Steckbrief Phenprocoumon |
Annette Rößler |
03.09.2021 07:00 Uhr |
Wie schnell Blut gerinnt, ist entscheidend für das Thromboserisiko. Mit Phenprocoumon wird die Blutgerinnung gehemmt. / Foto: Adobe Stock/Connect world
Wie wirkt Phenprocoumon?
Phenprocoumon, Warfarin und Acenocoumarol bilden zusammen die Wirkstoffgruppe der Vitamin-K-Antagonisten, die als chemische Gemeinsamkeit eine Cumarin-Teilstruktur aufweisen und deshalb auch als Cumarine bezeichnet werden. VKA hemmen in der Leber die Bildung der Blutgerinnungsfaktoren II, VII, IX und X aus inaktiven Vorstufen, indem sie den Vitamin-K-Epoxid-Zyklus unterbrechen: Bei der Aktivierung dieser Gerinnungsfaktoren wird Vitamin K zu inaktivem Vitamin-K-2,3,-Epoxid oxidiert und anschließend normalerweise wieder enzymatisch zu Vitamin K reduziert. Dieser letzte Schritt wird durch VKA unterbunden. Es handelt sich also um eine indirekte Hemmung der Blutgerinnung. Bereits vorhandene Faktoren werden zunächst noch verbraucht, sodass die Wirkung von Phenprocoumon erst mit ein bis zwei Tagen Verzögerung einsetzt. Nach dem Absetzen müssen sie erst neu gebildet werden, weshalb die Wirkung erst innerhalb von sieben bis zehn Tagen langsam nachlässt.
Durch die Gabe von Phytomenadion (Vitamin K1) – je nach Dringlichkeit oral oder intravenös – kann die Gerinnungshemmung innerhalb von 24 Stunden aufgehoben werden. Dauert auch das zu lang, kann im äußersten Notfall Prothrombinkomplexkonzentrat oder Blutplasma infundiert werden.
Was sind die Einsatzgebiete von Phenprocoumon?
Als Anwendungsgebiete nennt die Fachinformation lapidar »Behandlung und Prophylaxe von Thrombose und Embolie« sowie die Langzeitbehandlung von Herzinfarktpatienten mit erhöhtem Risiko für thromboembolische Komplikationen. In vielen Indikationen, etwa zur postoperativen Thromboseprophylaxe oder bei Vorhofflimmern, haben Phenprocoumon und die anderen VKA mittlerweile harte Konkurrenz durch die DOAK. In manchen Behandlungssituationen, etwa bei Patienten mit künstlichen Herzklappen, sind sie aber nach wie vor Therapiestandard.
Phenprocoumon hat mit 6,5 Tagen eine sehr lange Eliminationshalbwertszeit und muss deshalb vor Operationen rechtzeitig abgesetzt werden. Perioperativ sollte stattdessen Heparin gegeben werden. Wird bei einem auf VKA eingestellten Patienten die Zeit bis zur Operation mit Heparin überbrückt, spricht man von Bridging. Detaillierte Empfehlungen für die Umstellung von Heparin auf Phenprocoumon finden sich in der Fachinformation.
Wie wird Phenprocoumon dosiert?
Wie stark Phenprocoumon die Blutgerinnung hemmt, ist individuell unterschiedlich. Deshalb gibt es keine feste Dosierung, sondern die benötigte Dosis wird anhand der gemessenen Thromboplastinzeit (International Normalized Ratio, INR) ermittelt. Eine INR von etwa 1 entspricht dabei einer normalen Blutgerinnung, höhere Werte einer verzögerten und niedrigere Werte einer beschleunigten. In der Langzeittherapie mit Phenprocoumon wird in den meisten Indikationen eine INR von 2,0 bis 3,0 angestrebt, bei Patienten mit künstlichen Herzklappen bis 3,5. Hierfür genügen in der Regel 1,5 bis 4,5 mg (eine halbe bis anderthalb Tabletten) täglich, die der Patient unzerkaut, mit Flüssigkeit und praktischerweise abends einnehmen sollte. Die Kontrolle des INR-Werts muss zu Beginn der Therapie, bei jeder Umstellung auch der Begleitmedikation sowie bei älteren Patienten besonders engmaschig erfolgen. Bei stabil eingestellten Patienten soll die INR regelmäßig mindestens alle drei bis vier Wochen bestimmt werden.
Wer darf Phenprocoumon nicht erhalten?
Phenprocoumon ist kontraindiziert bei manifester Niereninsuffizienz, schwerem Leberschaden und schwerer Thrombozytopenie, bei Erkrankungen, bei denen ein Verdacht auf eine Läsion des Gefäßsystems besteht, bei kavernöser Lungentuberkulose, bei Patienten mit erhöhter Blutungsneigung nach urologischen Operationen und mit ausgedehnten offenen Wunden sowie bei Patienten, die unter der Behandlung sogenannte purple Toes entwickelt haben (siehe unten).
Auch in der Schwangerschaft darf Phenprocoumon nicht gegeben werden. Bei stillenden Müttern gelangt der Wirkstoff nur in geringen Mengen in die Muttermilch, sodass keine Nebenwirkungen beim Säugling zu erwarten sind. Dennoch wird empfohlen, Phenprocoumon nur nach strenger Nutzen-Risiko-Abwägung in der Stillzeit einzusetzen und das gestillte Kind vorsichtshalber prophylaktisch mit Vitamin K1 zu behandeln.
