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Hygiene

Keimfreiheit gibt es nicht

Wo Menschen sind, sind auch Bakterien. Völlige Keimfreiheit lässt sich auch mit intensivster Desinfektion nicht erreichen. Sollten zum Schutz vor Krankheitserregern gezielt harmlose Bakterien angesiedelt werden?
Michael Brendler
09.01.2020  09:00 Uhr

Keimschleuder Mensch

Auch auf der Internationalen Raumstation ISS sind trotz massiven Einsatzes von Desinfektionsmitteln und strenger Kontrollen alle Versuche gescheitert, sich gegen irdische Keime abzuschirmen. Es stellte sich heraus, dass die Astronauten selbst immer wieder für frischen Nachschub an Mikroben sorgen. Pro Stunde gibt jeder Mensch rund vier Millionen Bakterien in die Umwelt ab, das hat den Traum von der sterilen Raumstation schnell zerstört. Professor Dr. Jack Gilbert von der Scripps Institution for Oceanography der University of California verfolgte im Rahmen des sogenannten Hospital Microbiome Projects, wie Keime ein nagelneues Krankenhaus beziehen. »Schon nach zehn Minuten«, hat er dabei gelernt, »sind die Flächen im Krankenhauszimmer übersät mit den Bakterien des Patienten.«

»Wir müssen unseren Sterilitätsbegriff grundsätzlich überdenken«, sagt Berg. »In dem Moment, in dem Menschen einen Raum betreten, gibt es keine Keimfreiheit mehr.« Dasselbe gilt laut Gilbert für die Methoden, mit denen wir uns gegen die Mikroben schützen. »In den letzten 150 Jahren hat der Mensch nur einen Weg gekannt, um sich gegen die Ausbreitung von Bakterien in seinen Wohnungen und Krankenhäusern zu wehren: Indem er alles – egal ob harmlos oder nicht –, was sich dort an Mikroben regte, vernichtet hat.« Inzwischen gebe es aber zahlreiche Belege dafür, dass dieser Kill-All-Ansatz nicht funktioniert. Gilbert geht sogar davon aus, dass es Keime gibt, die selbst die stärksten Desinfektionsmittel überleben.

Mikroben-Kommunen

Zweimal ließ Dr. Helen Hu vom Department of Biomedical Sciences der australischen Macquarie University die Räume, Betten und Möbel auf einer Intensivstation mit einer Chlorlösung desinfizieren; auf 93 Prozent der Oberflächen fanden sie und ihre Kollegen danach trotzdem weiter bakterielle Biofilme, berichteten sie und und ihre Kollegen 2015 im »Journal of Hospital Infection« (DOI: 10.1016/j.jhin.2015.05.016). Diese Schleimschichten gelten als einer der entscheidenden Gründe für das Scheitern der bisherigen Hygienestrategien. In ihnen haben sich die Mikroben als kleine arbeitsteilige Kommunen organisiert, in der sie sich gegenseitig schützen und unterstützen.

Ähnlich, glauben Berg und Gilbert, sind auch die Bakterien im gesamten Raum oder auf der Oberfläche eines Tischs zu verstehen: als mikrobielle Gemeinschaft, deren Mitglieder untereinander kommunizieren, sich aber gleichzeitig auch gegenseitig kontrollieren. Als sogenanntes Mikrobiom. Auf dem beschränkten Platz, den man sich teilen muss, sorgt das Kollektiv stets dafür, dass kein Stamm die Oberhand gewinnt. Teil dieses Sozialsystems sind laut Ansicht der Grazer Biologin stets Keime, die Gene für Antibiotikaresistenzen in sich tragen. »Sie stellen eine Art gemeinsame Lebensversicherung dar«, sagt die Wissenschaftlerin, »weil sie diese Erbgutabschnitte im Bedarfsfall an die Nachbarn weiterreichen.«

Verwendet der Mensch nun Desinfektionsmittel, bringt er dieses eingespielte Gleichgewicht durcheinander, so die Theorie. Weil die Attacke vor allem diejenigen Bakterien überleben, die von Natur aus solche Resistenzen besitzen. Dieselben DNA-Sequenzen können die Mikroorganismen oft auch nutzen, um sich gegen Desinfektionsmittel zu wehren. Sie enthalten zum Beispiel die Baupläne von Pumpen, mit denen sich alle möglichen schädlichen Substanzen aus den Zellen transportieren lassen. Die Hygienemaßnahme erledigt vor allem weniger gefährliche Erreger, mit denen sie um Nahrung und Platz konkurrieren, und verschafft ihnen damit die Möglichkeit, sich richtig auszubreiten.

Hinzu kommt: Intensivstation oder Reinraum bieten mit ihrer für Keime eher unfreundlichen Umgebung vor allem Bakterien gute Bedingungen, die sich in einer solchen mikrobiologischen Einöde wohlfühlen. Was nach der Attacke mit Peressigsäure, Chlordioxid oder Wasserstoffperoxid übrig bleibt, sind deshalb bakterielle Überlebenskünstler, für die Wunden, Atem- und Harnwege des Menschen eine willkommene Abwechslung sind. Gegen die ist es sehr schwer, mit Antibiotika etwas auszurichten. In Räumen, in denen auf Sterilität kein Wert gelegt wird, konnte Berg in ihrer Studie zeigen, sind solche Survivors viel seltener zu finden.

Nicht nur sie vertritt deshalb die Meinung: Die bisherigen Hygienestrategien müssen dringend überarbeitet werden. »Was wir bislang gemacht haben, ist antibiotikaresistente Bakteriengemeinschaften zu züchten.« Die Idee: Statt mit Desinfektionsmitteln nach der Devise »nur ein totes Bakterium ist ein gutes Bakterium« zu verfahren, könnte man die Mikrobenkommune in den Räumen hegen und pflegen. In einem gesunden Mikrobiom sorgt das Kollektiv dafür, dass sich die unerwünschten Keime nicht zu stark vermehren.

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