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IQWiG-Studie zur Nutzenbewertung

Keine Ausnahmen für Orphan Drugs

Arzneimittel gegen seltene Krankheiten (Orphan Drugs) brauchen keine Ausnahmeregelung bei der Nutzenbewertung. Ihnen wird auch ohne Privileg ebenso häufig ein Zusatznutzen attestiert wie herkömmlichen Medikamenten, so das Ergebnis einer Analyse des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Das Institut hat die zweistufigen Verfahren der Nutzenbewertung bei Orphan Drugs seit 2011 unter die Lupe genommen.
Ev Tebroke
14.01.2022  15:30 Uhr

Sie bilden eine besondere Arzneimittelgruppe, die speziell auf seltene Krankheiten zugeschnitten ist: die sogenannten Orphan Drugs. Diese exklusiven Medikamente genießen einen privilegierten Status bei der Marktzulassung. Müssen Pharmaunternehmen ihre herkömmlichen Medikamente nach Markteintritt einer frühen Nutzenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesauschuss (G-BA) unterziehen, fällt dies bei Orphan Drugs weg. Ihr Zusatznutzen gilt mit der Zulassung auf europäischer Ebene und dem darauffolgenden Marktzugang automatisch als belegt (§ 35a SGB V).

Erst wenn das Medikament einen Jahresumsatz von 50 Millionen Euro überschreitet, kippt dieses Privileg. Dann muss auch ein Orphan Drug die reguläre Nutzenbewertung durchlaufen. Dieser Sonderstatus soll den Pharmaunternehmen als Anreiz dienen, zu seltenen Erkrankungen zu forschen und so auch für kleine Patientengruppen eine Therapieoption zu entwickeln. Eine Krankheit gilt in der EU als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen EU-weit von ihr betroffen sind. Hierzulande leiden schätzungsweise etwa 4 Millionen Menschen an einer seltenen Erkrankung, in der EU etwa 30 Millionen. Weltweit sind rund 8000 diverse seltene Erkrankungen bekannt.

Das Orphan-Drug-Privileg steht seit Jahren immer wieder zur Diskussion, da die Therapien sehr kostspielig sind. Kritiker betonen zudem, dass diese Präparate auf den Markt gelangen, obwohl ein Zusatznutzen womöglich nicht gegeben ist. Zu diesem Ergebnis kommt aktuell auch eine Untersuchung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Demnach haben mehr als die Hälfte aller im Nachgang einer Nutzenbewertung unterzogenen Orphans keinen Zusatznutzen.

»Fehlsteuerung bei den Orphan Drugs«

Zur Überprüfung hatte das IQWiG alle Orphan Drugs ausgewertet, die seit 2011 wegen Überschreitung der 50-Millionen-Euro-Umsatzschwelle ein reguläres Nutzenbewertungsverfahren durchlaufen haben. Dabei hat es 41 Orphan-Drug-Bewertungen identifiziert, für die seit 2011 sowohl eine spezielle Orphan-Bewertung als auch eine nachfolgende reguläre Nutzenbewertung erfolgte. Die Auswertung zeigt, dass bei 22 der 41 Bewertungen (54 Prozent) in der regulären Nutzenbewertung kein Zusatznutzen festgestellt werden konnte.

Im Umkehrschluss haben knapp 50 Prozent der Orphans einen Zusatznutzen. Bei normalen Wirkstoffen ohne Privileg sei dieser Anteil genauso hoch, heiß es vonseiten des IQWiG bei der Vorstellung der Untersuchung. Folglich brauche es auch keine Sonderbehandlung. Ein weiterer Kritikpunkt des Instituts: Im Durchschnitt dauert es gut drei Jahre, bis die Einstufung des Zusatznutzens korrigiert wird. Oft geschehe dies aber auch gar nicht, und zwar eben genau dann, wenn der Hersteller mit dem Produkt unter der Jahresumsatzschwelle von 50 Millionen Euro bleibt.

»Dies hat Folgen für die Qualität der Patientenversorgung«, betonte Thomas Kaiser, Leiter des IQWiG-Ressorts Arzneimittelbewertung. »Neue Arzneimittel werden in diesen Fällen ohne Datengrundlage bevorzugt eingesetzt. Die Patientinnen und Patienten haben dann viel Hoffnung in ein neues Arzneimittel gesetzt, für das erst Jahre später klar wird, dass es gar keinen Nachweis einer Überlegenheit gegenüber den vorhandenen Therapieoptionen gibt.« Darüber hinaus verhindere der generelle fiktive Zusatznutzen, dass zwischen Orphan Drugs mit und ohne echten Fortschritt für die Patientenversorgung unterschieden werden könne.

»Unsere Analyse belegt eine Fehlsteuerung bei den Orphan Drugs«, kommentierte IQWiG-Leiter Jürgen Windeler. Zehn Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes zur frühen Nutzenbewertung sei es Zeit, das Privileg des Zusatznutzens für Orphan Drugs abzuschaffen. »Auch Arzneimittel gegen seltene Leiden sollten bei Markteintritt eine reguläre – frühe – Nutzenbewertung gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie durch IQWiG und G-BA durchlaufen.«

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