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Impfstoffe weltweit

»Tödliche Verzögerung«

Tankred Stöbe arbeitet als Internist und Intensivmediziner in Berlin. Seit knapp 20 Jahren ist er für die Hilfsorganisation »Ärzte ohne Grenzen« in Kriseneinsätzen unterwegs. Die PZ sprach mit ihm über kollabierende Gesundheitssysteme durch Covid-19-Infektionen und eine Null-Impfstoffpolitik für arme Länder.
Ulrike Abel-Wanek
11.03.2021  09:00 Uhr

PZ: Seit Ausbruch der Corona-Pandemie haben Sie Hilfsprojekte im Jemen, in Südostasien und afrikanischen Staaten als Arzt begleitet. Im Februar waren Sie als Notfallkoordinator für »Ärzte ohne Grenzen« in Malawi. Wie sieht die gesundheitliche Versorgung der Menschen dort aus?

Stöbe: Tatsächlich war es vor allem jetzt die zweite Welle, die für Malawi katastrophal war. Im Dezember und Januar haben sich alle drei bis vier Tage die Zahlen der Infizierten verdoppelt und die Krankenhauseinweisungen schnellten in die Höhe. Klar war, dass das dortige Gesundheitssystem dem nicht genug entgegenzusetzen hatte. Wir sind mit sieben Helfern – aus sieben verschiedenen Ländern – in Blantyre, der zweitgrößten Stadt in Malawi, zusammengekommen und haben auf dem Gelände des dortigen Queen-Elisabeth-Central-Hospitals, mit dem wir schon länger eine Kooperation haben, zehn große Behandlungs- und Testzelte errichtet. Unser Fokus lag in der Unterstützung des Klinikums für Covid-19-Patienten durch Screening, Triage, Testen und Überbrücken bis zur stationären Therapie, die dann im Krankenhaus stattfand. Ziel war es auch dafür zu sorgen, dass keine infizierten Patienten auf die Normalstationen gelangen und das Virus dort hineintragen.

PZ: Welche Tests standen Ihnen zur Verfügung?

Stöbe: Neu mitgebracht haben wir Schnelltests, die nach einer viertel Stunde das Ergebnis anzeigen, PCR-Tests gab es schon vorher, wenn auch viel zu wenig. Das Problem ist aber, dass ein negativer Schnelltest nicht zweifelsfrei ausschließt, dass nicht doch eine Corona-Infektion vorliegt. Wir mussten den Patienten hier viel erklären, die meisten sind nur mäßig über Covid-19 informiert. Glücklicherweise konnten wir 100 medizinisch gut ausgebildete Mitarbeitende einstellen, die uns unterstützt haben. In Malawi mangelt es wie in Deutschland an Pflegepersonal in den Kliniken, weil das Geld fehlt, die Menschen zu bezahlen. Unsere Arbeitsverträge mit ihnen laufen naturgemäß kurzfristig, also für Wochen und Monate, um dem dynamischen Pandemiegeschehen gerecht zu werden. Aber überhaupt Arbeit zu finden, ein Training zu bekommen und dann ein Zeugnis von »Ärzte ohne Grenzen« ist für die meist jungen Malawier eine wichtige Unterstützung, die über die Vertragsdauer hinauswirkt.

PZ: Sie waren für vier Wochen in Malawi. Wie hat sich die Pandemie in dieser Zeit dort entwickelt?

Stöbe: Es gab eine interessante Dynamik, die nur in Ländern mit extrem schwachen Gesundheitssystemen zu beobachten ist. Wir sind davon ausgegangen, dass der Höhepunkt der Pandemie im Februar hätte sein müssen. Stattdessen sind die Infektionszahlen Anfang Februar schon wieder abgefallen. Die Pandemie hat die Bevölkerung von Malawi schutzlos und ohne Vorbereitung getroffen und zu sehr viel Leid und Tod geführt. Aber nach sechs bis acht Wochen ebbte der dramatische Verlauf wieder ab. Im Grunde genommen ist das ein Unfallmodell, das eintritt, wenn keinerlei Maßnahmen ergriffen werden, um die Bevölkerung zu schützen. Ähnliches habe ich im Jemen beobachtet. Allerdings gibt es hier zu wenig Forschung, um das auch wissenschaftlich zu belegen. In diesen Ländern sind die Datenerhebungen zu Infektionszahlen und Todesfällen sowie die Testungen extrem mangelhaft.

PZ: Gibt es überhaupt offizielle Zahlen zum Pandemieverlauf für Malawi und Jemen?

