Hat der HbA1c-Wert ausgedient? |
Bei hohen Blutzuckerwerten wird der Blutfarbstoff Hämoglobin »verzuckert«. Die Hauptfraktion der Glykohämoglobine, das HbA1c, dient als Parameter für die Stoffwechseleinstellung von Diabetes-Patienten. / Foto: Fotolia/mbz1
Fast jeder kennt den HbA1c-Wert als Parameter für die langfristige Glucoseeinstellung bei Diabetikern. Doch was bedeutet er eigentlich genau? HbA1c ist die Bezeichnung für eine Unterfraktion des Hämoglobins (Hb). Das A steht dabei für »adult« und die 1 dafür, dass ein Zuckerrest kovalent über eine N-glykosidische Bindung an das Hb gebunden ist. Handelt es sich bei dem Zucker um Glucose und ist diese mit dem N-terminalen Valin der β-Kette des Hämoglobins verknüpft, spricht man von HbA1c. Es bildet mit einem Anteil von 80 Prozent die Hauptfraktion der Glykohämoglobine.
Die Glykierung von Hb geschieht unter Abspaltung von Wasser und bedarf nicht der Katalyse durch ein Enzym. Da das Zwischenprodukt, ein Aldimin, jedoch nicht stabil ist, muss die Glucosekonzentration über einen längeren Zeitraum erhöht sein, damit die Reaktion abläuft. Das Endprodukt, ein Ketoamin, ist dann stabil. Der Glucoserest bleibt somit über die gesamte Lebensdauer des Erythrozyten fest an das darin enthaltene Hb gebunden.
Die Funktion des Erythrozyten wird dadurch nicht beeinträchtigt. Anders sieht das zum Teil bei Proteinen im Blut, in den Kapillarwänden und im Interstitium aus. Auch sie verfügen in der Regel über N-ständige freie Aminogruppen, die bei hoher Glucosekonzentration glykiert werden. In der Folge kann es zu Struktur- und Funktionsveränderungen der betroffenen Proteine kommen, die Diabetes-Folgeschäden wie die Mikroangiopathie erklären.
Der HbA1c-Wert erlaubt somit eine Aussage darüber, in welchem Ausmaß der Blutzuckerwert in den vergangenen acht bis zwölf Wochen – so lange leben Erythrozyten – über einen längeren Zeitraum erhöht war. Gebräuchlich war lange eine Angabe in Prozent. Mittlerweile soll der HbA1c gemäß einem internationalen Standard in mmol/mol angegeben werden, wobei zur Umrechnung die Formel HbA1c [mmol/mol] = (HbA1c [%] - 2,15) × 10,929 verwendet wird. Der Referenzbereich für Gesunde liegt zwischen 20 mmol/mol (4 Prozent) und 42 mmol/mol (6 Prozent). Bei Typ-2-Diabetikern soll laut Nationaler Versorgungsleitlinie ein HbA1c zwischen 48 mmol/mol (6,5 Prozent) und 58 mmol/mol (7,5 Prozent) angestrebt werden. Typ-1-Diabetiker sollen laut S3-Leitlinie auf einen Wert ≤ 58 mmol/mol eingestellt werden, solange keine problematischen Hypoglykämien auftreten.
Anhand des HbA1c-Werts kann die glykämische Kontrolle von Behandlungsgruppen in randomisierten Studien oder auch von verschiedenen Populationen miteinander verglichen werden. Um die Güte der individuellen Blutzuckereinstellung wiederzugeben, eignet er sich aber nur bedingt. Denn zum einen ist er ein Durchschnittswert, das heißt, dass Hypo- und Hyperglykämien nicht erfasst werden. Zum anderen können sich die Blutzuckerverläufe bei einem gegebenen HbA1c erheblich voneinander unterscheiden, schrieben Wissenschaftler um Dr. Roy Beck vom Jaeb Center for Health Research in Tampa, Florida, 2017 im Fachjournal »Diabetes Care«.
Den HbA1c könnten nicht nur Hämoglobinopathien, eine hämolytische Anämie und andere Zustände, die sich auf die Lebensdauer der roten Blutkörperchen oder die Bindung von Glucose an Hämoglobin auswirken, verfälschen, so die Gruppe. Sondern es gebe auch eine beträchtliche interindividuelle Schwankungsbreite. Die Forscher hatten bei 387 Diabetikern die per kontinuierlicher Glucosemessung (CGM) erfassten Werte mit dem HbA1c korreliert. Ein HbA1c von 64 mmol/mol (8,0 Prozent) entsprach dabei einem durchschnittlichen Blutglucosewert von 155 bis 218 mg/dl (95-Prozent-Konfidenzintervall), wobei große Überlappungen mit den Konfidenzintervallen der HbA1c-Werte von 53 mmol/mol (7,0 Prozent) und 75 mmol/mol (9,0 Prozent) gegeben waren (128 bis 190 mg/dl beziehungsweise 182 bis 249 mg/dl). Ein HbA1c von 64 mmol/mol könne somit mit einer guten, moderaten oder auch schlechten Blutzuckereinstellung einhergehen, so die Autoren.
