Keimfreiheit gibt es nicht |
Die Desinfektion gehört zu den Grundpfeilern jedes Hygienemanagements. Allerdings lässt sich völlige Keimfreiheit auch damit nicht erreichen. / Foto: Getty Images/Robert Gortana/EyeEm
Es war die US-amerikanische Raumfahrtbehörde NASA, die als erste einsehen musste, dass auf der Erde vor Bakterien und Viren kein Entkommen ist. Selbst wenn man einen Raum regelmäßig penibel desinfiziert, wenn man alles, was in ihn hineingelangt, entweder UV-Strahlen oder hoher Hitze aussetzt, und wenn man jeden, der ihn betritt, in Schutzausrüstungen packt, wird man den Kampf gegen die Mikroben verlieren. Das stellten die Wissenschaftler fest, als sie um die Jahrtausendwende ihre Reinräume im Kennedy Space Center in Florida und die darin zusammengebaute Fähre für eine Marsmission genauer auf genetische Spuren von Mikroben untersuchten. Trotz strengster Vorsichtsmaßnahmen hatte sich dort ein ganzer Kosmos von Mikroorganismen etabliert (»Environmental Microbiology« 2003, DOI: 10.1046/j.1462-2920.2003.00496.x). Mit den alten Methoden hatte man sich jahrelang etwas vorgemacht. Acinetobacter, Bacillus, Staphylococcus: Raum und Raumschiff wimmelten von Bakterien.
Seitdem man Mikroben nicht mehr mühsam in Petrischalen anzüchten muss, um sie als Eindringlinge zu überführen, hat man Krankheitserreger noch an vielen anderen Orten aufgestöbert, wo sie nicht hingehören. Das Gen 16S-rRNA dient dabei als eine Art Fingerabdruck. Daher kennt man plötzlich rund hundertmal mehr Bakterien als vor Einführung der Technik.
Diese finden sich, so hat die neue Technik offenbart, ebenfalls in Krankenhäusern oder Intensivstationen. Auch dort gelingt es mit Desinfektionsmitteln und den bisherigen Hygienemaßnahmen offenbar nur sehr unbefriedigend, die Keime zu eliminieren. Und nicht nur das: Die Substanzen fördern gleichzeitig das Wachstum der Bakterien, die man dort am allerwenigsten sehen möchte. Das war im Frühjahr 2019 in einem Bericht von Professor Dr. Gabriele Berg im Journal »Nature Communications« zu lesen (DOI: 10.1038/s41467-019-08864-0). Die Biologin vom Institut für Umweltbiotechnologie der Technischen Universität Graz hatte die Keimflora von Intensivstationen und Reinräumen mit der von ganz normalen Zimmern verglichen und festgestellt: Mikroben, die für gefährliche Infektionen prädestiniert sind oder Antibiotikaresistenzen besitzen, fanden sich am häufigsten dort, wo angeblich die strengste Sauberkeit herrschte.
Auch die Internationale Raumstation ISS hat ein Mikrobiom, das sich aus Keimen der Bewohner zusammensetzt. / Foto: Getty Images/Stocktrek Images
Auch auf der Internationalen Raumstation ISS sind trotz massiven Einsatzes von Desinfektionsmitteln und strenger Kontrollen alle Versuche gescheitert, sich gegen irdische Keime abzuschirmen. Es stellte sich heraus, dass die Astronauten selbst immer wieder für frischen Nachschub an Mikroben sorgen. Pro Stunde gibt jeder Mensch rund vier Millionen Bakterien in die Umwelt ab, das hat den Traum von der sterilen Raumstation schnell zerstört. Professor Dr. Jack Gilbert von der Scripps Institution for Oceanography der University of California verfolgte im Rahmen des sogenannten Hospital Microbiome Projects, wie Keime ein nagelneues Krankenhaus beziehen. »Schon nach zehn Minuten«, hat er dabei gelernt, »sind die Flächen im Krankenhauszimmer übersät mit den Bakterien des Patienten.«
»Wir müssen unseren Sterilitätsbegriff grundsätzlich überdenken«, sagt Berg. »In dem Moment, in dem Menschen einen Raum betreten, gibt es keine Keimfreiheit mehr.« Dasselbe gilt laut Gilbert für die Methoden, mit denen wir uns gegen die Mikroben schützen. »In den letzten 150 Jahren hat der Mensch nur einen Weg gekannt, um sich gegen die Ausbreitung von Bakterien in seinen Wohnungen und Krankenhäusern zu wehren: Indem er alles – egal ob harmlos oder nicht –, was sich dort an Mikroben regte, vernichtet hat.« Inzwischen gebe es aber zahlreiche Belege dafür, dass dieser Kill-All-Ansatz nicht funktioniert. Gilbert geht sogar davon aus, dass es Keime gibt, die selbst die stärksten Desinfektionsmittel überleben.
