Was bringt das Jahr 2021? |
Sven Siebenand |
08.01.2021 18:00 Uhr |
Viele Herausforderungen, viele Antworten: Die Pipeline der Pharmaforscher ist gut gefüllt. / Foto: Adobe Stock/Thomas Soellner
Studiert man die Veröffentlichungen auf der Website der Europäischen Arzneimittelagentur EMA und blickt zum Beispiel in eine Liste des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller (VFA), so sind im Jahr 2021 etliche neue und innovative Medikamente auf dem deutschen Markt zu erwarten.
Einige neue Wirkstoffe haben bereits die EU-Zulassung erhalten, sind aber noch nicht in den Handel eingeführt. Für eine ganze Reihe weiterer Mittel ist eine Zulassungsempfehlung beantragt oder bereits ausgesprochen. In der Regel folgt die Europäische Kommission einer sogenannten »Positive Opinion« vom Ausschuss für Humanarzneimittel der EMA und lässt die Präparate dann wenig später zu. Das heißt: Auch diese Medikamente könnten relativ schnell im Markt verfügbar sein.
Auch im Jahr 2021 wird großes Augenmerk auf mögliche Covid-19-Medikamente gerichtet werden. An maßgeschneiderten antiviralen Wirkstoffen wird mit Hochdruck gearbeitet (Kasten).
Foto: Adobe Stock/Gorodenkoff
Viele bekannte und für andere Indikationen zugelassene Wirkstoffe werden auf ihre Eignung bei Covid-19 getestet (Repurposing). In zahlreichen Projekten werden aber auch ganz neue, noch nicht zugelassene Wirkstoffe untersucht. Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) listet Arzneistoffe aus dieser Kategorie auf, die die Phase II/III der klinischen Testung erreicht haben. Einige davon könnten bereits 2021 eine Zulassung bei Covid-19 erhalten.
Der gegen das Spike-Protein von SARS-CoV-2 gerichtete Antikörper Bamlanivimab könnte dazu zählen, ebenso das Antikörper-Duo Casirivimab und Imdevimab, das in einem Präparat enthalten ist und ebenfalls auf das Spike-Protein des Coronavirus abzielt. Eine Kombination aus zwei Antikörpern stellt auch AZD7442 dar. Weitere antivirale Antikörper sind VIR-7831 und TY027.
Molnupiravir wurde ursprünglich als Grippemedikament entwickelt, könnte nun aber zum Covid-19-Medikament umschulen. Der Wirkmechanismus des RNA-Polymerase-Hemmers erinnert an das zugelassene Remdesivir. Jedoch muss Molnupiravir nicht infundiert werden, sondern ist oral bioverfügbar. Es wird in Studien mit ambulant behandelten Patienten geprüft.
Immundämpfend wirkt der Antikörper Vilobelimab (IFX-1), der ins Komplementsystem, einen Teil des angeborenen Immunsystems, eingreift. Vilobelimab richtet sich gegen die Komplementkomponente C5a und wird derzeit in einer Phase-III-Studie mit intubierten Patienten geprüft.
Ifenprodil, ein Inhibitor am NMDA-Rezeptor, wird in Phase II/III untersucht. Die Aktivierung von T-Zellen über Glutamat kann deren Proliferation und die Freisetzung von Zytokinen verursachen. Ifenprodil soll diese Prozesse blockieren und eine überschießende Immunreaktion bremsen.
Eigentlich als Krebsmedikament gedacht ist der Wirkstoff Opaganib. Er wirkt als selektiver Sphingosinkinase-2-Inhibitor und blockiert dadurch die Synthese von Sphingosin-1-Phosphat. Dieses Lipid-Signalmolekül fördert das Krebswachstum, aber auch pathologische Entzündungen. Die Rationale, Opaganib auch bei Covid-19-Patienten einzusetzen, beruht neben der antientzündlichen Komponente auf den antiviralen Eigenschaften des Wirkstoffs. Mehr zu neuen Ansätzen gegen Covid-19 lesen Sie im Titelbeitrag in PZ 45/2020.
Viel weiter in der Entwicklung sind andere antivirale Substanzen. Kurz vor der Zulassung steht nach einer entsprechenden EMA-Empfehlung der Influenza-Wirkstoff Baloxavirmarboxil (Xofluza®). Er wird zur oralen Behandlung der Grippe und zur Postexpositions-Prophylaxe, zum Beispiel für nicht-infizierte Menschen mit engem Kontakt zu Influenza-Patienten, ab zwölf Jahren empfohlen. Der Wirkmechanismus ist innovativ: Der aktive Metabolit Baloxavirsäure hemmt die Cap-abhängige Endonuklease und damit den Replikationszyklus von Influenza-Viren.
