Hinweise auf Mutationen durch Molnupiravir |
Theo Dingermann |
06.02.2023 18:00 Uhr |
Molnupiravir (Lagevrio®) wirkt gegen SARS-CoV-2-, indem es Mutationen im viralen Genom induziert. Möglicherweise kann das die Entstehung von Varianten des Coronavirus begünstigen. / Foto: PZ/Alois Müller
Eigentlich soll das Nukleosidanalogon Molnupiravir (Lagevrio®, MSD) SARS-CoV-2 genetisch durch die Induktion von Mutationen im viralen Genom so schädigen, dass sich das Virus nicht weiter vermehren kann. Allerdings können unter einer Therapie mit Molnupiravir auch neuartige SARS-Coronaviren-2 entstehen, die nicht nur lebensfähig bleiben, sondern sich auch vermehren. Das legt eine neue Untersuchung nahe, die als Preprint auf dem Server »Medrxiv« veröffentlicht wurde.
Initiiert wurde die Studie durch einen Hobbyforscher, den Mittelschullehrer für Naturwissenschaften und Mathematik in Monroe, Indiana, Ryan Hisner. Er hatte auf Twitter über seine Beobachtungen berichtet und eine Gruppe um den Virologen Dr. Thomas Peacock vom Imperial College in London nahm sie zum Anlass, das Phänomen genauer zu untersuchen.
Die Forschenden untersuchten Sequenzdatenbanken ab August 2022 nach verdächtigen Virusvarianten und verwendeten dabei eine Signatur mit Clustern von mehr als 20 Mutationen, die auf eine durch Molnupiravir induzierte Mutagenese hindeutet. Denn Molnupiravir verursacht sehr spezifische Nukleotidsubstitutionen in der viralen RNA, wobei entweder ein Guanin durch ein Adenin (G- zu A-Austausch) oder ein Cytosin durch Uracil (C- zu U-Austausch) ausgewechselt wird.
Das Ergebnis dieses Screenings zeigte ganz klar, dass die Signatur als eine bestimmte Klasse von langen phylogenetischen Stammbäumen fast ausschließlich ab dem Zeitpunkt auftrat, als Molnupiravir als Behandlungsoption eingeführt wurde. Zudem fand sie sich vor allem in Sequenzen von Virusisolaten aus Ländern wie den Vereinigten Staaten, Australien und Großbritannien, in denen Molnupiravir bekanntermaßen häufig eingesetzt wurde.
Dort kam sie bis zu 100-mal häufiger vor als in Isolaten aus Ländern wie Frankreich und Kanada, wo Molnupiravir deutlich weniger häufig verordnet wird. Auch zeigte sich, dass sich einige der mutierten Stämme lokal ausbreiteten. »Hier passiert eindeutig etwas«, wird Peacock in einem Nachrichtenbeitrag in »Science« zitiert.
In dem gleichen Beitrag äußert sich der Virologe Professor Dr. William Haseltine, Vorsitzender der Denkfabrik ACCESS Health International: »Es ist sehr klar, dass lebensfähige mutierte Viren [eine Molnupiravir-Behandlung] überleben und [mit bestehenden Varianten] konkurrieren können«. Haseltine hatte wiederholt Bedenken über das Medikament geäußert. »Ich glaube, wir buhlen um eine Katastrophe«, hatte er gesagt.
Laut dem Bericht in »Science« bestreitet jedoch ein Sprecher von Molnupiravir-Hersteller MSD, dass das Medikament zur Entstehung weit verbreiteter Varianten beigetragen hat. Und auch einige Forscher scheinen Molnupiravir für unproblematisch zu halten. Beispielsweise wird der medizinische Chemiker an der Emory University School of Medicine, Professor Dr. Raymond Schinazi, mit der Aussage zitiert, dass »im Moment viel Lärm um nichts« gemacht werde. Er wertet die identifizierten Mutationen als nicht durch Molnupiravir induziert, sondern glaubt vielmehr, dass sie natürlicherweise in infizierten Menschen entstanden sind.
Haseltine und andere hatten jedoch nicht nur Bedenken hinsichtlich einer gefährlichen viralen Mutagenese angedeutet. Sie zeigten sich auch besorgt, der Wirkstoff könne Mutationen in der menschlichen DNA induzieren. Dies ist jedoch bisher nicht beobachtet worden, stellt der Bericht in »Science« klar.
Ob die Veränderungen zu Varianten führen, die pathogener oder übertragbarer sind, ist unklar, sagen die Forscher gegenüber »Science«. »Wir kommen zu keinem Schluss über das Risiko«, so Dr. Theo Sanderson, Erstautor der aktuellen Publikation. Haseltine vergleicht die Gefahr jedoch mit der Haltung eines Löwen als Haustier. »Nur, weil er dich gestern nicht gebissen hat, heißt das nicht, dass er dich heute nicht angreifen wird«, sagt er.
