»Wir können alle voneinander lernen« |
In ihrem Projekt Televisite konnten Natalia Kirsten und Kollegen die Zahl der stationären Aufnahmen bei Patienten mit chronischen Wunden um 40 Prozent senken. / Foto: Adobe Stock/PC-Prod
PZ: Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) der Telemedizin den Weg in die Fläche geebnet. Ist das Gesundheitswesen bereit dafür oder kommt das Gesetz zu früh?
Kirsten: Ein Schnellschuss war das sicher nicht. Die Diskussion ist bereits seit einiger Zeit in der Öffentlichkeit präsent. Wir hinken merklich hinterher, was die Digitalisierung im Gesundheitssektor betrifft. In Skandinavien etwa ist die Telemedizin schon seit Jahren fest implementiert, die Kollegen dort haben wunderbare Erfahrungen damit gesammelt. In Deutschland stehen wir der Telemedizin insgesamt noch viel zu kritisch gegenüber. Daher brauchen wir unbedingt jemanden wie Herrn Spahn, der das Thema vorantreibt.
PZ: Beim Fortbildungskongress Pharmacon in Meran haben Sie über eines Ihrer Projekte berichtet, bei dem Sie Patienten mit chronischen Wunden telemedizinisch betreut haben. Wie war die Studie aufgebaut?
Kirsten: 2014 haben wir in Hamburg gemeinsam mit der DAK Gesundheit die sogenannte Televisite gestartet, die darauf abzielte, Pflegepersonal und niedergelassene Ärzte telemedizinisch zu unterstützen. Jeder Behandler hat ein Smartphone bekommen und sollte uns einmal pro Woche ein Foto von der jeweiligen Wunde der 145 teilnehmenden Patienten schicken. Wenn meine Kollegen und ich Verbesserungsbedarf bei der Therapie gesehen haben – zum Beispiel was die Art der Wundauflage betrifft – haben wir dem Arzt eine entsprechende Rückmeldung gegeben. Zudem konnten uns die niedergelassenen Ärzte auch direkt kontaktieren, wenn sie Fragen bezüglich der Behandlung hatten oder wenn sie der Meinung waren, es sei eine stationäre Aufnahme nötig.
PZ: Hat das die Versorgung der Patienten spürbar verbessert?
Kirsten: Sehr sogar. Es ist uns gelungen, die Zahl der ambulanten Vorstellungen um 30 Prozent zu senken. Bei den stationären Aufnahmen waren es sogar 40 Prozent. Wenn man bedenkt, dass die meisten Teilnehmer älter als 60 Jahre waren und ein Krankenhausaufenthalt für diese Patientengruppe mit ganz besonders viel Stress verbunden ist, gewinnt diese Zahl zusätzlich an Bedeutung. In vielen Fällen konnten wir auch den unnötigen systemischen Einsatz von Antibiotika verhindern. Und bei einer Patientin ließ sich sogar eine Amputation des Fußes vermeiden.
PZ: Welches Fazit ziehen Sie aus den Ergebnissen?
Kirsten: Wir haben festgestellt, wie viel Beratungsbedarf auf der Ebene der Behandler besteht, nicht nur fachlich, sondern auch organisatorisch. Unser Projekt ist ein schönes Beispiel dafür, dass Telemedizin die Heilberufler nicht ersetzt, sondern unterstützt. Die Ärzte, die bei uns mitgemacht haben, waren zum Glück sehr offen dafür. Wenn wir dazu übergehen, das Modell in der Breite einzusetzen, rechne ich aber damit, dass wir zunächst auf Widerstand stoßen werden. Um die Skeptiker zu überzeugen, ist es natürlich umso wichtiger, aus solchen Studien Daten zu ziehen, die zeigen, dass alle Beteiligten profitieren können, wenn sich die Ärzte auf die Telemedizin einlassen.
PZ: Wie könnten sich die Apotheker in solche Projekte einbringen? Oder sind wir bei der Telemedizin außen vor?
Kirsten: Ich halte es für absolut sinnvoll, die Zusammenarbeit der verschiedenen Fachberufe im Gesundheitswesen zu fördern. Je mehr Kompetenzen wir bündeln, desto besser wird dadurch die Versorgung der Patienten. Es kommt ja doch recht häufig vor, dass ein Patient aus Zeitmangel mit seinen Beschwerden nicht zum Arzt geht und der Apotheker der einzige Ansprechpartner ist. Es wäre super, wenn wir für diese Menschen gemeinsam etwas auf die Beine stellen könnten. Nach meinem Vortrag in Meran sind einige Apotheker auf mich zugekommen und haben gefragt, wie so eine Kooperation aussehen könnte.