Mehrere neue Arzneistoffe gegen virale und bakterielle Infektionen könnten in diesem Jahr auf den Markt kommen. / Foto: Adobe Stock/nito
Im Bereich HIV ist mit der Markteinführung eines neuen Integrase-Hemmers zu rechnen: Cabotegravir (Vocabria®). Laut der EU-Zulassung wird das Präparat mit dem Rilpivirin-haltigen Medikament Rekambys® kombiniert. Die Kombi ist vorgesehen zur Erhaltungstherapie von Erwachsenen, die mit ihrer derzeitigen antiretroviralen Behandlung nicht nachweisbare HIV-Spiegel im Blut aufweisen und bei denen das Virus nicht gegen Integrase-Hemmer oder nicht nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NNRTI) resistent ist. Das Besondere: Beide Arzneistoffe stehen in einer lang wirksamen injizierbaren Formulierung zur Verfügung. Das bedeutet, dass die Patienten monatlich oder zweimonatlich intramuskuläre Injektionen erhalten. Alle zwei Monate injiziertes Cabotegravir wird darüber hinaus auch als HIV-Präexpositionsprophylaxe (PrEP) entwickelt.
Für die Behandlung der multiresistenten HIV-Infektion hat das Fostemsavir-haltige Präparat Rukobia® im Dezember 2020 eine Zulassungsempfehlung erhalten. Das peroral verfügbare Prodrug wird in vivo zu Temsavir umgewandelt. Dieses bindet an das Glykoprotein 120 auf der Virusoberfläche und verhindert damit die Bindung an und die Infektion von CD4-T-Zellen. Nachdem im Jahr 2020 mit Ibalizumab (Trogarzo®) ein Medikament für die multiresistente HIV-Infektion in den Handel kam, könnte es 2021 gleich das nächste geben.
Erfreulicherweise könnte sich im Jahr 2021 auch im Bereich der Antibiotika etwas tun. Beispielsweise ist das neue Antibiotikum Lefamulin (Xenleta®) für Patienten mit ambulant erworbener Pneumonie zugelassen. Es wird als Infusionslösung und als Filmtablette angeboten. Lefamulin gehört zu den Pleuromutilin-Antibiotika. Erstmals könnte damit ein systemisch verfügbarer Arzneistoff dieser Klasse in den Handel kommen. Pleuromutilin-Antibiotika hemmen die bakterielle Proteinsynthese, indem sie an das Peptidyltransferase-Zentrum der 50S-Untereinheit der Ribosomen binden.
Ebenfalls zugelassen ist das erste sogenannte Siderophor-Antibiotikum: Cefiderocol (Fetcroja®). Bereits im Dezember verkündete der Hersteller die Markteinführung; beim ABDATA Pharma-Daten-Service ist die Neueinführung für Januar gemeldet. Cefiderocol darf zur Therapie von Infektionen bei Erwachsenen durch aerobe gramnegative Erreger zum Einsatz kommen, wenn nur begrenzte Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Das Molekül nutzt den Eisentransport von gramnegativen Bakterien, um in die Zelle zu gelangen. Das Siderophor komplexiert Eisen und wird so über das aktive Transportsystem der Zelle ins Innere geschleust, sozusagen als Trojanisches Pferd. Dadurch können Resistenzmechanismen von Bakterien überwunden werden.
Teil 1 des dreiteiligen Beitrags zum Ausblick auf das Jahr 2021 / Foto: Ralph Stegmaier
Teil 1: Neue Arzneistoffe: Was bringt das Jahr 2021?
Teil 2: Covid-19-Impfstoffe: Die zweite Generation
Teil 3: Politischer Ausblick: 2021 wird den Apothekenmarkt verändern
Antibiotika zum Dritten: Auch das Fluorchinolon Delafloxacin (Quofenix®) ist zugelassen – bereits seit Ende 2019. Es hemmt die Topoisomerasen II sowie IV und soll bei bakteriellen Hautinfektionen in Tablettenform oder als Injektion zum Einsatz kommen.
Zu erwähnen sind ferner zwei neue Betalaktamase-Inhibitoren, die in zugelassenen Fixkombinationen enthalten sind, aber noch nicht in den Markt eingeführt wurden. Vaborbactam ist in Vaborem® zusammen mit Meropenem enthalten und bei komplizierten Harnwegsinfektionen vorgesehen. Relebactam ist in Recarbrio® zusammen mit Imipenem und Cilastatin enthalten. Das Medikament soll zur Behandlung von Pneumonien und anderen Infektionen mit gramnegativen Bakterien angewendet werden.
Zugelassen ist der oral verfügbare Tuberkulose-Wirkstoff Pretomanid. Das Präparat Pretomanid FGK® ist indiziert in Kombination mit Bedaquilin und Linezolid für erwachsene Patienten mit extrem resistenter Tuberkulose oder mit multiresistenter Tuberkulose, die auf die sonstige Behandlung nicht ansprechen oder diese nicht vertragen. Pretomanid ist ein Prodrug und wird im Körper durch das Coenzym F420 des Tuberkulose-Erregers aktiviert. Der Wirkstoff hemmt sowohl die Synthese von Zellwandlipiden als auch die Zellatmung durch Freisetzung von reaktiven Stickstoffspezies.
