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Bewegungstherapie

Gegen den Lauf der Zeit

In der Behandlung von Verletzungen und orthopädischen Beschwerden ist Bewegung eine feste Therapiesäule. Sie kann helfen, Schmerzen zu lindern sowie die Beweglichkeit und Lebensqualität zu verbessern. Der Aspekt der Selbstwirksamkeit ist Professor Dr. Thomas Wessinghage, Bad Wiessee, dabei ganz wichtig. Ein Interview.
Andrea Pütz
19.05.2021  09:00 Uhr

PZ: Sie haben ein sehr »bewegtes« Leben. Wie ist es dazu gekommen?

Wessinghage: Meine Laufbegabung konnte ich beim Spiel mit Gleichaltrigen schon früh entdecken, in der Schule waren die Bundesjugendspiele dann ein ganz wichtiger Katalysator. Die Freude an der Bewegung ist mir bis heute erhalten geblieben.

Das Medizinstudium hatte a priori nichts mit meiner Laufbegeisterung zu tun. Aber im Laufe der Jahre fanden sich natürlich zahlreiche Parallelen und Überschneidungen, beispielsweise im Hinblick auf die schmerzlindernde Wirkung von Bewegung. Und besonders froh war ich immer über meine eigenen Erfahrungen. Vieles lernte ich im echten Leben kennen und nicht nur aus Büchern.

Es liegt mir sehr am Herzen, Menschen zu einem gesünderen Lebensstil zu motivieren, weil vieles so einfach ist. Gerade jetzt in der Corona-Zeit fühle ich mich so sicher, robust und widerstandsfähig. Jeder Lauf ein Training – auch für das Immunsystem. Laufen kann zudem das Gefühl vermitteln, ein Teil der Natur um uns herum zu sein. Es hat etwas sehr Ursprüngliches, wenn man dabei Bäume berührt, den Boden riecht, das Leben im Wald hört und den Regen auf der Haut spürt.

PZ: Immer wieder liest man: Deutschland hat Rücken! Welche Rolle spielt Bewegung bei Rückenschmerzen?

Wessinghage: Die meisten Rückenschmerzen haben keinen ernsten medizinischen Hintergrund, sondern sind funktionelle Störungen. Zum Beispiel kann das Zusammenspiel der verschiedenen Muskelsysteme am Rumpf gestört sein – mit seinen verschiedenen Schichten der Rücken- und Bauchmuskulatur, Beckenboden und Zwerchfell. Bewegungsmangel, einseitige Haltungen und im Speziellen das stundenlange Sitzen sind derzeit Volkskrankheit Nummer 1 – Tendenz steigend.

Gezielte Aktivität statt Schonung und Dynamik auch beim Sitzen im Büro oder im Homeoffice, also »die stündliche Bewegungspause«, sind die beste Therapie. Dazu sollte jeder soweit möglich Kraft-, Dehn- und Mobilisationsübungen in den Alltag einbauen. Oder einfach nur jede Stunde ein kurzes Stück gehen.

Selbst bei einem schmerzhaften Hexenschuss ist sanfte Bewegung wichtig. Eventuell kann eine Schmerzmedikation die Voraussetzung schaffen, damit diese Bewegung überhaupt zugelassen wird. Oft spürt man dann, dass die Bewegung die Schmerzen bessert oder diese sogar nur in Ruhe zu spüren sind.

Die Aktivierung der Muskulatur ist form- und funktionserhaltend, eine Massage aus meiner Sicht nur die zweitbeste Lösung. Muskeln arbeiten in komplexen Systemen, an einer einfachen Bewegung sind oft zwanzig oder dreißig Muskeln beteiligt, meist nur mit einem Teil ihrer Fasern. Diese Funktionsketten gilt es, zu aktivieren und zu erhalten – indem man sie benutzt, im Sinne von »use it or lose it«.

PZ: Bei einer Arthrose verzichten viele Patienten auf Bewegung – aus Angst vor Schmerzen und dass der Knorpelverschleiß beschleunigt werden könnte.  Haben Sie recht?

Wessinghage: Es ist ein Märchen, dass Laufen und moderate Bewegung Arthrose verursachen könnten. Fakt ist, dass der Gelenkknorpel Bewegung zu seiner Ernährung benötigt, denn er verfügt über keine Blutgefäße, die Nährstoffe transportieren könnten. Zudem sorgt die angemessene Bewegung dafür, dass die Muskeln optimal zusammenarbeiten und sie das Gelenk vor Überlastung schützen.

Regelmäßige Bewegung verbessert die Fließeigenschaften der Gelenkflüssigkeit, kräftigt die Muskeln (Stützfunktion), erhält die Beweglichkeit und kann den altersbedingten Abbau verhindern. Ganz nebenbei optimiert Bewegung das Körpergewicht und entlastet so die Gelenke zusätzlich. Folglich ist frühzeitige Bewegungstherapie bei Arthrose sehr wichtig: zur Vorbeugung, zur Heilung und auch zur Schmerzlinderung.

