Mehr Fälle in der Coronapandemie |
Magersucht betrifft vor allem Mädchen in der Pubertät. / Foto: Getty Images/vadimguzhva
Die psychosomatische Station für Kinder und Jugendliche am Klinikum in Nürnberg hat seit Beginn der Coronakrise zunehmend mit magersüchtigen Patientinnen zu tun. »Es sind eineinhalb bis zweimal so viele wie vor der Pandemie«, sagt Chefarzt Dr. Patrick Nonell. Eine ähnliche Entwicklung sieht der Bundesfachverband Essstörungen überall im Land. »Dadurch, dass die Zahlen so zugenommen haben, fehlen Therapieplätze«, sagt der Verbandsvorsitzende Diplompsychologe Andreas Schnebel, der auch die Beratungsstelle Anad in München leitet. »Auch in den stationären Einrichtungen wird es eng.« Und er sieht noch eine andere Entwicklung: Die Patientinnen werden jünger.
Dass seit Corona mehr Jugendliche mit einer Essstörung wie Magersucht oder Bulimie behandelt werden müssen, bestätigen auch die Auswertungen von Krankenkassen unter ihren Versicherten. Demnach stellt die DAK-Gesundheit für 2020 eine Zunahme bei den Krankenhaus-Behandlungen wegen Essstörungen von 9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr fest, unter den 15- bis 17-Jährigen sind es sogar 13 Prozent mehr. Die KKH kommt nach eigenen Angaben auf ein überproportionales Plus von rund 7 Prozent bei den 13- bis 18-Jährigen.
Eine gesicherte Erklärung haben die Fachleute dafür nicht, nur eine Vermutung, die auch der Nürnberger Spezialist Nonell teilt. Gerade Mädchen, die an Magersucht erkrankten, könnten Stress oft nicht so gut verarbeiten, sagt er. In der Pandemie litten sie besonders stark unter der Verunsicherung und der Sorge, die Kontrolle zu verlieren. »Ihr Essverhalten zu kontrollieren, ist eine Form Bewältigungsstrategie, um wieder mehr Kontrolle zu bekommen.«
Magersucht betrifft vor allem Mädchen in der Pubertät. In der Münchner Beratungsstelle, die Schnebel leitet, tauchen seinen Angaben nach seit einigen Jahren aber auch immer jüngere Mädchen auf, teilweise schon 8- oder 9-Jährige. »Das hängt damit zusammen, dass heute alles früher anfängt, wie die Pubertät und der Zugang zu sozialen Medien«, sagt der Fachmann.
Verschiedene Studien stützten diese Vermutungen, sagt Dr. Silja Vocks, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Osnabrück. Die früher einsetzende Pubertät könne dazu führen, dass die körperliche Reife möglicherweise nicht kompatibel mit der psychischen Reife sei. Gleichzeitig seien Kinder und Jugendliche immer früher in den sozialen Medien unterwegs, wo sie permanent mit geschönten Bildern konfrontiert würden. »Je fragiler das Körperbild, desto offener ist man für diesen Einfluss.«
Problematisch seien vor allem spezielle Magersucht-Foren und Bilder oder Videos von ausgemergelten Teenagern unter speziellen Hashtags auf TikTok, Instagram und anderen sozialen Netzwerken, sagt die Expertin Iren Schulz von der Initiative »Schau hin!«. »Da treffen sich Gleichgesinnte, die sich gegenseitig hochpushen.« Während der Corona-Beschränkungen verbrachten junge Leute noch mehr Zeit im Internet, dieses war zum Teil ihr einziger Kontakt zur Außenwelt - und auf Instagram und anderen Kanälen bekamen sie unentwegt überarbeitete Bilder von Freundinnen, Mitschülerinnen und anderen Gleichaltrigen zu sehen, wie der Münchner Psychologe Schnebel erläutert. Weil sie diese aber nicht mehr trafen, hielten sie deren geschöntes Aussehen für echt. »Die realen Vergleiche sind weggefallen.«
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