Welche Nebenwirkungen kann Phenprocoumon haben?
Die am meisten gefürchtete Nebenwirkung ist gleichzeitig die häufigste: Blutungen. Diese können verschiedene Organe betreffen und lebensbedrohlich sein. Damit bei einem Notfall Sanitäter und Ärzte über die Gerinnungshemmung informiert sind, soll der Patient stets einen entsprechenden Ausweis bei sich tragen. Gelegentlich, also bei weniger als einem von 100, aber mehr als einem von 1000 Behandelten, kommt es zu brennenden Schmerzen in den Großzehen mit gleichzeitiger Verfärbung der Zehen: purple Toes. Zu Beginn der Therapie ist das Risiko für Hautnekrosen erhöht und bei länger dauernder Behandlung das Osteoporoserisiko.
Welche Wechselwirkungen sind möglich?
Apotheker wissen: Sobald bei einem Patienten Phenprocoumon mit auf der Medikamentenliste steht, blinkt die Interaktionswarnung im Apotheken-Betriebssystem eigentlich permanent. Prinzipiell dürfen diese Patienten daher weitere Medikamente grundsätzlich nur nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt einnehmen oder absetzen. Das Wechselwirkungspotenzial ergibt sich daraus, dass Phenprocoumon hauptsächlich über CYP3A4 und CYP2C9 verstoffwechselt wird und eine enge therapeutische Breite hat. Neben zahlreichen chemischen Arzneistoffen wie diversen Antibiotika, Analgetika, Steroiden, Statinen, SSRI und Zytostatika sowie Metformin können auch Nahrungsergänzungsmittel wie Glucosamin und Phytopharmaka wie Johanniskraut interaktionstechnisch kritisch sein.
Darüber hinaus muss auf die Ernährung geachtet werden. Grapefruit ist zu meiden, weil sie den Phenprocoumon-Abbau über CYP3A4 hemmt und so das Blutungsrisiko erhöht. Von Nahrungsmitteln mit hohem Vitamin-K-Gehalt, zum Beispiel Grünkohl, Spinat oder Schnittlauch, sollte der Patient keine großen Portionen verzehren beziehungsweise die INR häufiger kontrollieren und die Phenprocoumon-Dosis gegebenenfalls anpassen. Alkohol sollte nur maßvoll genossen werden. Nicht zuletzt sollte der Patient auch auf seinen Allgemeinzustand achten und etwa bei Fieber häufiger seinen INR-Wert bestimmen.
Seit wann gibt es Phenprocoumon?
Wenn Kühe frischen Süßklee fressen, ist das unproblematisch. Dicumarol wird erst beim Verschimmeln von Penicillium-Pilzen gebildet. / Foto: Getty Images/Tony C French
Die Entdeckung der VKA ist eine der schillerndsten Anekdoten der Pharmaziegeschichte. Ihre gerinnungshemmende Wirkung erkannte zuerst der Biochemiker Karl Paul Link an der University of Wisconsin in den 1930er-Jahren – nachdem ihm ein Farmer den Kadaver einer verbluteten Kuh ins Labor gebracht hatte, die zuvor verschimmelten Süßklee gefressen hatte. Link und sein Team identifizierten Dicumarol, das in dem verdorbenen Klee aus Cumarin entstanden war, als Giftstoff. Auf der Suche nach Dicumarol-Abkömmlingen mit verbesserter Wirksamkeit fanden Mitarbeiter von Links Labor schließlich das »Analogon #42« – Douglas Adams wäre entzückt gewesen. Zu Ehren der Wisconsin Alumni Research Foundation (WARF), die die Forschung finanziert hatte, wurde der 1952 patentierte Wirkstoff Warfarin genannt.
Warfarin wurde zunächst als Rattengift eingesetzt, und zwar sehr erfolgreich. Ratten sind kluge Tiere und bringen die Giftigkeit eines Köders mit diesem in Verbindung, wenn die Wirkung zu schnell einsetzt. Das ist bei Warfarin jedoch nicht der Fall. Der große Erfolg von Warfarin als Rattengift stand zunächst seiner Anwendung als Medikament im Weg, denn es wurde als zu toxisch angesehen. Nach dem fehlgeschlagenen Suizidversuch eines Rekruten der US-Marine, der sich nach der Einnahme von großen Mengen Warfarin durch die Gabe von Vitamin K wieder vollständig erholte, änderte sich jedoch die Einstellung gegenüber dem Wirkstoff und Warfarin wurde klinisch getestet. Einer der ersten prominenten Patienten, die erfolgreich mit Warfarin behandelt wurden, war 1955 US-Präsident Dwight D. Eisenhower nach einem Herzinfarkt.
Während Warfarin in den USA nach wie vor das am meisten eingesetzte VKA ist, dominiert in Deutschland Phenprocoumon. Dieses wurde 1953 von der Firma Roche entwickelt und als Marcumar® auf den Markt gebracht; mittlerweile ist Meda Patentinhaber und es gibt auch Generika.
Wie unterscheiden sich die verschiedenen VKA?
Ein wichtiger Unterschied zwischen den Substanzen ist die Halbwertszeit: Sie beträgt beim Warfarin anderthalb bis zwei Tage und ist damit deutlich kürzer als beim Phenprocoumon. Noch schneller, nämlich mit einer t½ von acht bis elf Stunden, wird Acenocoumarol abgebaut, das jedoch in Deutschland keine Zulassung besitzt.
Strukturformel Phenprocoumon / Foto: Wurglics