PZ: Was haben Sie den Kollegen geantwortet?
Foto: UKE
Kirsten: Sie könnten zum Beispiel bei chronischen Erkrankungen eine zusätzliche Beratung anbieten, wie sich die Therapie verbessern lässt oder was die Betroffenen selbst tun können, um den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen. Menschen, die seit ihrer Kindheit an Neurodermitis leiden, gehen oft irgendwann nicht mehr zum Arzt, sondern kaufen die Produkte in der Apotheke, mit denen sie sich auskennen. So kommen Fortschritte in der Medizin gar nicht bei ihnen an. Der Apotheker könnte in solch einem Fall anbieten, darüber zu informieren, welche neuen Behandlungsmöglichkeiten und Medikamente es gibt und den Patienten so motivieren, sich an einen Arzt zu wenden, der womöglich daraufhin eine neue Therapie ansetzt.
PZ: Die Apotheker haben regelmäßig damit zu kämpfen, dass ihre Beratungsleistung nicht separat bezahlt wird, sondern an die Abgabe von Arzneimitteln geknüpft und damit abgegolten ist …
Kirsten: Diese Beratung muss natürlich mit einem Extra-Honorar verknüpft sein. So etwas kann man nicht in der Freizeit machen. Wenn es gelingt, ein Netzwerk von Apothekern, niedergelassenen Ärzten und Unikliniken zu etablieren, in dem sich alle gegenseitig unterstützen, muss sich das auch für alle Seiten lohnen. Für solche Netzwerke eignet sich die Telemedizin übrigens perfekt. Sobald ein Kontakt da ist, können alle voneinander lernen und sich untereinander stärken.
PZ: Wie stehen Sie zu telepharmazeutischer Beratung?
Kirsten: Das ist ein gutes Konzept. Viele Arzneimittelhersteller bieten so etwas bereits an, allerdings nur für ihr eigenes Medikament. Der Patient kann sich telefonisch mit einem Arzt oder Apotheker in Verbindung setzen und seine Fragen etwa zu Dosierung und Nebenwirkungen stellen. Wir Ärzte haben nur begrenzt Zeit in unserer Sprechstunde. Zudem sind die Patienten häufig sehr aufgeregt. Wenn sie rauskommen, haben sie oft wieder vergessen, was wir ihnen zu ihren Medikamenten gesagt haben. Vor allem bei den möglichen Interaktionen wäre es perfekt, wenn der Anwender eine telepharmazeutische Beratung nutzen könnte. Je mehr Hilfestellung wir unseren Patienten geben, desto besser.
PZ: In welchen Fachgebieten außer der Dermatologie sehen Sie Potenzial für die Telemedizin?
Kirsten: Wenn man Telemedizin weit fasst, also auch zum Beispiel Apps mit einbezieht, eröffnet das in vielen Bereichen neue Möglichkeiten – insbesondere für chronisch Kranke, bei denen es darum geht, sie langfristig zu begleiten. Kurzfristig mit einem Arzt in Kontakt treten zu können, kommt bei den Patienten unserer Erfahrung nach sehr gut an. Sie sind einfach erleichtert, wenn wir ihnen bei Beschwerden schnell und unkompliziert sagen können, dass alles in Ordnung ist und sie sich keine Sorgen machen müssen.
PZ: Wo stößt die Telemedizin an ihre Grenzen?
Kirsten: Es besteht natürlich immer die Gefahr, dass Informationen verloren gehen. Vielleicht hat jemand vergessen, Schmerzen anzugeben, die zum Beispiel auf eine Entzündungsreaktion oder einen Gefäßverschluss hindeuten können. Deswegen ist es wichtig, standardisierte Daten-Sets zu erheben. Das Ganze muss einer Systematik folgen. Zudem gibt es bestimmte Krankheiten, die sich naturgemäß nicht so sehr für die Telemedizin eignen. In der Dermatologie ist das zum Beispiel Acne inversa, weil die Betroffenen nicht nur an der Oberfläche Läsionen haben, sondern häufig Abszesse und Fisteln, die in der Tiefe liegen, noch gar nicht sichtbar sind. Da muss der Arzt per Ultraschall prüfen, wie tief die Gänge reichen. Auch die Akzeptanz stellt momentan noch eine Barriere dar. Um diese zu überwinden, brauchen wir weitere Studien und Zahlen.