waren vier Injektionsspritzen, sogenannte Astropen, in die Raumanzüge eingearbeitet, die bei Bedarf ausgelöst werden konnten und automatisch die nötige Einzeldosis der Medikamente injiziert hätten. Die Astropen enthielten Arzneizubereitungen gegen Schmerz (Pethidin), Schock (Metaraminol), Kinetosen (Cyclizin) und ein Stimulans (Amphetamin).

Erst beim letzten, mehr als einen Tag dauernden Mercury-9-Flug kam auch eine Tablette mit an Bord und zum Einsatz. Astronaut Leroy Gordon Cooper (1927 bis 2004) schluckte auf Anweisung kurz vor dem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre 5 mg Dextro-Amphetaminsulfat, um der nach mehr als 33 Stunden im Orbit aufkommenden Müdigkeit entgegenzuwirken. Der medizinische Bericht wies darauf hin, dass damit jedoch nicht die orthostatischen Regulationsstörungen gemildert wurden, die nach der Landung auftraten.

Dass die auf den Mercury-Missionen gesammelten Daten heute noch eine nützliche Basis für wissenschaftliche Erkenntnisse bilden, beweist eine Publikation aus dem Jahr 2018. Die erneute Auswertung zeigt, dass die gemessenen körperlichen Anstrengungen wohl weniger den kurzen Aufenthalten im All geschuldet waren als vielmehr der Tatsache, dass die Astronauten von der Startvorbereitung bis zur Landung viele Stunden in den engen, schlecht klimatisierten Raumanzügen verbringen mussten (doi: 10.1038/s41526-018-0040-5).

Gemini, Woskhod, Sojus und Apollo

Die Eroberung des Weltraums war auch ein Wettlauf zwischen den Weltmächten UdSSR und USA. Lange hatte die Sowjetunion einen Vorsprung. Sie schickte 1961 mit Juri Gagarin den ersten Mann und 1963 mit Valentina Tereshkova (geboren 1937) die erste Frau ins All. Gherman Titov (1935 bis 2000) war der erste Kosmonaut, der länger als 24 Stunden um die Erde kreiste, und Alexei Leonov (geboren 1934) gelang der erste Ausstieg in den freien Weltraum. Außerdem sammelte die UdSSR die ersten Erfahrungen mit einer Drei-Mann-Besatzung.

Um den Rückstand aufzuholen, proklamierte US-Präsident John F. Kennedy (1918 bis 1963) ein ehrgeiziges Ziel: Bis Ende der 1960er-Dekade sollte die Landung auf dem Mond einschließlich der sicheren Rückkehr der Astronauten zur Erde gelingen.

Nach dem Programm Mercury startete die NASA 1965 deshalb die Gemini-Raumflüge. An Bord waren jeweils zwei Astronauten. Erfolgreich erprobten sie wichtige Manöver wie den Ausstieg in den Weltraum und die Kopplung zweier Raumschiffe.

Mit dem mit drei Mann besetzten Apollo-Programm nahmen die USA dann den Flug zum Mond in Angriff. Frank Frederick Borman (geboren 1928), William Alison Anders (geboren 1933) und James Arthur Lovell (geboren 1928) verließen als erste Menschen den Erdorbit und umkreisten in Apollo 8 den Mond. An Weihnachten 1968 war die Welt beeindruckt von ihrer Übertragung aus dem Mondorbit, während der sie die ersten Zeilen der biblischen Schöpfungsgeschichte als Friedensbotschaft verlasen. Und sie machten Fotos, die heute fast jeder kennt: die volle blauweiße Komplettansicht der Erde als Kugel vor dem schwarzen Hintergrund des Weltraums und die aufgehende Erde über dem Mondhorizont.

Auch für die Apollo- und die konkurrierenden Sojus-Kapseln stellte man eine Bordapotheke zusammen. Einige Grundbestandteile finden sich in der sowjetischen wie der amerikanischen Raumfahrt: Analgetika, Antibiotika, Sedativa und Antiemetika. Die Bestückung trug der Verlängerung der Missionen Rechnung und enthielt vor allem Arzneistoffe gegen Beschwerden und Erkrankungen, die den Erfolg der Missionen gefährden konnten: Übelkeit, eine die Atmung behindernde verstopfte Nase, Magen-Darm-Beschwerden oder trockene Augen.

