Wirkstoffverordnung im Fokus |
Sven Siebenand |
15.08.2019 12:36 Uhr |
Kann der Apotheker das Rezept zu dem festgesetzten Preisanker nicht bedienen, muss er den behandelnden Arzt anrufen und nach einer alternativen Verordnung fragen. / Foto: Shutterstock/racorn
Wegen des Preisankers sind Rücksprachen mit der Arztpraxis derzeit an der Tagesordnung. Die Apotheker sind von der Mehrarbeit genervt und die Ärzte fühlen sich von den vielen (leider notwendigen) Anrufen aus den Apotheken gestört. Daher weisen einige Kassenärztliche Vereinigungen mittlerweile ihre Ärzte auf die Vorteile einer reinen Wirkstoffverordnung hin. Auf den ersten Blick ergeben sich auch für Apotheken einige Pluspunkte: der Preisanker entfällt, der Handlungsspielraum bei Lieferengpässen wird größer und Telefonate mit der Arztpraxis sind seltener notwendig. Und natürlich bedeutet eine reine Wirkstoffverordnung auch mehr Verantwortung in der Arzneimitteltherapie.
Die Wirkstoffverordnung als ultimative Lösung anzusehen, wäre jedoch zu kurz gedacht. Denn sie ist in manchen Fällen schlichtweg nicht eindeutig, etwa mit Blick auf Wirkstoffe, die auf der Substitutionsausschlussliste stehen. In diesen Fällen wären Wirkstoffverordnungen immer als unklare Verordnungen zu betrachten. Beispielsweise stehen Levothyroxin-Tabletten, Carbamazepin-Retardtabletten sowie Ciclosporin-Weichkapseln und PhenprocoumonTabletten auf dieser Liste.
Auch die Verordnung von biotechnologisch hergestellten Arzneimitteln führt bei einer reinen Wirkstoffverordnung in vielen Fällen zu einem Problem. »Wirkstoffgleich sind auch biotechnologisch hergestellte Arzneimittel, sofern diese auf das jeweilige Referenzarzneimittel Bezug nehmend zugelassen sind und sich in Ausgangsstoffen und Herstellungsprozess nicht unterscheiden«, heißt es im Rahmenvertrag. Biosimilars gibt es mittlerweile viele auf dem Markt, Bioidenticals dagegen deutlich weniger. Die Liste der austauschbaren Bioidenticals im Rahmenvertrag ist deswegen auch sehr übersichtlich. Ein gutes Beispiel für diese Problematik sind die verfügbaren Präparate mit dem Antikörper Infliximab. Nur teilweise sind die Medikamente bioidentisch und könnten gegeneinander ausgetauscht werden. Eine reine Wirkstoffverordnung über Infliximab wäre aber immer unklar und erfordert stets eine Nachfrage beim Arzt. Infliximab ist kein Einzelfall. Zum Beispiel bei Adalimumab- und Filgrastim-Präparaten besteht das gleiche Problem.
Laut Rahmenvertrag muss das für die Abgabe ausgewählte Medikament gegenüber dem ärztlich verordneten Fertigarzneimittel für ein gleiches Anwendungsgebiet zugelassen sein. Die Übereinstimmung in einem von mehreren Anwendungsgebieten ist dabei ausreichend. So weit, so gut. Bei einer reinen Wirkstoffverordnung kann es aber durch unterschiedlich zugelassene Anwendungsgebiete dennoch Probleme geben. Doxazosin-Präparate sind beispielsweise für die Behandlung der essenziellen Hypertonie, für klinische Symptome der benignen Prostatahyperplasie oder für beides zugelassen. Die Diagnose muss daher auch auf ein solches Rezept, damit die Verordnung nicht unklar wird. Zudem ließe sich bei einer Doxazosin-Verordnung auch der Fall konstruieren, dass eine Bluthochdruckpatientin am Schluss ein Präparat in den Händen hält, das im Beipackzettel nicht die essenzielle Hypertonie, sondern nur die Behandlung von klinischen Symptomen der benignen Prostatahyperplasie als Einsatzgebiet ausweist. Im Zusammenhang mit den Anwendungsgebieten gibt es noch ein zweites Detail, das man beachten sollte: Präparate mit Wirkstoffen wie Topiramat, Duloxetin, Sulfasalazin oder Levodopa/ Benserazid können aufgrund unterschiedlicher Indikationen auch in verschiedenen Kategorien der Packungsgrößenverordnungen fallen. Bei Topiramat-haltigen Mitteln für die Migräneprophylaxe entsprechen 50 Tabletten der N2-Größe. Bei Topiramat als Antiepileptikum sind 50 Tabletten dagegen nur die N1-Packung. Eindeutig wird die reine Wirkstoffverordnung also auch in diesem Fall erst mit der zugehörigen Diagnose auf dem Rezept.