Auch bei der Behandlung der atopischen Dermatitis könnte sich in nächstes Zeit einiges tun. Im Jahr 2020 hat Baricitinib (Olumiant®) als erster Januskinase-Inhibitor eine Zulassungserweiterung für die Therapie der atopischen Dermatitis erhalten. Auch andere JAK-Hemmer stehen in dieser Indikation in den Startlöchern. Ein ganz neuer JAK1-Hemmer ist Abrocitinib. Ebenfalls als Neurodermitis-Medikament gedacht ist der gegen das Interleukin-13 gerichtete Antikörper Tralokinumab, der subkutan verabreicht werden muss. Sowohl für Abrocitinib als auch für Tralokinumab ist die EU-Zulassung beantragt.
Der topische Phosphodiesterase-(PDE-)4-Inhibitor Crisaborol (Staquis®) ist schon einen Schritt weiter und seit 2020 zugelassen, aber noch nicht im Handel. Die PDE-4-Blockade führt zur Hemmung von TNF-alfa, Interleukin-12 und Interleukin-23. Der Arzneistoff darf ab einem Alter von zwei Jahren verwendet werden und wird auch für die Indikation Schuppenflechte untersucht.
Neue Antiepileptika könnten die Therapie schwer zu behandelnder Epilepsieformen bei Kindern und Erwachsenen erleichtern. / Foto: Adobe Stock/Tobilander
Neueinführungen stehen möglicherweise auch im Bereich Epilepsie an. Die EU-Zulassung hat beispielweise ein alter Bekannter erhalten: Fenfluramin (Fintepla®). Der Appetitzügler, der vor vielen Jahren wegen kardiovaskulärer Nebenwirkungen vom Markt genommen wurde, steht vor einem Comeback als Add-on-Therapeutikum für Patienten, die am Dravet-Syndrom leiden. Dies ist eine seltene angeborene epileptische Enzephalopathie mit häufigen Krampfanfällen ab der frühen Kindheit. Fenfluramin erhöht den Serotonin-Spiegel im Gehirn. Ob dies die Wirkung beim Dravet-Syndrom erklärt, ist aber nicht gesichert.
Auch der Wirkmechanismus von Cenobamat (Xcpopri®), dessen Zulassung bei der EMA beantragt ist, ist noch nicht vollständig aufgeklärt. Wahrscheinlich ist eine doppelte komplementäre Wirkung. Zum einen wirkt Cenobamat über Verstärkung der inhibitorischen Ströme durch Modulation von GABAA-Rezeptoren. Zum anderen wirkt die Substanz antikonvulsiv, indem sie exzitatorische Ströme durch Hemmung des anhaltenden Natriumstroms und durch Stärkung des inaktivierten Zustands spannungsaktivierter Natriumkanäle blockiert. Der Wirkstoff könnte eine neue Option zur Begleittherapie von fokal auftretenden Anfällen bei Erwachsenen werden.
Auch bei den hochinnovativen Therapieformen sind im kommenden Jahr Neuzugänge zu erwarten. Einige neue Gentherapien und weitere CAR-T-Zelltherapeutika könnten die Zulassung erhalten und in den Handel kommen.
Relativ frisch ist die EU-Zulassung von zwei weiteren Medikamenten, die die RNA-Interferenz ausnutzen. Dabei sorgen kleine RNA-Stücke, sogenannte small interfering RNA (siRNA), dafür, dass komplementäre mRNA selektiv abgebaut wird. Somit steht diese mRNA nicht mehr für die Proteintranslation zur Verfügung und die Menge des von ihr kodierten Proteins in der Zelle nimmt ab.
Bei dem neuen Lipidsenker Inclisiran (Leqvio®) wird das Protein PCSK9 nicht mehr produziert. Damit wird der PCSK9-vermittelte Abbau des LDL-Rezeptors gehemmt und somit wird mehr LDL-Cholesterol aus dem Blut extrahiert. Das heißt, Inclisiran wirkt wie die Arzneistoffe Evolocumab (Repatha®) und Alirocumab (Praluent®) als PCSK9-Inhibitor. Das nur zweimal jährlich subkutan zu injizierende RNAi-Therapeutikum soll bei primärer Hypercholesterolämie und gemischter Dyslipidämie zum Einsatz kommen.
Das Einsatzgebiet des zweiten zugelassenen RNAi-Therapeutikums, Lumasiran (Oxlumo®), ist eine seltene Erberkrankung, die primäre Hyperoxalurie Typ 1. Dabei kommt es zu einer extrem hohen Oxalatproduktion. Dieses setzt sich als unlösliches Calciumsalz in den Nieren und anderen Organen ab und kann zu einer lebensbedrohlichen Nierenerkrankung und anderen systemischen Komplikationen führen. Das Target von Lumasiran ist die mRNA für das Enzym Glykolatoxidase (GO) in der Leber. Der Wirkstoff senkt den GO-Spiegel im Körper und im Folgenden auch den Oxalat-Spiegel. Auch Lumasiran wird injiziert.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.