Auswahl der Weltraumarzneimittel

Entsprechend sorgfältig ging die NASA bei der Bestückung der »medical kits« vor. Zu Beginn der Planungen für die Mondreise definierte sie, welche Erkrankungen die Mission beeinträchtigen könnten, wie hoch das Risiko des Auftretens war und welche Arzneimittel Priorität haben sollten. Um Gewicht zu sparen, konnte man nicht alle Medikamente der NASA-Empfehlungsliste mitnehmen. Ausgewählt wurden unter anderem Ampicillin, Cyclizin, Dextroamphetamin, Secobarbital, Meperidin, Acetylsalicylsäure und Tetracyclin. Alle Astronauten erprobten alle gewählten Arzneimittel auf der Erde, um Unverträglichkeiten auszuschließen.

Man griff auch auf die langjährigen Erfahrungen aus der Militärfliegerei zurück. Ein Beispiel: Mit Amphetaminen wurde die Müdigkeit über viele Stunden verdrängt und anschließend wurden Barbiturate eingesetzt, um schlafen zu können. Tatsächlich bevorzugte die NASA Barbiturate und Neuroleptika als Hypnotika, obwohl Chlordiazepoxid bereits seit 1960 als erstes Benzodiazepin und Diazepam seit 1963 auf dem Arzneimittelmarkt eingeführt waren. Vermutlich wollte man bei einem so umfangreichen Unternehmen wie dem Apollo-Programm mit zahllosen Neuheiten in der Raketen- und Werkstofftechnik wenigstens beim Faktor Gesundheit auf Bekanntes zurückgreifen.

Eine Ausnahme gab es jedoch: Die Nasentropfen von Apollo waren eine echte Marktneuheit der 1960er-Jahre, sie enthielten den in Deutschland entwickelten Wirkstoff Oxymetazolin. Die NASA war wegen seiner verlässlichen Wirksamkeit und guten Verträglichkeit schnell darauf aufmerksam geworden. Dies wirkt bis heute nach: Die in Monografien und Literatur tradierten Angaben zur Wirkdauer stammen tatsächlich nicht aus irdischen klinischen Versuchen, sondern aus den Erkenntnissen der Anwendung im Weltraum.

20. Juli 1969: Mondlandung

Mit Apollo 11 und der bevorstehenden Mondlandung wurde die Öffentlichkeit rund um den Globus vom Weltraumfieber erfasst. Als Michael Collins seine Kollegen Buzz Aldrin (beide geboren 1930) und Neil Alden Armstrong (1930 bis 2012) aus der Mondumlaufbahn abgesetzt hatte und die beiden dann in den frühen Morgenstunden des 21. Juli 1969 (MEZ) durch den Mondstaub hüpften, schaute die Welt gebannt am Fernsehgerät zu: »That’s one small step for (a) man; one giant leap for mankind«.

Zur Apollo-11-Mission veröffentlichte die NASA ein ausführliches Pressehandbuch mit insgesamt 250 Seiten. Der Eintrag zur Bordapotheke ist mit nur 14 Zeilen kurz gefasst. Danach enthielt das medical-kit des Kommandomoduls Columbia für die drei Astronauten folgende Tabletten nach Anzahl und Anwendungsgebiet: »Pills in the medical kit are 60 antibiotic, 12 nausea, 12 stimulant, 18 pain killer, 60 decongestant, 24 diarrhea, 72 aspirin and 21 sleeping«.

Eine weitere kleine Medizintasche befand sich im Lunarmodul Eagle (Adler). Sie enthielt vier Tabletten mit Stimulanzien, acht gegen Durchfall, zwei Schlaftabletten, vier gegen Schmerzen, zwölf Aspirin, zwei Flaschen mit Augen- und Nasentropfen und Kompressen.

Die sowjetische Weltraumbehörde veröffentlichte nur wenige Erfahrungen mit Arzneimitteln. Bekannt ist, dass bei den Missionen Sojus 19 und Salut 4 (1975) alle Besatzungsmitglieder Phenibut-Tabletten (Tranquilizer) einnahmen – wohl, um zur passenden Zeit zur Ruhe zu kommen. Ferner kamen Metamizol, Vitaminkomplexe, Kalium-Magnesium-Asparaginat (Antiarrhythmikum) und ein »Komplex zur Normalisierung von Stoffwechselprozessen« zum Einsatz. Das Verzeichnis der Bordapotheke führt unter anderem nicht näher spezifizierte Strahlenschutztabletten, Aspirin, Promedol (Analgetikum), Etapersasin (Antiemetikum), Antibiotika, Codein mit Soda, Schlafmittel, Atropin zur Injektion, tonisierende Mittel, Cordiamin zur Injektion (Stimulans), Ajmalin, Antihistaminika, Abführmittel, Bellalgin (Metamizol, Benzocain, Belladonnawurzel-Trockenextrakt), Mittel gegen Meteorismus sowie Nasen- und Augensalben auf.