Bei Patienten mit rheumatoider Arthritis, also akut entzündlichen Prozessen, muss dagegen mit Vorsicht vorgegangen werden. Die Krankheit zerstört das Gelenk. Die Bewegung kann aber funktionserhaltend genutzt werden. Die Auswahl von Art und Umfang der Bewegung ist mit Fingerspitzengefühl vorzunehmen.

PZ: Welche Sportarten sind für Patienten mit Gelenkbeschwerden zu empfehlen?

Wessinghage: Für schon beeinträchtigte Gelenke beispielsweise bei entzündlichen Krankheiten oder fortgeschrittener Arthrose gilt: »Bewegen ohne zu belasten«. Gut sind fließende Bewegungen wie Radfahren, Schwimmen, Aquajogging, Trampolin oder Training auf dem Crosstrainer. Sie reduzieren Schmerzen bei richtiger Dosierung. Gelenkschonende Sportarten sind prinzipiell solche mit physiologischen Bewegungsabläufen: Gehen, Laufen, Schwimmen, Radfahren, auch Bewegungsspiele.

Gelenkbelastende Sportarten sind hingegen vor allem diejenigen, bei denen Verletzungen und Unfälle drohen, also Kontaktsportarten wie Fußball, Handball oder Eishockey und Sportarten mit heftigen Richtungswechseln wie Squash, Tennis oder Badminton. Natürlich ist das auch abhängig vom körperlichen Einsatz, Ehrgeiz und der Dosis.

PZ: Warum ist Bewegung so wichtig für die Knochen und welche Sportarten sind zur Osteoporose-Prävention geeignet?

Wessinghage: Der Knochen ist ein sehr aktives Gewebe und einem ständigen Wechsel zwischen Auf- und Abbau unterworfen. Um die knochenaufbauenden Osteoblasten zu aktivieren, braucht es vor allem mechanischen Druck wie die Auf- und Abbewegungen des Körpers beim Gehen, Treppensteigen oder Springen. Aber es braucht auch den Druck der Muskulatur, die am Knochen befestigt ist. Es gilt also: starke Muskeln = hoher Druck = Osteoporose-Prophylaxe.

Bewegungen mit dynamischem Krafteinsatz aktivieren durch den Wechsel von Be- und Entlastung die gesamte Muskelmasse. Besonders wirksam sind Krafttraining, Trampolinspringen, Seilspringen, Tanzen, Aerobic, Volleyball, auch Stop-and-go-Sportarten wie Squash. Treppensteigen ist eine Top-Übung – vor allem für ältere Menschen! Schwimmen, Aquagymnastik und Radfahren bauen keine Knochenmasse auf. Sie sind aber gut geeignet für Schmerz-Patienten, um Beweglichkeit und Muskulatur zu erhalten.

PZ: Welche Rolle spielt die Bewegungstherapie in der Rehabilitation nach einer Hüft- oder Knie-Endoprothese?

Wessinghage: Rehabilitation ist ein Training fürs Leben, das viele Module beinhaltet: sowohl Kraft- und Ausdauertraining, Geschicklichkeitsübungen, Training der Alltagsaktivitäten wie Waschen, An- und Auskleiden oder Haushaltstätigkeiten als auch Wissensvermittlung, kognitives Training oder Motivationsschulung.

Die Mitarbeit der Patienten nach Knie- oder Hüft-OP ist unerlässlich, damit sie ein bewegtes und schmerzfreies Leben mit dem neuen Gelenk führen können. Je fleißiger der Patient ist, desto besser funktioniert das neue Gelenk und umso höher ist die Lebensqualität des Patienten: wenig Schmerzen und hohe Beweglichkeit. Der Patient ist somit maßgeblich am Operationserfolg beteiligt. Rehabilitation ist also eine Art Trainingslager und die Bewegungstherapie ist das Kernelement. Nach der Reha geht es ambulant weiter, etwa beim Reha-Sport oder im Fitnessstudio.

PZ: Warum ist Ausdauer- und Kraftsport so wichtig für Patienten mit Bluthochdruck, Herzerkrankungen oder Typ-2-Diabetes?

Wessinghage: Der bewegungsarme Lebensstil sorgt für die Entwicklung dieser typischen Zivilisationskrankheiten unserer Zeit. Regelmäßige körperliche Aktivität senkt das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall und andere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, stärkt den Herzmuskel und senkt den Blutdruck. Im Idealfall kann sogar die Dosis von Medikamenten gesenkt werden.

Bei moderaten, gleichmäßigen Ausdaueraktivitäten steigt der Blutdruck nach dem Start zunächst etwas an. Der systolische Wert stabilisiert sich wenige Minuten auf einem nur leicht erhöhten Niveau. Nach der Belastung sinkt er dann deutlich ab und liegt gegebenfalls für Stunden unter dem Ausgangswert. Der diastolische Wert sinkt schon während der Bewegung unter den Ausgangswert. Regelmäßige, an den Krankheitszustand angepasste Ausdauerbelastungen können die medikamentöse Bluthochdrucktherapie wirksam unterstützen.