Zweimal ließ Dr. Helen Hu vom Department of Biomedical Sciences der australischen Macquarie University die Räume, Betten und Möbel auf einer Intensivstation mit einer Chlorlösung desinfizieren; auf 93 Prozent der Oberflächen fanden sie und ihre Kollegen danach trotzdem weiter bakterielle Biofilme, berichteten sie und und ihre Kollegen 2015 im »Journal of Hospital Infection« (DOI: 10.1016/j.jhin.2015.05.016). Diese Schleimschichten gelten als einer der entscheidenden Gründe für das Scheitern der bisherigen Hygienestrategien. In ihnen haben sich die Mikroben als kleine arbeitsteilige Kommunen organisiert, in der sie sich gegenseitig schützen und unterstützen.
Ähnlich, glauben Berg und Gilbert, sind auch die Bakterien im gesamten Raum oder auf der Oberfläche eines Tischs zu verstehen: als mikrobielle Gemeinschaft, deren Mitglieder untereinander kommunizieren, sich aber gleichzeitig auch gegenseitig kontrollieren. Als sogenanntes Mikrobiom. Auf dem beschränkten Platz, den man sich teilen muss, sorgt das Kollektiv stets dafür, dass kein Stamm die Oberhand gewinnt. Teil dieses Sozialsystems sind laut Ansicht der Grazer Biologin stets Keime, die Gene für Antibiotikaresistenzen in sich tragen. »Sie stellen eine Art gemeinsame Lebensversicherung dar«, sagt die Wissenschaftlerin, »weil sie diese Erbgutabschnitte im Bedarfsfall an die Nachbarn weiterreichen.«
Verwendet der Mensch nun Desinfektionsmittel, bringt er dieses eingespielte Gleichgewicht durcheinander, so die Theorie. Weil die Attacke vor allem diejenigen Bakterien überleben, die von Natur aus solche Resistenzen besitzen. Dieselben DNA-Sequenzen können die Mikroorganismen oft auch nutzen, um sich gegen Desinfektionsmittel zu wehren. Sie enthalten zum Beispiel die Baupläne von Pumpen, mit denen sich alle möglichen schädlichen Substanzen aus den Zellen transportieren lassen. Die Hygienemaßnahme erledigt vor allem weniger gefährliche Erreger, mit denen sie um Nahrung und Platz konkurrieren, und verschafft ihnen damit die Möglichkeit, sich richtig auszubreiten.
Hinzu kommt: Intensivstation oder Reinraum bieten mit ihrer für Keime eher unfreundlichen Umgebung vor allem Bakterien gute Bedingungen, die sich in einer solchen mikrobiologischen Einöde wohlfühlen. Was nach der Attacke mit Peressigsäure, Chlordioxid oder Wasserstoffperoxid übrig bleibt, sind deshalb bakterielle Überlebenskünstler, für die Wunden, Atem- und Harnwege des Menschen eine willkommene Abwechslung sind. Gegen die ist es sehr schwer, mit Antibiotika etwas auszurichten. In Räumen, in denen auf Sterilität kein Wert gelegt wird, konnte Berg in ihrer Studie zeigen, sind solche Survivors viel seltener zu finden.
Nicht nur sie vertritt deshalb die Meinung: Die bisherigen Hygienestrategien müssen dringend überarbeitet werden. »Was wir bislang gemacht haben, ist antibiotikaresistente Bakteriengemeinschaften zu züchten.« Die Idee: Statt mit Desinfektionsmitteln nach der Devise »nur ein totes Bakterium ist ein gutes Bakterium« zu verfahren, könnte man die Mikrobenkommune in den Räumen hegen und pflegen. In einem gesunden Mikrobiom sorgt das Kollektiv dafür, dass sich die unerwünschten Keime nicht zu stark vermehren.
Gilbert geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er versucht, in einer Klinik in San Diego gezielt gesunde Raum-Mikrobiome zu züchten. Er hat sich für seine Studie ein weit verbreitetes Staubbakterium namens Bacillus subtilis ausgesucht, das er nun in Krankenhauszimmern verteilt. »Überall zu finden, völlig harmlos, macht nirgendwo Infektionen«, lautet seine Charakterisierung des Versuchsobjekts. Es soll sich in den Räumen breitmachen und Krankheitserregern Platz und Nahrung streitig machen. Vor sechs Jahren haben Kollegen aus Italien und Belgien bereits in drei Kliniken demonstriert, dass sich die Zahl der gefährlichen Mikroben um bis zu 89 Prozent reduzieren lässt, wenn man Putzmittel verwendet, die Bacillus subtilis und zwei verwandte Keime enthalten (»Plos One«, DOI: 10.1371/journal.pone.0108598).