Stöbe: In Malawi mit rund 18 Millionen Einwohnern sprechen wir im Moment von 30.000 Infizierten und 1000 Toten. Im Jemen leben rund 28 Millionen Menschen, davon sind offiziell 2000 infiziert und 600 an dem Virus gestorben. Das hört sich nach einer relativ geringen Opferzahl an im Vergleich zu beispielsweise Europa, aber diese Zahlen sind nicht einmal die Spitze des Eisbergs. Im Jemen nimmt der Krieg kein Ende: Es wird geschossen und gebombt und ins Traumazentrum der Stadt Aden, das von »Ärzte ohne Grenzen« betrieben wird, kommen 40 Prozent der Patienten allein mit Schussverletzungen. Die tödliche Bedrohung durch den Krieg ist für die Leute viel greifbarer als die Bedrohung durch ein zwar auch tödliches, aber unsichtbares Virus. Der Jemen war auf das Coronavirus überhaupt nicht vorbereitet. Die meisten betroffenen Patienten sind in ihren Häusern ohne Diagnose, ohne Behandlung und auch ohne offiziell gezählt zu werden, gestorben.

Unsere Hilfsorganisation hat eine Covid-19-Klinik aufgebaut, aber deren 40 Betten waren sofort belegt und die Sterblichkeit war hier sehr hoch, weil die Kranken zu spät kamen. In den Gebieten, wo die Huthis das Sagen haben – das sind 70 Prozent des Landes –, darf es politisch überhaupt kein Coronavirus geben. Wer erkrankt, wird stigmatisiert, und die Menschen sind schlecht informiert und misstrauisch.

PZ: Inwieweit behindern mangelndes Vertrauen und eine fehlende Informationspolitik die Arbeit von Hilfsorganisationen?

Stöbe: In Malawi zum Beispiel herrscht großer Aberglaube in der Bevölkerung. Hauptsächlich kursieren zurzeit zwei schockierende Geschichten: Es gäbe einen weltweiten Masterplan, der die afrikanische Bevölkerung dezimieren soll und Ärzte, die Covid-19 auf den Totenschein eines Verstorbenen schreiben, erhielten eine Prämie. Erkrankte, die ins Krankenhaus gehen, würden also umgebracht. Die zweite Geschichte bezieht sich aufs Impfen: Der Impfstoff sei eine tödliche Injektion mit dem gleichen Ziel, nämlich Menschen umzubringen. Verschwörungsmythen kennen wir auch aus Deutschland. Aber während hier vielleicht je nach Region 10 Prozent der Menschen daran glauben, sind es in Malawi 50 bis 80 Prozent. Erkrankte bleiben dann aus Angst eher zu Hause. Dort ist dann leider die Sterblichkeit bei einer Atemwegserkrankung ohne Sauerstoffbehandlung deutlich höher als in einem Krankenhaus.

PZ: Wie stehen die Chancen für Länder wie Malawi, bald an Impfstoffe  zu kommen?

Stöbe: Es wird in absehbarer Zeit 12 Milliarden Impfdosen geben. Das reicht, um wirklich jeden Menschen fast zweimal zu impfen. Aber es herrscht eine enorme Impfungerechtigkeit durch reiche Länder, die sich so viel Impfstoff reserviert haben, dass sie ihre Bevölkerung achtfach damit behandeln könnten, wie Kanada. Dann sind da arme Länder wie Indien oder Länder des afrikanischen Kontinents, die es in diesem und vielleicht sogar noch nicht einmal im nächsten Jahr schaffen werden, ihre Risikogruppen zu impfen, weil sie keinen Impfstoff bekommen.

Es hat Anfang des Jahrtausends zehn Jahre gebraucht – und da haben wir uns als »Ärzte ohne Grenzen« massiv eingebracht – bis die teuren antiretroviralen Therapien zur Behandlung von Aidskranken so preiswert waren, dass sie auch Ländern wie Malawi und anderen südafrikanischen Staaten zugänglich waren. Bei den Impfstoffen wird es nicht Jahre dauern, sondern nur Monate, aber diese Monate bedeuten eine tödliche Verzögerung für sehr viele Menschen.

PZ: Reicht die Bereitstellung der Logistik für die Impfstoffversorgung aus?

Stöbe: Es sind häufig vorgebrachte Argumente zu sagen, die Menschen in Afrika wollten sich aus besagtem Aberglauben vielleicht gar nicht impfen lassen oder könnten die Impfstoffe wegen der Kühlung nicht transportieren und lagern. Das stimmt so nicht. Die afrikanischen Länder sind seit Jahrzehnten erfahren darin, große Impfkampagnen wie gegen Masern und Meningitis bis in sehr entlegene Gebiete durchzuführen und auch Kühlketten aufrechtzuerhalten. Die bisher notwendige Extremkühlung für die Impfstoffe von Biontech und Moderna lässt sich vielleicht nicht bis in die entferntesten Dörfer herstellen. Aber »Ärzte ohne Grenzen« verfügt über leistungsfähige Kühlgeräte dort, die sich für die Lagerung der meisten Impfstoffe gut eignen. Was fehlt, ist die bezahlbare Impfstoffbereitstellung für alle Länder und die Erkenntnis, dass eine globale Pandemie auch nur global in den Griff zu bekommen ist.

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