Angriff auf Neurone |
12.11.2001 00:00 Uhr |
Das Gehirn ist im Vergleich zu anderen Körpergeweben außerordentlich empfindlich gegenüber oxidativem Stress. Dies liegt an einer vermehrten Produktion von Sauerstoffradikalen bei gleichzeitig verminderter Aktivität und Kapazität antioxidativer Schutzsysteme. Da sich Neurone quantitativ gesehen kaum regenerieren können, ist das Nervengewebe höchst anfällig für langsam kumulierende Schäden. Häufen sich Zellschäden über Jahrzehnte hinweg an, führen sie langsam, aber unaufhaltsam zu pathologischen Veränderungen. Neurodegenerative und entzündliche Erkrankungen können die Folge sein. Dieser Beitrag erläutert, wie freie Radikale im Gehirn entstehen und welche biologischen Wirkungen sie dort auslösen können*).
*)Was diese Schäden konkret für die Entstehung des Morbus Alzheimer und weiterer neurodegenerativer Erkrankungen bedeutet, lesen Sie im zweiten Teil des Titelbeitrags in PZ 48.
Im Gehirn existiert, genau wie in anderen Organen auch, unter Normalbedingungen ein Gleichgewicht zwischen prooxidativen und antioxidativen Systemen. Der Stoffwechsel des Gehirns weist jedoch einige Besonderheiten auf, die für die Entstehung, Entgiftung und pathophysiologische Wirkung freier Sauerstoffradikale bedeutsam sind. Dazu gehören beispielsweise der hohe Sauerstoffverbrauch, die Blut-Hirnschranke und der postmitotische Status der Neuronen.
Wie entstehen freie Radikale im Gehirn?
Das Hirngewebe verbraucht, verglichen mit seinem geringen Anteil am Gesamtgewebe des Menschen (etwa zwei Prozent), eine besonders hohe Menge an Sauerstoff, nämlich etwa 20 Prozent des Gesamtverbrauchs. Jedoch reduziert die mitochondriale Atmungskette zwei bis fünf Prozent des molekularen Sauerstoffs nicht vollständig zu Wasser, sondern zu Superoxidanion-Radikalen (61, 90). Die Superoxidproduktion kann darüber hinaus bei reduzierter Sauerstoffkonzentration dramatisch ansteigen (2).
Superoxidanionen wiederum werden durch die Superoxiddismutase in Wasserstoffperoxid umgesetzt, das mit Hilfe anderer antioxidativer Schutzsysteme wie Katalase oder des Glutathionsystems zu Wasser reduziert wird. Interessanterweise kommt es bei Anwesenheit von freien Eisen- oder Kupferionen zu ernsten Komplikationen. Beide Übergangsmetalle katalysieren die Bildung des höchst reaktiven Hydroxylradikals aus Wasserstoffperoxid, das zelluläre Bestandteile wie Membranen, Nukleinsäuren oder Proteine schädigen kann. Um diese für die Zelle höchst gefährliche Reaktion zu verhindern, werden sowohl Eisen- als auch Kupferionen intrazellulär an Proteine gebunden gespeichert.
Einige Bereiche und Zellen im Gehirn, zum Beispiel die Oligodendrozyten, weisen überdurchschnittlich hohe Konzentrationen an Eisen auf (90). Dies ist auf der einen Seite für die normale Funktion des Gehirns unabdingbar, birgt aber auch ein hohes Gefahrenpotenzial. Auffallend ist, dass in den Oligodendrozyten antioxidative Schutzsysteme wenig aktiv sind (90).
Neben der mitochondrialen Atmungskette, die ohne Zweifel eine der Hauptquellen für reaktive Sauerstoffintermediate ist, spielt der Katecholamin-Stoffwechsel eine wichtige Rolle für die Oxidantienbildung im Gehirn. Bildung und Abbau von Katecholaminen erfolgen vor allem in dopaminergen Neuronen durch die Monoaminoxidase B, die dabei auch Superoxidanion-Radikale freisetzt. Damit ist die oxidative Schädigung möglicherweise auf eine oder wenige Zellpopulationen begrenzt. Neben dem enzymatischen Abbau unterliegen Katecholamine auch Autooxidationsprozessen, die mit einer Radikalbildung verbunden sind. Die Autooxidation des Dopamins wird als eine Ursache der Pathogenese des Morbus Parkinson diskutiert (25, 34).