Shuttle, Mir und ISS: immer längere Aufenthalte

Bis heute hat sich die Raumfahrt vor allem im erdnahen Orbit weiterentwickelt. Mit der Einführung eines wiederverwendbaren Raumgleiters, des Space Shuttles, und der Einrichtung der ersten dauerhaft bemannten Raumstation Mir wurden Weltraumbesuche immer regelmäßiger.

Wer eine Bordapotheke des Space Shuttles sehen möchte, muss nicht bis in die USA reisen. Die portugiesische Dachorganisation der Apotheker betreibt in Lissabon ein bemerkenswertes pharmaziehistorisches Museum. Dort ist in der Weltraumabteilung eine Originalbordtasche zu sehen. / Foto: Staiger
Verwechslungen zu vermeiden, trägt jedes Kunststoffmehrdosenbehältnis eine Abbildung der darin enthaltenen Oralia. Der Deckel ist mit einer kleinen Schnur gegen das Davonschweben nach dem Öffnen gesichert. / Foto: Staiger

Mit den längeren Aufenthalten im All wuchs auch die Liste der möglichen medizinischen Zwischenfälle. Daher erstaunt es nicht, dass immer mehr Medikamente in der Bordapotheke mitgeführt wurden. 1994 wies die alphabetische Liste der Arzneimittel und Medizinprodukte des amerikanischen Space Shuttles mehr als 200 Positionen aus. Allerdings sind dabei einige Arzneimittel sowohl unter Marken- wie auch Freinamen doppelt aufgeführt.

Auch die Raumstation Mir verfügte über mehrere Apotheken. Statt einer großen waren mehrere kleinere, nach Indikationsgebieten sortierte Arzneitaschen an Bord.

Das Prinzip der anwenderbezogenen Beschriftung verfolgte auch die NASA von Beginn an. Astronauten sind zwar gut und vielfältig ausgebildet, aber doch pharmazeutische Laien. Deshalb wäre die Beschriftung mit den Namen der Arzneistoffe oder Fertigarzneimittel wenig hilfreich. Stattdessen steht bis heute stets die Indikation, zum Beispiel »gegen Durchfall«, im Vordergrund.

Auf der Internationalen Raumstation ISS (International Space Station) wurde neben der pharmazeutischen auch die medizinische Ausrüstung stark ausgeweitet. Dort ist man technisch für Zahnbehandlungen, Wiederbelebungsmaßnahmen und Operationen gut gerüstet. Die verschiedenen medical-kits sind mit unterschiedlichen Farben gekennzeichnet und decken eine sehr breite Palette möglicher Beschwerden und Erkrankungen ab.

Arzneimitteltherapie im All

Der menschliche Körper unterliegt im All physiologischen Veränderungen. So belasten die Weltraumbedingungen das Immun- und Herz-Kreislauf-System. Die Körperflüssigkeiten, vor allem Blut und Gewebewasser, verteilen sich im Köper anders und wandern von den Beinen in den Kopf (fluid shift). Als Folge schwillt das Gesicht an, die Beine werden dünner (puffy faces, bird legs).

Organsystem Folgen
Knochen- und Muskelaufbau Abbau der Knochensubstanz (ähnlich der Osteoporose), Verlust an Muskelmasse und -kraft
Rückenschmerzen Ausdehnung der Bandscheiben, Zunahme der Körperlänge um etwa 5 cm
Nierensteine höhere Calciumausscheidung durch den Abbau aus den Knochen
Flüssigkeitsverschiebung Richtung Oberkörper und Kopf (fluid shift, puffy faces, bird legs)
Herz-Kreislauf-System Blutdruck sinkt um 10mmHg in sechs Monaten im Vergleich zur aufrechten Position auf der Erde, Herzschlagvolumen und Auswurf steigen
Sehstörungen Verlagerung der Körperflüssigkeiten zum Kopf, physikalisches Verhalten des Augapfels
Tabelle: Gesundheitliche Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf den Körper

Trotz ausführlichen Trainings leiden etwa 60 Prozent aller Astronauten unter der »space motion sickness«, also der Raumadaptationskrankheit, die sich wie die Reisekrankheit in Übelkeit und Erbrechen äußert. Nach einigen Tagen im All gewöhnt sich der Körper zunehmend an die Schwerelosigkeit. Bestehen bleibt das verminderte Geschmacksempfinden, weshalb die mitgeführten Speisen stärker gewürzt sind als üblich. Außerdem büßen Astronauten monatlich 1 bis 2 Prozent ihrer Knochendichte ein. Die wichtigsten Folgen des längeren Aufenthalts in der Schwerelosigkeit zeigt die Tabelle.

