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Überraschende Nebenwirkung

Ticagrelor als Antibiotikum?

Der Thrombozyten-Aggregations-Hemmer Ticagrelor zeigt in üblichen therapeutischen Dosen bei Antibiotika-resistenten grampositiven Bakterien, inklusive MRSA, eine bakterizide Wirkung. 
Theo Dingermann
30.07.2019  14:00 Uhr

Aufmerksam auf diesen möglichen Zusatzeffekt wurden Wissenschaftler vom Universitätsklinikum Lüttich, Belgien, im Zuge einer Post-hoc-Analyse der PLATO-Studie (Comparison of Ticagrelor (AZD6140) and Clopidogrel in Patients With Acute Coronary Syndrome). Dort fiel auf, dass Patienten, die mit Ticagrelor behandelt wurden, ein geringeres Risiko für infektionsbedingte Todesfälle aufwiesen als Patienten, die mit Clopidogrel-Bisulfat behandelt wurden.

Erhärtet wurde diese Beobachtung durch die XANTHIPPE-Studie (Targeting Platelet-Leukocyte Aggregates in Pneumonia With Ticagrelor). Auch hier konnte die Behandlung mit Ticagrelor mit einer verbesserten Lungenfunktion bei Patienten in Verbindung gebracht, die an einer Lungenentzündung erkrankt waren. Diese Beobachtungen führten zu der Hypothese, dass Ticagrelor oder seine Metaboliten antimikrobielle Eigenschaften besitzen könnten.

Patrizio Lancellotti und Kollegen haben ihre Hypothese nun in vitro und in einem Mausmodell überprüft, wie sie im Mai in »JAMA Cardiology« online berichtet haben. Ticagrelor und ein Hauptmetabolit (AR-C124910) zeigten eine bakterizide Wirkung gegen alle getesteten grampositiven Stämme, einschließlich der antibiotikaresistenten Stämme GISA (Glykopeptid-resistenter Staphylococcus aureus), MRSE (Methicillin-resistenter Staphylococcus epidermidis), MRSA (Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus) und VRE (Vancomycin-resistente Enterokokken).

Die minimale bakterizide Konzentration betrug 20 μg/ml gegen MSSA (Methicillin-sensibler Staphylococcus aureus), GISA, MRSA und VRE; 30 μg/ml gegen MRSE; und 40 μg/ml gegen E. faecalis und S. agalactiae. Obwohl eine Dosierung von 5 μg/ml das Wachstum von MRSA verzögerte, war Ticagrelor gegen gramnegative Stämme in Konzentrationen bis zu 80 μg/ml unwirksam. Bei einer minimalen bakteriziden Konzentration war Ticagrelor Vancomycin überlegen. Ticagrelor erhöhte auch die bakterizide Aktivität von Rifampicin, Ciprofloxacin und Vancomycin in einem Scheibendiffusionstest.

Diese interessanten Ergebnisse müssen nun weiter verifiziert werden. Dazu ist es zum einen notwendig, den Wirkmechanismus aufzuklären, der sicherlich nicht mit der Plättchen-Aggregations-Hemmung zusammenhängt, da Clopidogrel beispielsweise diese antibakteriellen Effekte nicht zeigt. Zudem muss die antibiotische Wirksamkeit von Ticagrelor gegen grampositive Erreger bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen in einer randomisierten klinischen Studie verifiziert werden.

Sollten diese Bemühungen erfolgreich sein, wäre allerdings noch lange kein neues Antibiotikum verfügbar. Denn tatsächlich müssten nach den heute vorliegenden Erkenntnissen Dosen eingesetzt werden, wie sie auch für die Plättchenhemmung erforderlich sind. So würde ein »Ticagrelor-Antibiotikum« mit einem nicht akzeptablen Blutungsrisiko assoziiert sein.

Eine Lösung aus diesem Dilemma bietet nur ein Entwicklungsprogramm neuer Wirkstoffe auf Basis der Ticagrelor-Leitstruktur. Ziel wäre es, das antibakterielle Potenzial zu konservieren, das Plättchen-Aggregations-hemmende Potential jedoch »weg zu synthetisieren«. Angesichts des relevanten Mangels an Antibiotika, die auch bei Problemkeimen wirksam sind, wäre dies jedoch ein lohnendes Unterfangen.

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