Neben reaktiven Sauerstoffspezies entstehen auch Stickstoff-basierte Oxidantien im Gehirn. Wichtigstes Radikal ist das Gefäß relaxierende Molekül Stickstoffmonoxid (NO), dessen enzymatische Bildung alle bekannten Stickstoffmonoxid-Synthetasen (NO-Synthetasen) im Gehirn katalysieren. Dazu gehören eine neuronale Form, eine in Makrophagen/Mikroglia lokalisierte induzierbare und eine endotheliale Form. Die physiologischen Reaktionen von NO mit biologischen Makromolekülen beschränken sich auf wenige spezifische Modifikationen, zum Beispiel die Bindung an Häm- oder Thiolgruppen. Wichtiger ist die außerordentlich schnelle Reaktion von NO mit Superoxidanion-Radikal. Dabei entsteht Peroxynitrit (ONOO-), eines der potentesten Oxidantien in biologischen Systemen. Peroxynitrit hat in wässrigen Systemen eine Halbwertszeit von etwa einer Sekunde und zerfällt in weitere reaktive Sauerstoff- und Stickstoffspezies, zum Beispiel in Hydroxylradikal und verschiedene Stickoxide (NxOy). Die Chemie dieses Zerfalls unter biologischen Bedingungen ist noch unzureichend erforscht. Die Oxidation von Proteinen durch Peroxynitrit führt unter anderem zu einem spezifischen Produkt, dem Nitrotyrosin.
Somit sind die Zellen des Nervensystems einem konstanten Ansturm von Oxidantien ausgesetzt. Diese werden normalerweise von antioxidativen Mechanismen abgefangen und verursachen nur geringen Schaden. Bei krankhaften Veränderungen, zum Beispiel bei Entzündungen, steigt die Oxidantienproduktion durch gewebestämmige Mikrogliazellen oder aus dem Blut einwandernde Monozyten und Makrophagen dramatisch an. Diese Zellen setzen bei ihrer Aktivierung einen großen Teil des konsumierten Sauerstoffs in Form von Radikalen frei. Mit Hilfe dieses "oxidative burst" sollen Infektionsherde bekämpft und aufgelöst werden. Allerdings können die erzeugten Radikale und Oxidantien ebenfalls unerwünschte Effekte auf das Nervengewebe ausüben.
Begrenzte Abwehrstrategien in Gehirnzellen
Auf Grund des ständigen Zustroms von Sauerstoffradikalen in den Zellen aerober Organismen sind diese mit einem redundanten und vielschichtigem Arsenal antioxidativer Abwehrstrategien ausgestattet. Dazu gehören hydrophile und lipophile Antioxidantien wie Vitamin E, Vitamin C, Harnsäure, Bilirubin und Coenzym Q oder Enzyme wie Katalase, Superoxiddismutase und Glutathion-Transferasen, die direkt mit freien Radikalen reagieren und diese somit nicht-enzymatisch oder enzymatisch entgiften. Freie Radikale, die dieser primären Abwehr entgehen, können mit zelleigenen Makromolekülen wie Proteinen, Lipiden und DNA reagieren und diese damit schädigen. Dagegen richten sich die sekundären antioxidativen Systeme, die für Abbau oder Reparatur oxidativ geschädigter Proteine sorgen (Beispiel: Proteasom-System, Methioninsulfoxidreduktasen und Membranreparaturprozesse) oder toxische Endprodukte der Lipidperoxidation abbauen (4-Hydroxynonenal-Stoffwechsel) oder die DNA reparieren.
Zellen im ZNS und die Blut-Hirnschranke Wie jedes Gewebe besteht das Zentralnervensystem aus verschiedenen Zelltypen und der Interzellularsubstanz. Die Zellen des Gehirns unterteilen sich in Neurone, Glia- und Endothelzellen. Die Gliazellen werden wiederum in Astro- und Mikroglia sowie in Oligodendrozyten unterteilt.