Schematischer Blutzuckerverlauf von drei Patienten mit identischem Mittelwert (HbA1c). aber unterschiedlicher Time in Range (TiR, Zielbereich 70 bis 180 mg/dl Glucose) / Foto: PZ-Grafik
Um anhand des HbA1c-Werts die Blutzuckerkontrolle eines Patienten zu beurteilen, müsse dessen durchschnittlicher Blutzuckerwert bekannt sein. Daraus lasse sich mithilfe einer Formel ein HbA1c-Wert berechnen, der dann mit dem gemessenen verglichen werden solle. So könne man feststellen, ob der Messwert die glykämische Kontrolle des Patienten korrekt wiedergibt, über- oder unterschätzt. Bei jedem einzelnen Patienten sei das Verhältnis zwischen dem durchschnittlichen Glucosewert und dem HbA1c relativ konstant.
Aufgrund des technischen Fortschritts sind Geräte zur CGM in den letzten Jahren immer besser und leichter zu handhaben geworden und werden daher immer öfter eingesetzt. Sie messen den Verlauf der Glucosekonzentration in der interstitiellen Flüssigkeit oder im subkutanen Fettgewebe über die Zeit. Die vom Hersteller mitgelieferte Software berechnet daraus das ambulante Glucoseprofil (AGP) des Patienten. Sind Messwerte über mindestens 10 bis 14 Tagen vorhanden, lässt sich daraus die sogenannte Zeit im Zielbereich (Time in Range, TiR) berechnen. Diese gibt an, wie lange sich der Glucosewert des Patienten während der Messung in einem vorher definierten, angestrebten Bereich befunden hat und stellt einen neuen Parameter zur Beurteilung der langfristigen Glucoseeinstellung dar.
Der Zielbereich liegt dabei laut einer Stellungnahme der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) zwischen 70 und 180 mg/dl. Als Zeit unterhalb des Zielbereichs (Time below Range, TbR) zählen Abschnitte, in denen die Glucosewerte unter 70 mg/dl sinken, als Zeit oberhalb des Zielbereichs (Time above Range, TaR) alles über 180 mg/dl. Der Zielbereich orientiert sich an den Glucosewerten von gesunden Menschen; diese liegen nüchtern zwischen 70 und 110 mg/dl, können aber nach dem Essen ansteigen beziehungsweise bei körperlicher Belastung sinken. Laut DDG ist mit den aktuell üblichen Therapieoptionen eine TiR von circa 70 Prozent realistisch, in Kombination mit Geräten zur automatischen Insulindosierung (Closed-Loop-Systeme) sind sogar 80 bis 90 Prozent möglich. Als erstes System dieser Art ist das Gerät MiniMed 670G seit Kurzem in Deutschland verfügbar.
Da der Wert TiR noch so neu ist, müssen sich Diabetologen zunächst einigen, was darunter zu verstehen ist und welche Aussagekraft er besitzt. Hierzu traf sich im Frühjahr 2019 eine internationale Konsensus-Gruppe und erarbeitete ein Grundlagenpapier, das im August im Fachjournal »Diabetes Care« erschien.
Die Autoren bezeichnen die CGM, AGP und TiR darin als hilfreiche Parameter, die Patienten und Ärzte dazu nutzen können, die Insulintherapie zu optimieren. TiR, TbR und TaR seien im klinischen Alltag sinnvolle Therapieziele, die den HbA1c-Wert jedoch nicht ersetzen, sondern ergänzen sollten.
Dem pflichtet die DDG bei. Aus ihrer Sicht spricht eine Reihe von primär methodischen Gründen dagegen, statt des HbA1c-Werts künftig die TiR zur Abschätzung des Risikos mikrovaskulärer Komplikationen heranzuziehen. So gebe es für die verschiedenen CGM-Systeme derzeit noch keinen etablierten Standard und nur wenige Studien hätten die Messgüte systematisch evaluiert. Die TiR werde nicht gemessen, sondern anhand der ständig (real-time CGM) oder in kurzen Abständen (intermittently scanned CGM) gemessenen Blutglucosewerte berechnet. Hierbei könnten sich systematische Abweichungen ergeben, sodass die mit verschiedenen Systemen berechneten TiR unter Umständen nicht vergleichbar seien.
Die TiR stelle zwar einen nützlichen Parameter für die Güte der Stoffwechseleinstellung dar, von dem vor allem bestimmte Risikogruppen wie Schwangere profitieren könnten. Es sollte jedoch nicht ohne gute Gründe auf etablierte und bewährte Parameter verzichtet werden, nur weil neue zur Verfügung stehen – zumal heute und in näherer Zukunft längst nicht alle Diabetiker ein CGM-System nutzen.