Die verschiedenen Salze, Ester, Ether, Isomere, Mischungen von Isomeren, Komplexe und Derivate eines Wirkstoffs gelten zwar laut Rahmenvertrag als ein und derselbe Wirkstoff. Es sei denn, ihre Eigenschaften unterscheiden sich nach wissenschaftlichen Erkenntnissen erheblich hinsichtlich der Unbedenklichkeit und der Wirksamkeit. Diese Einschränkung ist wichtig und macht eine reine Wirkstoffverordnung unter Umständen problematisch. Beispiel Amantadin 100 mg: Je nach verwendetem Wirkstoffsalz, ist der Anteil an reiner Wirkstoff-Base durchaus unterschiedlich. Im Falle des Hydrochlorids sind es 80,58 mg Amantadin-Base, beim Hemisulfat jedoch nur 75,2 mg Amantadin-Base. Nicht eine Wirkstoffverordnung, sondern eine Wirkstoffsalz-Verordnung wäre an dieser Stelle tatsächlich sinnvoll. Auch dies ist kein Einzelfall. Jedoch fallen die Unterschiede bei anderen Wirkstoffen und ihren Salzen, etwa bei Metoprololsuccinat und -tartrat sowie Morphinsulfat und -hydrochlorid deutlich geringer aus.
Problematisch wird die reine Wirkstoffverordnung auch bei jenen Substanzen, die sowohl im Rx- als auch im OTC-Bereich verfügbar sind. Denn der Rahmenvertrag untersagt den Austausch zwischen Fertigarzneimitteln, die sich hinsichtlich ihrer Verschreibungspflicht unterscheiden. Ibuprofen 200 oder 400 mg, Omeprazol 20 mg, Pantoprazol 20 mg oder Loperamid 2 mg: Dies sind nur einige Beispiele für unklare Wirkstoffverordnungen, die es erfordern, mit dem Arzt abzuklären, ob ein verschreibungspflichtiges oder ein apothekenpflichtiges Präparat abgegeben werden soll.
Und nicht zuletzt gilt es auch zu berücksichtigen, dass reine Wirkstoffverordnungen Patienten weiter verunsichern, wenn sie – je nach Apotheke – ein unterschiedliches Medikament, und unter Umständen sogar mit einem ganz anderen Namen, erhalten. Sicher haben sich viele Versicherte aufgrund der Rabattverträge schon daran gewöhnt, zuträglich für die Adhärenz ist ein permanenter Präparatewechsel aber sicher nicht. Die reine Wirkstoffverordnung funktioniert in vielen Fällen und löst auch manchen Konflikt, etwa wenn der Kunde auf genau das Fertigarzneimittel der Firma XY besteht, das der Arzt (leider ohne Aut-idem-Kreuz) verordnet hat. Rückfragen in den Arztpraxen lassen sich dank der Wirkstoffverordnung vermutlich reduzieren. Die restlichen Problemfälle, die mit dem Arzt zu besprechen sind, sind unter Umständen aber von sehr komplexer Natur.