Neurone sind die eigentlichen informationsverarbeitenden Zellen und in verschiedenen Strukturen in unterschiedlicher Dichte angeordnet. Sie bestehen aus einem Zellkörper, mehreren Dendriten und einem Axon. Die Information wird über den Kontakt von Nervenzellen untereinander weitergeleitet. Die Kontaktstellen heißen Synapsen. Während die Dendriten über Verzweigungen Kontakt zu anderen Neuronen aufnehmen, wird das Informationssignal über das Axon weitergegeben. Eine Fettschicht, die Myelinscheide, umgibt die zum Teil sehr langen Axone und schützt damit die Signalleitung. Die Myelinscheide wird von Oligodendrozyten gebildet.
Astrozyten stellen Metabolite für die Neuronen zur Verfügung, nehmen am Neurotransmitterstoffwechsel teil, regulieren den Ionenhaushalt des ZNS und beteiligen sich als Antigen präsentierende Zellen an der Immunabwehr. Mikrogliazellen sind die gewebeständigen Makrophagen des Gehirns. Sie können durch verschiedene Stimuli, zum Beispiel durch geschädigte oder sterbende Neurone, Zellwandbestandteile von Bakterien oder Zytokine, vom ruhenden in den aktivierten Zustand übergehen, proliferieren und zum Ort der Schädigung migrieren.
Das Hirngewebe ist durch eine besondere Blut-Hirnschranke vom restlichen Körper abgetrennt. Diese Barriere wird durch das Endothel der Blutkapillaren, die Basalmembran und von Astrozytenfortsätzen gebildet. Während die Endothelzellen die eigentliche Barriere bilden, sorgen Faktoren der Astrozyten dafür, dass die Schranke völlig dicht ist. Die Blut-Hirnschranke ist für einen selektiven Stofftransport in das Nervengewebe verantwortlich. Auf Grund dieser Eigenschaft ist die Anflutung von Pharmaka in das Zentralnervengewebe begrenzt.
Das ZNS ist allseits vom Liquor cerebrospinalis umgeben. Die inneren Liquorräume sind von einem einschichtigen Ependym ausgekleidet, wobei aber durch Interzellularräume im Ependym ein Austausch mit der interstitiellen Flüssigkeit des Gehirns besteht (Hirn-Liquor-Schranke). Mit dem Blutraum ist dagegen kein ungehinderter Austausch möglich (Blut-Liquor-Schranke).
Den bereits unter physiologischen Bedingungen ausgeprägt prooxidativen Bedingungen des Gehirns stehen allerdings nur sehr begrenzt einsatzfähige Abwehrsysteme gegenüber. So ist die Aktivität vieler antioxidativer Enzyme in Neuronen reduziert; die Katalase-Aktivität beträgt hier nur zehn Prozent der in der Leber (62). Erstaunlicherweise genügt bereits die physiologische exzitatorische Neurotransmission durch Glutamat, um in Neuronen einen hohen Grad an DNA-Schäden zu induzieren. Damit steigt die basale Aktivität des an der DNA-Reparatur beteiligten Enzyms Poly-ADP-Ribose-Polymerase (PARP) dramatisch an; sie erreicht dort das etwa 70-fache der Aktivität in Gliazellen (76).
Oligodendrozyten, die die Myelinscheiden der Neurone bilden, weisen weniger als die Hälfte an Glutathion und Glutathionreduktase-Aktivität sowie nur etwa 15 Prozent der Glutathionperoxidase-Aktivität von Astrozyten auf (45). Darüber hinaus fehlen ihnen eine Mangan-Superoxiddismutase (Mn-SOD) (90) und auch Metallothionin, ein Cystein-reiches Antioxidans und Bindungsmolekül für Zink- und Kupferionen (71). Andererseits enthalten Oligodendrozyten die meisten Eisenionen im Hirngewebe (17). Zudem sind die Myelinscheiden wegen ihrer spezifischen Lipidzusammensetzung sehr reaktiv gegenüber Sauerstoffradikalen (6). Fazit: Oligodendrozyten sind ganz besonders empfindlich gegenüber oxidativen Angriffen (90), insbesondere durch NO, das aus inflammatorischen Zellen freigesetzt wird (67).
Mikrogliazellen wehren sich effektiver
Auf der anderen Seite gibt es eine Zellpopulation im ZNS, die eine besonders ausgeprägte und streng regulierte antioxidative Protektion aufweist: die Mikrogliazellen. Diese Zellen machen etwa 5 bis 15 Prozent der Gesamtzellpopulation des ZNS aus und repräsentieren immunkompetente Phagozyten im Hirnparenchym, die im gesunden ZNS inaktiv ruhen.