Vielen dieser Beschwerden kann man medikamentös begegnen. Entsprechend häufig werden die mitgeführten Arzneimittel auch angewendet. Eine Auswertung von 33 Space-Shuttle-Flügen ergab, dass 83 von 107 (78 Prozent) Crew-Mitglieder Arzneimittel eingenommen hatten. Am häufigsten versuchten sie, die Raumkrankheit (30 Prozent), Kopfschmerzen (20 Prozent), Schlaflosigkeit (15 Prozent) und Rückenschmerzen (10 Prozent) medikamentös zu bekämpfen.

Bei einer ähnlichen Auswertung für Crew-Mitglieder der ISS lag die Anwendung bei einigen Indikationen noch höher. 71 Prozent der Astronauten griffen zu Schlaftabletten, überwiegend Z-Substanzen; die Hälfte nahm Arzneimittel gegen Kopfschmerzen oder Arzneimittel gegen allergische Reaktionen oder verstopfte Nasen. Ein Viertel der Personen an Bord behandelte Hautausschlag (rash) medikamentös.

Wie stabil sind Medikamente im All?

Aus pharmazeutischer Sicht ist die Stabilität der Arzneimittel im All besonders interessant. Derzeit tauscht man die Apotheken der ISS regelmäßig im Abstand von mehreren Monaten aus, um Stabilitätsprobleme zu umgehen. Aufgrund der erhöhten Strahlung ist diese bei vielen Arzneistoffen und Arzneiformen, beispielsweise bei Retardüberzügen oder Lösungen, verringert. Auch das Umpacken aus den Originalblistern in die Bordapotheken beeinträchtigt die Haltbarkeit. Untersuchungen an einer kleineren Stichprobe von Arzneimitteln, die zur Erde zurückgebracht wurden, ergaben, dass die Kriterien des amerikanischen Arzneibuchs USP bei den meisten Solida noch erfüllt waren.

Für eine mehrjährige Reise zum Mars müssen jedoch deutlich längere Haltbarkeiten erfüllt werden. Weder soll der Wirkstoffgehalt drastisch abnehmen noch sollen toxischen Metaboliten entstehen. Arzneiformen und Primärverpackungen müssen die beste Stabilität gewährleisten.

Bislang haben mehr als 40 Nationen Menschen ins All gesandt. Besonders die ISS hat viele internationale Besucher verschiedener Ethnien. Knapp ein Drittel der Arzneistoffe (24 von 78) an Bord sind jedoch polymorphe CYP-Substrate. Eine Publikation aus dem Jahr 2015 schlägt daher eine obligatorische pharmakogenetische Diagnostik vor, die dazu beitragen könnte, Therapieversagen oder unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu verhindern. Besser solle die Arzneidosis individualisiert werden (doi: 10.1371/journal.pone.0140764).

Antiorthostatic Bedrest (ABR)

Um Folgen der Schwerelosigkeit teilweise simulieren und untersuchen zu können, entwickelte man das Antiorthostatic Bedrest (ARB)-Modell. Hierzu liegen gesunde Probanden in einem Bett, das kopflastig in einem Winkel von 6 bis 12 Grad nach unten geneigt ist. In dieser Position treten ähnliche Flüssigkeitsumverteilungen wie im schwerelosen Zustand auf: Die Körperflüssigkeiten verlagern sich von den Beinen in den Torso, Oberkörper und Kopf. So kann man zum Beispiel Pharmakokinetik und -dynamik gezielt untersuchen. Allerdings müssen die Probanden »leidensfähig« sein: Mehrere Tage ohne Pause in dieser Position im Bett zu verbringen, erfordert viel Geduld und Motivation.

An Untersuchungen zur Pharmakokinetik waren Apotheker der Universiy of Florida in Gainesville beteiligt. Die Probanden mussten dabei 72 Stunden in der ungewohnten Bettlagerung verbringen.

Doch es gibt noch herausforderndere Programme: Aktuell rekrutiert das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) Teilnehmer für eine Langzeit-Bettruhe-Studie. Untersucht werden die Auswirkungen künstlicher Schwerkraft mittels Zentrifugen-Fahrten auf die negativen Effekte der Schwerelosigkeit (AGBRESA-Studie). Die Studie dauert insgesamt 89 Tage, davon 60 Tage Bettruhe in der geneigten Position ohne Kopfkissen. Während der Bettruhephase finden sämtliche Aktivitäten im Liegen statt: Duschen (auf einer speziellen Duschliege), Essen, Toilettengang (wie im Krankenhaus) und Freizeitgestaltung. Bei allen Aktivitäten muss mindestens eine Schulter stets das Bett berühren. Die korrekte Körperhaltung wird ständig per Kameraüberwachung kontrolliert. Für jeden Probanden steht ein Einzelzimmer zur Verfügung. Besuch darf man während der gesamten Studie nicht empfangen, die Ernährung ist standardisiert. 