Auf Frühgeborenen-Intensivstationen findet sich das Mikrobiom des Raums irgendwann auch im Körper der Babys wieder. / Foto: Getty Images/arrow
Die Frage ist nur: Spiegelt sich das auch in den Infektionsraten wider? Genau das will Gilbert nun herausfinden. Zwar weiß man von Frühgeborenen-Intensivstationen, dass sich das Mikrobiom im Raum irgendwann auch im Körper der Babys wiederfindet. Aber das heißt noch lange nicht, dass dasselbe auch für die immunologisch deutlich wehrhafteren Erwachsenen gilt. Vorausgesetzt, die Bakterien werden nicht durch die Hände des Personals oder invasive Instrumente wie Nadeln und Skalpelle übertragen. Dass Hände vor jedem Patientenkontakt desinfiziert gehören und solche Gegenstände nach dem Gebrauch sterilisiert werden müssen, stellen auch Gilbert und Berg nicht infrage.
Ähnliche Überlegungen lassen sich auch für Nahrungsmittel anstellen. Bisher werden zum Beispiel Fertiglebensmittel aufwendig konserviert und sterilisiert. Ist das wirklich die beste Methode, um Infektionen zu verhindern?, fragt sich nicht nur Berg. Zumal die bisherige Vernichtungsstrategie – egal an welcher Stelle – eine weitere Nebenwirkung hat: Sie beraubt das Immunsystem seiner Sparringspartner, mit denen es regelmäßig die eigene Fitness trainiert. Dem mangelnden Kontakt mit zumeist harmlosen Keimen wird inzwischen unter anderem zugeschrieben, dass Asthma und Allergien in den westlichen Gesellschaften immer häufiger auftreten.
Am Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin sieht man solche Überlegungen kritisch. »Es gibt viele Bakterien, die im Allgemeinen für gesunde Menschen harmlos sind, die jedoch unter bestimmten Bedingungen Infektionen verursachen können«, sagt Dr. Melanie Brunke vom Fachgebiet für Angewandte Infektions- und Krankenhaushygiene der Behörde. Oder wie es Professor Dr. Iris Chaberny, die Direktorin des Instituts für Hygiene, Krankenhaushygiene und Umweltmedizin des Universitätsklinikums Leipzig, ausdrückt: »Ein gesundes Mikrobiom, in das sich jeder reinlegen kann, gibt es nicht.« Selbst bei Gilberts Bakterien sei beispielsweise zu bedenken: Enge Verwandte, die ebenfalls zur Gattung Bacillus gehören, können bei Frühgeborenen eine Blutvergiftung verursachen. Auch für andere Patienten mit einem stark geschwächten Abwehrsystem – beispielsweise nach einer Chemotherapie oder Organtransplantation – kann ein Keim lebensgefährlich werden, der für andere unbedenklich ist.
Zudem befürchtet man in Berlin, dass der Mensch sich überschätzt, wenn er meint, er könne bakteriellen Gemeinschaften einfach seien Willen aufzwingen: Auch bei Bacillus subtilis sei zum Beispiel nicht auszuschließen, dass er von anderen Keimen Gene übernehmen und dann ganz neue Eigenschaften zeigen kann, heißt es. Gerade weil es so schwer ist, die guten von den schlechten Mikroben zu unterscheiden, lautet die RKI-Devise weiterhin: In unmittelbarer Nähe des Patienten hat möglichst Keimfreiheit zu herrschen.
Aber wenn das so selten gelingt wie die Studien zeigen, ist es dann nicht besser, Bakterien im Krankenzimmer zu haben, die nur selten gefährlich werden, als solche, die es immer sind? Vom Idealzustand ist die aktuelle Situation in deutschen Krankenhäusern ja mindestens genauso weit entfernt wie die auf Gilberts Versuchsstation. Zudem liegen nicht in allen Zimmern immungeschwächte Patienten. »Wer heilt, hat Recht«, entgegnet dem Chaberny. Vor einer Revolution in der Hygiene möchten sie und ihre Kollegen am RKI erst entsprechende Beweise sehen. In den nächsten Monaten hofft Gilbert mit seiner Studie so weit zu sein, dass er diesem Wunsch nachkommen kann.
In einem Punkt zumindest sind sich jetzt schon alle einig: In der heimischen Wohnung haben Desinfektionsmittel definitiv nichts zu suchen. Vorausgesetzt, dort sind nicht gerade hochansteckende Noroviren oder andere Epidemieerreger unterwegs. »Mein eigenes natürliches Umfeld ist für mich das Gesündeste, was es gibt«, sagt Chaberny. Letztlich, siehe Gilberts Krankenhaus-Besiedlungsstudie, findet man ja in jeder Wohnung genau das Mikrobiom, das die Bewohner schon vorher in sich trugen. Andere Bakterien und Viren, die zum Beispiel über Außenluft, Haustiere oder Zimmerpflanzen dorthin gelangen, sind vor allem eins: hochwillkommene Trainingspartner für die Abwehrzellen. Wer diese bakterielle Lebensgemeinschaft stört, für den gilt auch hier die Warnung: Womöglich nutzen die Lücke bald gefährlichere Mikroben.