Unter verschiedenen pathologischen Bedingungen, zum Beispiel bei einem primären neuronalen Schaden, werden diese Zellen aktiviert, ändern ihre Morphologie, proliferieren, exprimieren MHC- und Adhäsionsmoleküle, migrieren und setzen große Mengen an toxischen Radikalen wie Superoxidanion und Stickstoffmonoxid frei (15, 16, 49). Erstaunlicherweise überleben aktivierte Mikrogliazellen diese stark oxidativen Bedingungen, was bisher auf eine verstärkte Expression antioxidativer Enzyme wie Glutathionperoxidase (52) und der Mn-SOD (72) zurückgeführt wurde. Neuere Untersuchungen zeigen eine veränderte Regulation eines proteolytischen Systems, das oxidativ geschädigte mikrogliale Proteine abbauen kann. Auf diesem Proteasom-System könnte die besondere Resistenz aktivierter Mikrogliazellen gegenüber oxidativem Stress beruhen (92).
Oxidativer Angriff auf Lipide und Proteine
Freie Sauerstoffradikale entfalten ihre biologische Wirkung im wesentlichen über die Reaktion mit zellulären Makromolekülen wie Lipiden, Proteinen und Nukleinsäuren.
Das Nervengewebe besitzt einen hohen Lipidanteil (29). Zusätzlich enthalten Membranen sehr viele mehrfach ungesättigte Fettsäuren (PUFA), vor allem die Archidonsäure (C20:4) und die Docosahexaensäure (C22:6) n (29). Die dichte Packung der Lipide in den Membranen der Myelinscheiden und die mäßige Ausstattung mit antioxidativen Schutzsystemen begünstigen prooxidative Prozesse (90), die die Membranintegrität stören und die Freisetzung zytotoxischer Lipidperoxidationsprodukte anregen können.
Daneben kommt es bei vielen neurologischen Erkrankungen zu oxidativen Proteinmodifikationen - mit der Folge, dass die oxidierten Proteine kumulieren, möglicherweise entzündliche Veränderungen hervorrufen und den neuronalen Zelltod auslösen. Diese "Neurodegeneration" führt im Lauf des Lebens zu charakteristischen Veränderungen. In der Tabelle sind einige neurodegenerative Erkrankungen mit den (bis jetzt bekannten) Proteinveränderungen aufgeführt. Auch der Prozess des biologischen Alterns ist aus Sicht der oxidativen Veränderungen im Gehirn eine langsam fortschreitende Anhäufung von modifizierten Proteinen (4).
Warum sind Neurone so anfällig? Neurone sind postmitotische Zellen; sie können sich nicht mehr teilen und werden im erwachsenen Individuum nicht nachgebildet. Obwohl nur ein Teil von ihnen direkt bestimmte Hirnleistungen wie Motorik, Sensorik und Gedächtnisbildung einbezogen ist und das Gehirn eine große Plastizität aufweist, können für einzelne Bereiche des Hirns kritische Mengen an Neuronen degenerativ verändert sein. Eine Schlüsselrolle spielen dabei möglicherweise die Mitochondrien der Zellen. Mitochondrien erzeugen normalerweise die zelluläre Energie durch die Bildung von ATP aus der oxidativen Verstoffwechselung von Substraten. Dabei können Sauerstoffradikale entstehen. Paradoxerweise sind Mitochondrien nicht nur die Hauptquelle solcher Sauerstoffradikale, sondern auch eines der empfindlichsten Ziele für Oxidationsreaktionen. Durch ihre fortschreitende Schädigung wird die ATP-Produktion in der Zelle allmählich massiv gestört. Da sich Neurone nicht mehr teilen, werden auch keine oder nur sehr wenige Mitochondrien neu gebildet. Die (vor-) geschädigten Mitochondrien produzieren mehr und mehr Sauerstoffradikale, die Oxidationsprozesse in den Neuronen schreiten fort, der ATP-Spiegel fällt und reicht für Reparaturprozesse nicht mehr aus (61). Es kommt zum neuronalen Zelltod und letztendlich zu Funktionsverlusten des Gehirns.
Neuronaler Zelltod beim ischämischen Insult
Der ischämische Schlaganfall steht am Ende einer pathobiochemischen Kaskade von Ereignissen, die mit der temporären oder permanenten Reduktion des Blutflusses im Gehirn beginnt. Die Hirnschädigung ist aber nicht - wie lange angenommen - das passive Resultat dieser Durchblutungsstörung; vielmehr sind an dieser Ereigniskette zahlreiche Zellen aktiv beteiligt (23, 53). Durch die geringe Versorgung mit Sauerstoff fällt der ATP-Spiegel ab. Dies führt zu Veränderungen im pH-Wert, zu Störungen in der Ionenverteilung und zum Verlust von Membranpotenzialen. Natriumionen strömen ein, Kaliumionen aus. Durch die Ionenimbalance schwillt das Gewebe durch intrazelluläre Wassereinlagerung an. Der Druckanstieg im inneren Schädelraum durch das Hirnödem ist für den weiteren Zustand des Patienten mitverantwortlich.
Zugleich werden massiv Neurotransmitter freigesetzt, die wiederum die Calcium-Homöostase verändern. Durch eine erhöhte intrazelluläre Calcium-Konzentration werden Radikal-produzierende Enzyme wie Cyclooxigenase und Xanthinoxidase aktiviert (23, 53).
Tabelle: Kumulation von oxidativ modifizierten Proteinen bei neurodegenerativen Erkrankungen
Erkrankung, Prozess Anhäufung von Proteinen Morbus Alzheimer Neurofibrilläre Tangles (NFTs) aus tau-Protein (intrazellulär)
Die Freisetzung großer Mengen exzitatorischer Neurotransmitter führt über deren Bindung an ionotrope Glutamatrezeptoren zu einer ausgeprägten intraneuronalen Bildung von reaktiven Sauerstoffradikalen (9, 50, 59). Als Ursachen werden eine Calcium-abhängige Entkopplung der mitochondrialen Atmungskette (24) und ein Transpeptidase-induzierter Glutathion-Efflux (93) diskutiert. Die freigesetzten Sauerstoffradikale können nun mit neuronalen Makromolekülen zu Oxidations- und Degradationsprodukten reagieren, die ihrerseits teilweise langlebig genug sind, um unter den Bedingungen eines neuronalen Primärschadens zu kumulieren. Wahrscheinlich sind diese Produkte letztlich für die Toxizität freier Sauerstoffradikale verantwortlich (26, 48).
Neben der endogenen Produktion von Oxidantien lösen einwandernde Entzündungszellen massive sekundäre Gewebeschäden aus. Aktivierte Mikrogliazellen (Gehirn-Makrophagen) sowie aus dem Blutkreislauf einwandernde neutrophile Leukozyten sowie Monozyten und Makrophagen produzieren große Mengen von Sauerstoffradikalen und Stickstoff-zentrierten Oxidantien sowie toxische Zytokine.
Proteinaggregate und Neurodegeneration In allen Zellen des Organismus unterliegen Proteine einer ständigen Neusynthese und einem Abbau. Die Lebensdauer eines Proteins spiegelt sich in seiner Halbwertszeit wieder. Diese kann für einige regulatorische Proteine im Bereich von einigen Minuten liegen und für andere, meist Strukturproteine, im Bereich von Monaten und Jahren. Oxidative Veränderungen, Modifizierung durch Zucker und andere Stoffe beeinträchtigen die Funktion des Proteins. Es verliert seine Funktion und muss abgebaut werden.
Bei einer Reihe von Erkrankungen und physiologischen Prozessen werden modifizierte und funktionslose Proteine aus bisher ungeklärten Ursachen nicht rechtzeitig abgebaut. Mit der Zeit sammelt sich mehr und mehr "Müll" an. Zelluläre Reaktionen können den Prozess verschärfen. Es kommt zur Phosphorylierung, zur Ubiquitinierung, zur weiteren Oxidation und Modifikation durch Zucker. Die entstehenden Proteinaggregate sind oft unlöslich, haben charakteristische Fluoreszenzeigenschaften, kumulieren in definierten Bereichen der Zelle und können aus einem oder wenigen Proteinen (Tabelle) oder aus einer zufälligen Komposition zellulärer Proteine bestehen. Diese Aggregate sind nicht nur das inerte Abfallprodukt des zellulären Stoffwechsels, sondern greifen aktiv in Stoffwechselprozesse ein. Dadurch kommt es letztendlich zum Zelltod.
Nach heutigen Erkenntnissen ist die Kumulation von Proteinaggregaten ein Merkmal bei vielen neurodegenerativen Veränderungen.
Im Kerngebiet des Infarktes sind viele ischämische Veränderungen nicht reversibel. Dagegen gibt es ein Randgebiet (Penumbra) mit nur geringen Perfusionsstörungen, in denen die Veränderungen möglicherweise reversibel sind (23). Bei therapeutischen Interventionen geht es vor allem darum, Neurone aus diesem Randgebiet zu retten und deren Absterben zu verhindern. Durch wellenartige Wiederholungen von Depolarisation und Repolarisation im Bereich der Penumbra wird das Gewebe weiter geschädigt; möglicherweise vergrößert sich dadurch das Infarktgebiet (23). Wesentlich könnten auch Gegenreaktionen der einzelnen Zellen sein: Reparaturprozesse verbrauchen möglicherweise zu viel Energie, so dass vorgeschädigte Zellen auf apoptotischem Weg absterben (23).
Die pathophysiologischen Prozesse in der Penumbra werden wesentlich durch die aktivierten und eingewanderten Mikrogliazellen und Makrophagen bestimmt. Diese Zelltypen produzieren große Mengen an freien Radikalen und toxischen Zytokinen und führen daher zu einer weiteren inflammatorischen Schädigung.
Das pathophysiologische Geschehen des ischämischen Insults verläuft über mehrere Tage (23). Während Veränderungen der Ionenhomöostase und der Neurotransmitter minutenschnell ablaufen, ist das Zeitfenster für entzündliche Veränderungen und apoptotische Prozesse im Bereich von Stunden bis Tagen anzusetzen. Daher sollten therapeutische Strategien den Schutz initial überlebender Neurone vor diesen sekundären Schadensprozessen zum Ziel haben.
Literatur zu den Titelbeiträgen 46 und 48/2001
Die Autoren
Oliver Ullrich studierte Medizin und Biochemie an der Freien Universität Berlin und wurde anschließend zum Dr. med. an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Von 1996 bis 1998 erhielt ein Stipendium der Ernst-Schering-Research-Foundation und untersuchte die Regulation des Abbaus oxidativ geschädigter Zellkernproteine. 1998 wurde er zum Dr. rer. nat. an der Freien Universität Berlin promoviert. Seit 1998 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Professor Dr. Robert Nitsch in der AG Zell- und Neurobiologie am Institut für Anatomie der Charité. Er ist Autor vieler wissenschaftlicher Publikationen und beschäftigt sich mit der Untersuchung molekularer und zellulärer Mechanismen der sekundären neuronalen Schädigung mit dem Ziel der Entwicklung neuer therapeutischer Ansätze zur Neuroprotektion.
Tilman Grune war nach dem Studium der Medizin in Moskau mehrere Jahre als Mitarbeiter am Institut für Biochemie der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin beschäftigt. 1992 wurde er promoviert. Im selben Jahr war er Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie Berlin. Von 1993 bis 1994 war er als Post-Doc am Department of Biochemistry and Molecular Biology des Albany Medical College, Albany, New York, tätig. Seit 1994 leitet er die Forschungsabteilung der Klinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation der Charité. 1998 habilitierte er sich. Die von ihm geleitete Forschungsabteilung ist seit 2000 dem Neurowissenschaftlichen Forschungszentrum der Charité zugeordnet. Seine mehr als 150 wissenschaftlichen Publikationen befassen sich mit der radikalisch initiierten Gewebeschädigung, dem Metabolismus aldehydischer Lipidperoxidationsprodukte und dem Abbau oxidierter Proteine. Den Beitrag dieser Prozesse zu neurologischen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer und ischämischem Insult zu klären, ist zentrales Anliegen seiner Forschungen.
Anschrift der Verfasser:
Dr. med. Dr. rer. nat. Oliver Ullrich
AG Zell- und Neurobiologie, Institut für Anatomie
Privatdozent Dr. med. Tilman Grune
Neurowissenschaftliches Forschungszentrum
Medizinische Fakultät (Charité) der Humboldt-Universität Berlin
Schumannstraße 20/21
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E-Mail: tilman.grune@charite.de
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