Der MSD-Sprecher besteht darauf, dass die Verbindung zwischen den Mutationen und dem Medikament unbewiesen sei. »Es gibt keine Hinweise darauf, dass ein antivirales Mittel zur Entstehung zirkulierender Varianten beigetragen hat.«
Allerdings gibt es genau dafür noch weitere Indizien. So fanden Forscher um Dr. Nicholas M. Fountain-Jones von der University of Tasmania in Hobart, Australien, Hinweise darauf, dass eine Behandlung mit Molnupiravir bei immungeschwächten Patienten zu neuen Varianten führen könnte. Da das Immunsystem dieser Patienten Schwierigkeiten hat, das Virus zu beseitigen, können virale Varianten eine große Anzahl von Mutationen aufweisen, die möglicherweise große Sprünge hinsichtlich der pathologischen Eigenschaften verursachen könnten. Eine solche Hypothese wird auch im Zusammenhang mit dem Auftreten von Omikron diskutiert.
Die australischen Forschenden hatten mehrere SARS-CoV-2-Genome aus neun Patienten sequenziert, von denen fünf mit Molnupiravir und die anderen vier nicht behandelt worden waren. Sie konnten zeigen, dass sich von den mit Molnupiravir behandelten Patienten innerhalb von zehn Tagen nach Beginn der Therapie durchschnittlich jeweils 30 neue Varianten isolieren ließen, weit mehr als dies bei den unbehandelten Patienten der Fall war. Ihre Arbeit erschien im Dezember als Preprint auf »Medrxiv«.
Allerdings betont auch Professor Dr. Ravindra Gupta, klinischer Mikrobiologe an der University of Cambridge, gegenüber »Science«, dass die aktuellen britischen und australischen Studien nicht beweisen, dass Molnupiravir die Entstehung gefährlicher neuer SARS-CoV-2-Varianten verursacht. Er argumentiert aber, dass der Einsatz des Medikaments aus einem anderen Grund das Risiko nicht mehr wert sein könnte: wegen seines begrenzten Nutzens.
Denn gemäß einem zweiten Bericht, der am 28. Januar in »The Lancet« erschien, bietet Molnupiravir zumindest bei Personen, die gegen Covid-19 geimpft waren, nur begrenzte Vorteile. Hier hatten Professor Dr. Christopher C Butler von der University of Oxford und Kollegen Daten von 26.411 geimpften Studienteilnehmern ausgewertet, von denen etwa die Hälfte mit Molnupiravir behandelt worden war. Sie konnten zeigen, dass der Wirkstoff zwar die Schwere der Symptome reduzierte und die Genesungszeiten der Patienten verkürzte, dass die Behandlung jedoch die Häufigkeit von Covid-19-assoziierten Krankenhauseinweisungen oder Todesfällen bei Erwachsenen mit hohem Risiko nicht verringerte.
Betrachtet man die heute verfügbaren pharmazeutischen Optionen gegen Covid-19, kann man mit Blick auf die Impfstoffe begründet von einem pharmazeutischen Wunder sprechen. Das gilt nicht zuletzt vor dem Hintergrund der kurzen Entwicklungszeit der hoch wirksamen RNA-basierten Impfstoffe, die entscheidend zur Bekämpfung der Pandemie beigetragen haben.
Auch bei der Entwicklung von Arzneistoffen zur Behandlung von Covid-19-Patienten sind beachtliche Erfolge erzielt worden, wobei die Breite an verfügbaren Therapieoptionen nicht annährend mit dem Angebot an Impfstoffen mithalten kann. Dies liegt zum einen daran, dass die monoklonalen Antikörper gegen SARS-CoV-2 wegen der Virusmutationen ihre Wirksamkeit erheblich bis ganz eingebüßt haben. Zum anderen steht bislang nur eine begrenzte Zahl von maßgeschneiderten Virostatika zur Verfügung: Mit den beiden Polymerase-Inhibitoren Remdesivir (Veklury®) und Molnupiravir (Lagevrio®) sowie der Kombination aus den beiden Protease-Inhibitoren Nirmatrelvir/Ritonavir (Paxlovid™) ist die Liste der verfügbaren Arzneistoffe mehr als übersichtlich.
Sie könnte bald sogar noch kürzer werden. Denn die starken Hinweise darauf, dass Molnupiravir die Evolution von pathogenen SARS-CoV-2-Varianten beschleunigen könnte, machen es aus pharmazeutisch-medizinischer Sicht sinnvoll, den Einsatz des ursprünglich als Grippemittel konzipierten Virostatikums stark einzuschränken oder gar auszusetzen. Dies gilt umso mehr, als mit Paxlovid ein Medikament mit deutlich geringerem Gefahrenpotenzial und besserer klinischer Wirksamkeit zur Verfügung steht. Zudem besitzt Paxlovid eine EU-Zulassung, die Lagevrio – wohl aus gutem Grund – noch immer nicht erhalten hat, obwohl es auch in der EU verordnet werden kann. Die Trias Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und pharmazeutische Qualität muss auch bei den Arzneimitteln gegen SARS-CoV-2 die Grundlage für den klinischen Einsatz sein.
Professor Dr. Manfred Manfred Schubert-Zsilavecz
Mitglied der erweiterten Chefredaktion
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.