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Adipositas

Fortschritte und Fragen

Adipositas ist ein Risikofaktor für verschiedene Krankheiten und gleichzeitig selbst eine chronische Erkrankung. Mit den als »Abnehmspritzen« bekannt gewordenen Inkretinmimetika lassen sich große Gewichtsverluste erzielen. Dennoch ist das Gesundheitsproblem Adipositas noch lange nicht gelöst.
AutorKontaktAnnette Rößler
Datum 10.04.2025  09:00 Uhr

Wann ist ein Mensch adipös? Auf diese Frage gibt es eine eindeutige Antwort, die allerdings aus Sicht von Experten ebenso eindeutig am Thema vorbeigeht – zumindest teilweise. Denn definiert und in Grade eingeteilt wird Adipositas anhand des Body-Mass-Index (BMI), des Quotienten aus Gewicht in Kilogramm und Körpergröße in Meter zum Quadrat (Tabelle). Gleichzeitig definiert die Interdisziplinäre S3-Leitlinie »Prävention und Therapie der Adipositas« (AWMF-Reg.-Nr. 050/001, Stand Oktober 2024), der diese Klassifikation entnommen ist, Adipositas als eine »über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfetts, die mit gesundheitlichen Risiken einhergeht«.

BMI (kg/m²)
Untergewicht <18,5
Normalgewicht 18,5 bis 24,9
Übergewicht ≥25,0
Präadipositas 25,0 bis 29,9
Adipositas Grad I 30,0 bis 34,9
Adipositas Grad II 35,0 bis 39,9
Adipositas Grad III ≥40
Tabelle: Klassifikation des Körpergewichts anhand des BMI, Quelle: Interdisziplinäre S3-Leitlinie »Prävention und Therapie der Adipositas«

Die Leitlinie bezieht sich auf Adipositas im Erwachsenenalter. Daneben gibt es eine eigene S3-Leitlinie »Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes- und Jugendalter« (AWMF-Reg.-Nr. 050/002, Stand August 2019, in Überarbeitung). Laut dieser ist der BMI bei Kindern und Jugendlichen alters- und geschlechtsabhängig, weshalb die Bestimmung von Übergewicht und Adipositas bei ihnen anhand geschlechtsspezifischer Altersperzentilen für den BMI erfolgen sollte. Entsprechende Tabellen finden sich auf der Website der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA).

Über den Anteil des Körperfetts am Körpergewicht sagt der BMI allerdings ebenso wenig aus wie über den Gesundheitszustand einer Person. Zwar kann man davon ausgehen, dass ein Mensch mit einem sehr hohen BMI einen das Normalmaß übersteigenden Körperfettanteil hat und daraus resultierend auch gesundheitliche Einschränkungen. Aber in den etwas niedrigeren Gewichtsklassen gibt es eben auch andere mögliche Gründe für einen »adipösen« BMI als Adipositas, eine sehr hohe Muskelmasse bei Sportlern beispielsweise.

Dass bei einem durchtrainierten Sportler allein anhand des BMI eine Adipositas festgestellt wird, ist allerdings wohl eher ein theoretisches Szenario. Problematischer scheint eine Untererfassung von Patienten, die bereits bei Normal- oder Übergewicht einen zu hohen Anteil von metabolisch aktivem Körperfett haben. Dieses ist schädlich, denn es setzt Botenstoffe frei und unterhält so unter anderem Entzündungsreaktionen und stört den Glucosestoffwechsel.

Metabolisch aktiv sind vor allem das die inneren Organe umgebende (viszerale) Fettgewebe und das Bauchfett (abdominales Fettgewebe) sowie neueren Erkenntnissen zufolge auch Fett, das in Muskeln eingelagert ist (intermuskuläres Fett), Unterhautfettgewebe (subkutanes Fett) dagegen weniger. Hat ein Mensch trotz eines erhöhten Körperfettanteils nur wenig metabolisch aktives Fettgewebe, kann er adipös sein und trotzdem metabolisch gesund. »Gesunde Adipositas« (healthy Obesity) wird dieser Zustand genannt, zu dessen Identifikation der BMI ebenfalls ungeeignet ist.

Eine weitere Schwäche des BMI zeigt sich im Alter. Bei älteren Menschen findet eine Umverteilung des Körperfetts statt: Es wird vermehrt subkutanes Fett abgebaut und abdominales Fett eingelagert. Dennoch ist es für Menschen ab 65 Jahren vorteilhaft, einen etwas höheren BMI zu haben. Im Gegensatz zu jüngeren Menschen, die bei einem BMI zwischen 20 und < 25 die niedrigste Sterblichkeit haben, liegt dieser optimale BMI-Bereich bei Senioren höher, nämlich zwischen 25 und 30 (laut einigen Studien sogar bis 35).

Neue Kategorien vorgeschlagen

Eine Expertenkommission, die im Auftrag des Fachjournals »The Lancet« kürzlich eine neue Definition der Adipositas erarbeitete (DOI: 10.1016/S2213-8587(24)00316-4), schlug daher eine Einteilung in eine »klinische« und eine »präklinische« Adipositas vor. Nur Erstere sieht sie als Erkrankung, und zwar als eine chronische, mit einer anhaltenden Funktionsstörung von Organen einhergehende Krankheit. Präklinische Adipositas definiert sie dagegen als einen Zustand, der dieser Krankheit vorausgeht. Es sei dann Fettgewebe im Übermaß vorhanden (Adipositas), aber es gebe noch keine Funktionseinschränkung von Organen und keine Folgeerkrankungen, lediglich ein erhöhtes Risiko dafür.

Für sich genommen solle der BMI nur noch als Surrogatparameter für Gesundheitsrisiken auf Bevölkerungsebene, für epidemiologische Studien und für Screeningzwecke genutzt werden, heißt es in der Publikation. Um überschüssiges Körperfett festzustellen, solle dieses bestenfalls direkt gemessen werden, was beispielsweise per bioelektrischer Impedanzanalyse oder Dual-Röntgen Absorptiometrie möglich ist (Kasten). Diese Verfahren sind jedoch aufwendig und nicht immer verfügbar.

Einfacher ist es, den Taillenumfang zu messen und daraus das Verhältnis Taille-Hüfte (Waist-to-Hip-Ratio, WHR) oder das Verhältnis Taille-Höhe (Waist-to-Height-Ratio, WHtR) abzuleiten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert abdominelle Adipositas als eine WHR von > 0,90 bei Männern und > 0,85 bei Frauen. