Infektionen wecken schlafende Krebszellen |
| Theo Dingermann |
| 04.08.2025 10:30 Uhr |
Nach erfolgreicher Krebstherapie können einzelne Tumorzellen in der Lunge in einem Ruhezustand überdauern. Laut einer aktuellen Studie besteht die Gefahr, dass diese Zellen durch Atemwegsinfektionen wieder aktiviert werden. / © Getty Images/da-kuk
Brustkrebs ist weltweit eine der häufigsten Krebserkrankungen bei Frauen. Viele Todesfälle gehen auf Metastasen zurück, die auch noch Jahre oder sogar Jahrzehnte nach der Entfernung des Primärtumors auftreten. Verursacht werden diese Fälle durch verstreute, »schlafende« Tumorzellen: ruhende disseminierte Brustkrebszellen (DCC).
In den ersten zwei Jahren der Coronapandemie kam es zu einem Anstieg krebsbedingter Todesfälle, die nicht durch eine medizinische Versorgungslücke zu erklären waren. Diese Beobachtung veranlasste ein internationales Forscherteam um Dr. Shi Biao Chia von der University of Colorado in Aurora dazu, zu überprüfen, ob respiratorische Virusinfektionen wie SARS-CoV-2, aber auch Influenza DCC in der Lunge reaktivieren können. Die Ergebnisse präsentiert das Team aktuell im Fachjournal »Nature«.
Sie verwendeten für ihre Untersuchungen ein transgenes Mausmodell für metastasierende, ruhende Brustkrebszellen (MMTV-Her2). Infizierten die Forschenden diese Mäuse mit Influenza-A-(H1N1)-Viren oder mit SARS-CoV-2, führte dies innerhalb von 15 Tagen zu einer explosionsartigen Vermehrung der DCC in der Lunge der Versuchstiere. Die Zunahme war 100- bis 1000-fach im Vergleich zu Kontrolltieren.
Die genauere Analyse zeigte, dass es innerhalb von drei Tagen in den DCC zu einer erhöhten Expression des Proliferationsmarkers Ki67 kam. Zudem verloren die poliferierenden Zellen den mesenchymalen Marker Vimentin und es kam zu einem transienten Anstieg des epithelialen Markers EpCAM (epitheliales Zelladhäsionsmolekül), ein Zeichen für den phänotypischen Übergang vom ruhenden zum proliferativen Zustand der Zellen.
RNA-Sequenzierungsanalysen von einzelnen HER2-positiven Zellen wiesen auf Interleukin-6 (IL-6) als relevanten Auslöser für diese Umprogrammierung hin. Zudem wurde ein Anstieg der Interferon-, TNF- und Angiogenese-Aktivität sowie eine vermehrte Expression von Kollagen-, Metalloproteinase- und Angiogenesegenen gezeigt.
Die dominante Rolle von IL-6 als Treiber des Proliferationsprozesses bewiesen die Forschenden mithilfe von Knockout-Varianten ihres Mausmodells, in denen das Gen für IL-6 inaktiviert war. Ohne IL-6 blieb die Anzahl und Proliferation von DCC niedrig, auch nach einer Infektion. Wurde IL-6 von außen zugesetzt, führte dies zu einem deutlich gesteigerten Wachstum von HER2-positiven Organoiden, die in vitro aus Her2-positiven Mammakarzinom-Zellen gezüchtet werden können.
In der Lunge der Mäuse traten nach der initialen IL-6-vermittelten DCC-Expansion CD4+-angereicherte lymphoide Aggregate auf, in deren Nähe HER2+-Zellen akkumulierten. Eine Depletion von CD4+-Zellen nach Infektion führte erstaunlicherweise zu einer deutlichen Reduktion der HER2+-DCC. Dies deutet an, dass CD4+-T-Zellen benötigt werden, um den Austritt der DCC aus der Ruhephase aufrechtzuerhalten, aber nicht, um den Austritt zu initiieren.
Im Gegenteil: Durch Genexpressionsanalyse zeigte sich, dass die Depletion von CD4+-T-Zellen zu einem Anstieg von CD8+-T-Zellen, also zytotoxischen T-Zellen, führte. Da CD8+-T-Zellen infizierte Zellen oder Krebszellen abtöten können, vermuten die Autoren, dass CD4+-T-Zellen die Fähigkeit der CD8+-T-Zellen zur Kontrolle des Wachstums von DCC einschränken. Die Beobachtung, dass diese Krebszellen das Immunsystem manipulierten, um sich selbst zu schützen, anstatt sie zu eliminieren sei »wirklich ziemlich schockierend« gewesen, sagt Seniorautor Professor Dr. DeGregori in einem News-Beitrag in »Nature« zu der Studie.
Die bisher geschilderte Evidenz bezieht sich auf das von den Forschenden eingesetzte Mausmodell. Dass diese Daten aber auch Relevanz für den Menschen haben, unterfüttern die Forschenden mit zwei großen Datensätzen zumindest indirekt.
Zum einen werteten sie Daten aus der UK Biobank von mehr als 4800 Krebsüberlebenden aus. Bei diesen Patienten war ein positiver PCR-Test auf SARS-CoV-2 mit einem 1,85-fach erhöhten Risiko für eine krebsbedingte Mortalität assoziiert. Das Risiko war am höchsten in den ersten Monaten nach der Infektion und nahm über die Zeit ab.
Zum anderen ergab die Auswertung der in der Flatiron Health-Datenbank hinterlegten Daten von mehr als 36.000 Brustkrebspatientinnen, dass Frauen mit einer bestätigten Covid-19-Diagnose ein um 44 Prozent höheres Risiko aufwiesen, eine Lungenmetastase zu entwickeln. Dieser Zusammenhang blieb auch nach Adjustierung für Komorbiditäten und Tumorsubtypen bestehen.
So belegt die Studie eindrücklich, dass respiratorische Virusinfektionen wie Influenza und SARS-CoV-2 in der Lage sind, ruhende Tumorzellen zu reaktivieren und so das Risiko für Lungenmetastasen bei Brustkrebspatientinnen signifikant zu erhöhen. Der zentrale Mechanismus ist eine durch IL-6-induzierte phenotypische Umstellung von DCC und die CD4+-zellvermittelte Immunsuppression, die die Persistenz metastatischer Zellen begünstigt.
Daraus ergeben sich mögliche therapeutische Implikationen. Beispielsweise könnten Anti-IL-6-Antikörper wie Tocilizumab, Siltuximab oder Sarilumab oder auch JAK1/2-Inhibitoren die metastatische Reaktivierung bei Infektionen möglicherweise verhindern. Diese Frage bedürfe dringend weiterer präklinischer und klinischer Forschung, so das Resümee der Forschenden.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.