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Studienplatzvergabe

»Frauen haben die besseren Chancen«

Christoph Müller hat als ehemaliger Studienberater des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) die Geschlechterunterschiede im Abitur und ihre Auswirkungen auf die Zulassung zu medizinischen oder medizinnahen Studiengängen untersucht. Die Ergebnisse veröffentlichte er kürzlich in der Zeitschrift »Das Hochschulwesen«. Die PZ hat mit ihm über seine Recherche gesprochen.
Carolin Lang
08.03.2022  15:00 Uhr

PZ: Wer schneidet tendenziell besser im Abitur ab: Junge Frauen oder Männer?

Müller: Junge Frauen. Sie machen häufiger und mit besseren Noten Abitur.

PZ: Wie kommen Sie zu dieser Aussage?

Müller: Ich habe die Abiturnoten aus dem Jahr 2017 geschlechterspezifisch ausgewertet. Solch eine Auswertung nach Geschlecht gab es bisher nicht, da die Bundesländer diese Zahlen normalerweise nicht publizieren und teilweise auch gar nicht erheben. Auf Anfrage haben mir zehn Bundesländer entsprechende Daten zur Verfügung gestellt. Das Ergebnis: Der Anteil der Abiturientinnen war mit 55 Prozent um 10 Prozentpunkte höher als der der Abiturienten. Betrachtet man nur die Abiturienten und Abiturientinnen, die 2017 ein Spitzenabitur – also mit der Note 1,5 oder besser – erreicht haben, vergrößert sich dieser Unterschied auf 62 Prozent weiblich und 38 Prozent männlich. Berücksichtigt man dann noch die Geschlechterverteilung der 18-jährigen Bevölkerung, öffnet sich die Schere immer weiter. Hier sind nämlich die jungen Männer in der Überzahl, im Abitur sind sie aber in der Minderheit und das auch noch mit schlechteren Noten.

PZ: Welche Konsequenz hat das?

Müller: Es haben mehr junge Frauen die Chance auf einen Studienplatz für Human-, Zahn- und Tiermedizin sowie für Pharmazie, da die Abiturnote hier wegen der Übernachfrage nach Studienplätzen eine große Rolle bei der Zulassung spielt. Pharmazie tanzt allerdings etwas aus der Reihe.

PZ: Inwiefern?

Müller: Insofern, dass sich weniger Personen pro Studienplatz bewerben. In Pharmazie waren es in den Zulassungsverfahren vom Wintersemester 2017/2018 bis zum Sommersemester 2019 etwa zwei Personen, während es zum Beispiel in Humanmedizin nahezu sechs gewesen sind. Außerdem nehmen Zugelassene in Pharmazie ihren Studienplatz deutlich seltener an – vermutlich, weil sie noch andere Optionen haben. Wegen der geringeren Übernachfrage sind die Anforderungen an den Abiturschnitt vergleichsweise geringer. Das wird deutlich, wenn man die Zulassungszahlen im Auswahlverfahren der Hochschulen (AdH) betrachtet: Es bekamen nur etwa 3 Prozent der Bewerber und Bewerberinnen mit einer Abiturnote von 1,8 oder schlechter einen Studienplatz in Humanmedizin. Im Fach Pharmazie waren es hingegen rund 55 Prozent. Im AdH-Verfahren spielen zwar neben dem Abitur auch andere Auswahlkriterien eine Rolle, aber man kann doch sagen: Die Zulassungschancen für Pharmazie sind besser als es beim ersten Blick auf die Grenzwerte der Abiturbestenquote erscheinen mag.

PZ: Bewerben sich auch mehr junge Frauen für diese Studiengänge?

Müller: Ja, in der Pharmazie liegt der weibliche Anteil bei den Bewerbern bei etwa 72 Prozent, was sich dann so bei den Zulassungen und Einschreibungen fortsetzt. Beim Medizinstudium liegt der Frauenanteil bei etwa 66 Prozent, in den anderen medizinischen Studiengängen bei 70 Prozent und mehr. Eine Besonderheit in Humanmedizin: In der Wartezeitquote, über die früher 20 Prozent der Studienplätze vergeben wurden, sank der weibliche Anteil der Zugelassenen deutlich. Offenbar waren extrem lange Wartezeiten für Frauen weniger akzeptabel.

PZ: Seit wann ist die Zunahme des Frauenanteils zu beobachten?

Müller: Der Frauenanteil im Pharmaziestudium hat schon Mitte der 1970er-Jahre die 50-Prozent-Grenze überschritten und schwankt in den letzten Jahren um die 70 Prozent. Im Medizin- und Zahnmedizinstudium haben Frauen die 50-Prozent-Grenze etwa um die Jahrtausendwende erreicht. Ihr Anteil liegt zurzeit leicht über 60 Prozent. Der steilste Anstieg war in der Tiermedizin zu beobachten: von circa 30 Prozent Frauenanteil 1972/1973 zu knapp unter 85 Prozent 2016/2017.

PZ: Wie hoch ist der Frauenanteil aktuell in den entsprechenden Berufen?

Müller: Nach Angabe des Mikrozensus sind etwa 45 Prozent der Berufstätigen in der Human- und Zahnmedizin weiblich. Da früher mehr Männer Medizin studiert haben, dominieren sie noch das Feld der Berufstätigen. Die Gesamtmenge reagiert hier träge. In der Apothekerschaft liegt der Frauenanteil heute bei etwa 81 Prozent und bei den Tiermedizinern um die 69 Prozent.

PZ: Wie wird das in Zukunft aussehen?

Müller: Die akademischen Heilberufe werden noch weiblicher. Im Jahr 2020 lag der Anteil der Studienabsolventinnen in Medizin bei 62,1 Prozent, in Zahnmedizin bei 66,9 Prozent, in Tiermedizin bei 86 Prozent und in Pharmazie bei 71,7 Prozent. Somit steuern wir insgesamt auf einen Frauenanteil von etwa 70 Prozent zu. Das gilt erst recht, wenn man zusätzlich die Psychologie berücksichtigt – ein Fach mit sehr hohem Frauenanteil und extremen Zulassungsbeschränkungen.

PZ: Im Jahr 2020 wurde das Zulassungsverfahren für die medizinischen Studiengänge geändert. Ändert das die Lage?

Müller: Durch die Änderungen wurden außerschulische Eignungskriterien wie Tests stärker gewichtet, wovon männliche Bewerber aller Voraussicht nach profitieren werden. Auch Interessenten ohne Spitzenabitur sollten also nicht vor einer Bewerbung für medizinische Studiengänge zurückschrecken. Ob die Änderung insgesamt zur Erhöhung des Männeranteils führen wird, bleibt noch abzuwarten, denn der Zugang über die Wartezeit wurde abgeschafft.

PZ: Halten Sie die erwähnten Entwicklungen für problematisch?

Müller: Jungs sind im Schnitt deutlich schlechter in der Schule. Das sollte man meines Erachtens nach nicht einfach übersehen und sie während der Schulzeit verstärkt fördern. Im Hinblick auf die Geschlechtersegregation bei der Studien- und Berufswahl halte ich es für wünschenswert, dass der Männeranteil in den medizinischen und medizinnahen Studiengängen zumindest nicht noch weiter abnimmt. Gleichzeitig wäre es erfreulich, wenn junge Frauen sich häufiger den Ingenieurstudiengängen zuwenden. Dort besteht noch viel Nachholbedarf.

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