Auch Krafttraining übt ökonomisierende Effekte auf das Herz-Kreislauf-System aus, zudem werden durch Muskelreize sogenannte Myokine ausgeschüttet, die Entzündungen verhindern oder reduzieren können. Sie schützen unter anderem die Blutgefäße und beugen Herzinfarkt und Schlaganfall vor. Auch in der kardiologischen Rehabilitation nach Herzerkrankungen beziehungsweise -operationen spielt das individuelle und kontrollierte Training von Ausdauer und Kraft die entscheidende Rolle.

Kraft- und Ausdauertraining senken ebenfalls den Blutzuckerspiegel nachhaltig und wirken Diabetes entgegen. Übergewicht ist einer der größten Risikofaktoren. Übungen mit dem eigenen Körpergewicht (ohne schwere Zusatzgewichte) oder einem Theraband sind hervorragend geeignet, die Muskelkraft sanft auf- und Körpergewicht abzubauen.

PZ: Welche Bedeutung hat die Bewegungstherapie in anderen Reha-Bereichen?

Wessinghage: Bei einem Schlaganfall und diversen neurologischen Erkrankungen ist häufig die Motorik beeinträchtigt. In der neurologischen Reha arbeitet ein Team aus Krankengymnasten, Ergotherapeuten, Sporttherapeuten, Logopäden, und Neuropsychologen idealerweise Hand in Hand, um die gestörten Funktionen wieder zu verbessern. Der Erfolg liegt aber auch hier beim Patienten: Je konsequenter er übt, desto besser sind die Ergebnisse.

In der onkologischen Rehabilitation nach Krebserkrankungen kann sanfte Bewegung nicht nur das Immunsystem im Kampf gegen die Krebszellen aktivieren. Sie hilft auch gegen die bleierne Fatigue, von der viele Krebspatienten geplagt sind.

Die Bewegungstherapie gewinnt zudem an Bedeutung in der Psychotherapie. Nicht mehr nur Gespräche, sondern häufige moderate Bewegung (am besten in der Natur) kann psychosomatische Symptome regulieren und etwa die Schlafqualität verbessern. Der Wald an sich ist eine Kraftquelle – ich bin fast jeden Tag dort! Auf den Wegen durch Wald und Feld können wir jetzt in den Sommermonaten zudem wieder ordentlich Sonnenlicht und damit Vitamin D tanken. Den Zusammenhang mit der Psyche kennen wir beispielsweise von der saisonal abhängigen Depression.

Bei Patienten mit einer stressbedingten Erschöpfung oder Depression kommt es auf die Art und Intensität der Bewegung an. Ein sanftes, ausdauerorientiertes »Sich-Bewegen« in der Natur ist ein guter Einstieg. Auch Yoga, Tai-Chi und Qigong können psychosomatische Beschwerden reduzieren. Bewegung verringert die Rückfallrate von Depressionen. Sehr wichtig: Die Patienten merken, dass sie selbst etwas bewirken. Das ist gemeint mit den Begriffen Selbstwirksamkeit oder Selbstfürsorge. Für mich gehört der psychosomatische Aspekt auch zum Thema »Umgang mit Schmerz« (Stichpunkt seelischer Schmerz).

PZ: In Zeiten wie diesen drängt sich die Frage auf, welche Rolle Bewegungsmangel auf das Risiko eines schweren Verlaufes von Covid-19 nimmt.

Wessinghage: Übergewicht liegt bei mehr als drei Vierteln der mit Covid-19 stationär behandelten Patienten vor. Übergewicht prädestiniert also zu einem schwereren Infektionsverlauf. Bewegungsfreudigen Menschen widerfährt hingegen deutlich seltener ein schwerer Verlauf.

Leider ist eine generelle Gewichtszunahme der deutschen Bevölkerung seit Beginn der Pandemie zu verzeichnen. Leider fehlen entsprechende Argumente in den Hinweisen der Politik, wenn es um die Infektionsprophylaxe geht. Nicht nur Antikörper, die etwa durch eine Impfung induziert werden, können vor Infekten schützen. Auch andere Immunzellen wie T-Zellen oder Natural Killer Cells helfen bei der Abwehr von Infekten. Durch regelmäßige körperliche Aktivität werden diese Zellen zahlreicher und schlagkräftiger.

PZ: Wie wird das Thema Bewegung bei Long-Covid-Patienten in der Rehabilitation angepackt?

Wessinghage: Unabhängig von der Schwere des Verlaufs kann es in den Wochen und Monaten nach dem Infekt zu Befindlichkeitsstörungen, Leistungsmangel, Müdigkeit oder Schlafstörungen kommen. Auch hier ist Übergewicht wiederum – genauso wie Asthma - ein Risikofaktor. Frauen sind häufiger betroffen.

In der Behandlung dieser Störungen geht es – ähnlich wie bei der Therapie der zivilisationsbedingten Krankheiten – darum, die körperliche und mentale Leistungsfähigkeit langsam zu steigern. Im Mittelpunkt der Behandlung stehen deshalb sanfte Bewegungsarten, die regelmäßig und mit angemessener Dosierung durchgeführt werden sollten.

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