Fortschritte und Fragen |
Annette Rößler |
10.04.2025 09:00 Uhr |
Ein Blick in die Bevölkerungsstatistik zeigt, warum die Erstattungsfähigkeit von Antiadiposita ein heißes Eisen ist: Es gibt in Deutschland sehr viele Betroffene. Laut dem Robert-Koch-Institut (RKI) waren in den Jahren 2019/2020 19 Prozent der Erwachsenen adipös. Übergewicht einschließlich Adipositas war bei Männern häufiger als bei Frauen (61 beziehungsweise 47 Prozent). Dies sind Ergebnisse der bevölkerungsrepräsentativen Studie »Gesundheit in Deutschland aktuell« (GEDA 2019/2020-EHIS), die auf Angaben der Befragten basieren.
Tatsächlich liegen die Prävalenzraten wohl höher, denn bei Befragungen zum eigenen Körpergewicht neigen viele Menschen dazu, nicht ganz ehrlich zu sein. Die Deutsche Adipositas-Gesellschaft nennt deshalb auf ihrer Website andere Zahlen: Übergewicht/Adipositas bei 67 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen, Adipositas bei 23 Prozent der Männer und 24 Prozent der Frauen. Diese Daten stammen aus der »Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland« des RKI und sind mit einem Erfassungszeitraum von 2008 bis 2011 zwar älter als die GEDA-Daten, beruhen aber auf unabhängigen Messungen.
Beide RKI-Studien zeigen, dass der Anteil übergewichtiger Menschen an der Bevölkerung in den vergangenen Jahren nicht mehr und die Adipositasprävalenz nur noch wenig gestiegen sind. Es habe aber eine Verschiebung hin zu höheren BMI-Kategorien stattgefunden, so die Leitlinie. Adipositas sei zudem eng mit einem niedrigen sozioökonomischen Status assoziiert, vor allem bei Frauen.
Menschen mit Adipositas werden häufig nicht nur von Fremden stigmatisiert, sondern haben auch ein negatives Selbstbild. / © Getty Images/Dacharlie
Hinter dem Ausschluss von Mitteln zur Gewichtsreduktion aus der Erstattungsfähigkeit steckt die Sichtweise auf Adipositas als ein selbst verschuldetes Gesundheitsproblem – was nicht dem aktuellen Wissensstand entspricht.
Die Leitlinie betont, dass das Körpergewicht einer komplexen zentralnervösen Kontrolle unterliege, an der endokrine, metabolische und nervale Signale beteiligt sind, die wiederum von einer Reihe exogener Faktoren modifiziert werden. Die ständige Verfügbarkeit hochkalorischer Nahrungsmittel und der grassierende Bewegungsmangel seien nicht die alleinigen Ursachen für die Zunahme der Adipositasfälle. Diese resultiere vielmehr aus einer komplexen Interaktion zwischen Biologie und Umwelt.
Weil sich das Vorurteil von den angeblich »faulen und undisziplinierten Dicken« aber so hartnäckig hält, ist die Stigmatisierung von Menschen mit Übergewicht und Adipositas sehr weit verbreitet, auch durch die Betroffenen selbst: Sie stigmatisieren sich selbst, indem sie die negativen Stereotype einer angeblichen Charakter- oder Willensschwäche auf die eigene Person anwenden.
Ein neues Kapitel in der Leitlinie beschäftigt sich daher mit Stigmatisierung und Selbststigmatisierung, deren Folgen und Möglichkeiten zur Vermeidung. Ein vorurteilsfreier Umgang mit Betroffenen ist demnach nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, sondern auch eine Voraussetzung dafür, dass diese die benötigte Hilfe überhaupt erhalten. Auch im Gesundheitswesen sei eine – teilweise unbewusste – Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas gang und gäbe. Die Leitlinie nennt es eine »deutliche Evidenz für interpersonelle und strukturelle gewichtsbezogene Stigmatisierung im Gesundheitswesen«.
Betroffene erhalten weniger Behandlungszeit, Interventionen und Engagement vonseiten ihrer Behandler als Normalgewichtige; teilweise werden diagnostische Maßnahmen unterlassen und Therapien trotz bestehender Indikation nicht eingeleitet. Heilberufler müssten deshalb über Adipositas, deren Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten besser Bescheid wissen. Dieses Wissen müsse in der Ausbildung ebenso vermittelt werden wie praktische Fertigkeiten eines nicht stigmatisierenden Umgangs mit Betroffenen. Bemängelt wird zudem eine in vielen Praxen und Einrichtungen fehlende passende Ausstattung, zum Beispiel mit Schwerlaststühlen oder geeigneten Waagen.
Dass Betroffene darunter leiden, liegt auf der Hand. Darüber hinaus führt eine (Selbst-)Stigmatisierung aufgrund des Gewichts nicht dazu, dass Abnehmversuche erfolgreicher verlaufen – im Gegenteil. Diese negativen Folgen der Stigmatisierung seien durch Studien eindeutig belegt.