Keimfreiheit gibt es nicht |
Am Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin sieht man solche Überlegungen kritisch. »Es gibt viele Bakterien, die im Allgemeinen für gesunde Menschen harmlos sind, die jedoch unter bestimmten Bedingungen Infektionen verursachen können«, sagt Dr. Melanie Brunke vom Fachgebiet für Angewandte Infektions- und Krankenhaushygiene der Behörde. Oder wie es Professor Dr. Iris Chaberny, die Direktorin des Instituts für Hygiene, Krankenhaushygiene und Umweltmedizin des Universitätsklinikums Leipzig, ausdrückt: »Ein gesundes Mikrobiom, in das sich jeder reinlegen kann, gibt es nicht.« Selbst bei Gilberts Bakterien sei beispielsweise zu bedenken: Enge Verwandte, die ebenfalls zur Gattung Bacillus gehören, können bei Frühgeborenen eine Blutvergiftung verursachen. Auch für andere Patienten mit einem stark geschwächten Abwehrsystem – beispielsweise nach einer Chemotherapie oder Organtransplantation – kann ein Keim lebensgefährlich werden, der für andere unbedenklich ist.
Zudem befürchtet man in Berlin, dass der Mensch sich überschätzt, wenn er meint, er könne bakteriellen Gemeinschaften einfach seien Willen aufzwingen: Auch bei Bacillus subtilis sei zum Beispiel nicht auszuschließen, dass er von anderen Keimen Gene übernehmen und dann ganz neue Eigenschaften zeigen kann, heißt es. Gerade weil es so schwer ist, die guten von den schlechten Mikroben zu unterscheiden, lautet die RKI-Devise weiterhin: In unmittelbarer Nähe des Patienten hat möglichst Keimfreiheit zu herrschen.
Aber wenn das so selten gelingt wie die Studien zeigen, ist es dann nicht besser, Bakterien im Krankenzimmer zu haben, die nur selten gefährlich werden, als solche, die es immer sind? Vom Idealzustand ist die aktuelle Situation in deutschen Krankenhäusern ja mindestens genauso weit entfernt wie die auf Gilberts Versuchsstation. Zudem liegen nicht in allen Zimmern immungeschwächte Patienten. »Wer heilt, hat Recht«, entgegnet dem Chaberny. Vor einer Revolution in der Hygiene möchten sie und ihre Kollegen am RKI erst entsprechende Beweise sehen. In den nächsten Monaten hofft Gilbert mit seiner Studie so weit zu sein, dass er diesem Wunsch nachkommen kann.
In einem Punkt zumindest sind sich jetzt schon alle einig: In der heimischen Wohnung haben Desinfektionsmittel definitiv nichts zu suchen. Vorausgesetzt, dort sind nicht gerade hochansteckende Noroviren oder andere Epidemieerreger unterwegs. »Mein eigenes natürliches Umfeld ist für mich das Gesündeste, was es gibt«, sagt Chaberny. Letztlich, siehe Gilberts Krankenhaus-Besiedlungsstudie, findet man ja in jeder Wohnung genau das Mikrobiom, das die Bewohner schon vorher in sich trugen. Andere Bakterien und Viren, die zum Beispiel über Außenluft, Haustiere oder Zimmerpflanzen dorthin gelangen, sind vor allem eins: hochwillkommene Trainingspartner für die Abwehrzellen. Wer diese bakterielle Lebensgemeinschaft stört, für den gilt auch hier die Warnung: Womöglich nutzen die Lücke bald gefährlichere Mikroben.