NASA Twin Study

Ein einmaliges Experiment unternahm die NASA 2015. Sie nutzte dabei die Tatsache, dass sich ein eineiiges Zwillingspaar in ihrem Astronautencorps befindet. Mark und Scott Kelly (geboren 1964) sind ähnlich ausgebildet und waren beide schon mehrfach im Weltall. Nun verbrachte Scott 340 Tage auf der ISS. Sein Bruder fungierte auf der Erde als Kontrollperson für die Untersuchungen zu den gesundheitlichen Folgen eines langen Aufenthalts im All.

Beide absolvierten vor, während und sechs Monate nach der Mission viele kognitive Tests, sehr ausführliche medizinische Untersuchungen und lieferten zahlreiche Urin- und Blutproben. Um die Proben aus dem All zeitnah untersuchen zu können, wurden sie regelmäßig zur Erde und dann schnell in die beteiligten Labore gebracht. Dabei ließen sich die Bedingungen im Hinblick auf Temperatur oder Erschütterungen nicht immer uniformieren, aber doch soweit kontrollieren, dass die Befunde aussagekräftig waren.

Die Ergebnisse der Zwillings-Studie erschienen im April 2019 in der Zeitschrift »Science« (doi: 10.1126/science.aau8650). Viele von Scotts Untersuchungswerten veränderten sich im All, normalisierten sich nach der Erdenrückkehr aber schnell. Die Endstücke vieler Chromosomen, die Telomere, wurden ebenfalls ausführlich analysiert. Bei Scott sind sie sechs Monate nach der Rückkehr kürzer als zuvor, nicht so bei seinem Bruder. Welche möglichen Konsequenzen das für den Alterungsprozess hat, ist noch unklar.

Im Vergleich der Brüder haben sich einige geistige Fähigkeiten innerhalb des Beobachtungszeitraums bleibend verändert. Die Kombination aus Schnelligkeit und Richtigkeit beim Lösen standardisierter Aufgaben war bei Scott geringer als vor dem Flug, nicht aber bei seinem Bruder. Zu den höheren Risiken gehören nach Ansicht der Autoren die Veränderungen an der DNA, die sich auch sechs Monate nach der Rückkehr nicht zurückgebildet hatten. Die Instabilität des Genoms könnte das Proteininventar des Körpers verändern. Die Folgen für die Gesundheit, zum Beispiel das Krebsrisiko, seien weiter zu erforschen.

Auch die strukturellen Veränderungen am Auge halten die Wissenschaftler für kritischer als bislang gedacht. Wegen der Verlagerung der Flüssigkeiten in den Brust- und Kopfbereich und wegen des höheren Hirndrucks im All berichten rund 40 Prozent der Astronauten über Sehstörungen, insbesondere nach der Rückkehr zur Erde. Der fluid shift belastete auch Scotts Herz-Kreislauf-System. So wurde eine Verdickung seiner Halsschlagader gemessen. Zudem erhöhten sich etliche Entzündungsparameter, während sie bei Mark auf der Erde unverändert blieben.

Auf dem Weg zum Mars

Die Folgen langfristiger Schwerelosigkeit und die hohe Strahlung, die beim Verlassen des schützenden Magnetfelds der Erde bei Reisen zum Mond oder Mars auf den Körper einwirken, sind die wichtigsten medizinischen Herausforderungen, die näher zu bewerten sind. Scott Kelly war bei seinem fast einjährigen Aufenthalt im erdnahen Orbit einer Strahlenbelastung von 146,3 Millisievert ausgesetzt. Dies entspricht etwa der natürlichen Strahlenexposition in 50 Jahren auf der Erde. Um ein Vielfaches größer wäre die Belastung bei einer dreijährigen Mission zum Mars, besonders dann, wenn Sonneneruptionen zusätzliche Strahlungen aussenden.

Die Verantwortlichen sind sensibilisiert. Bei neuerlichen Mondmissionen gilt es, mögliche Gegen- oder Schutzmaßnahmen zu berücksichtigen. Sollte die NASA einen Flug zum Mars wagen, hat sie bereits festgelegt, dass ein, vielleicht sogar zwei Crew-Mitglieder Arzt sein werden.

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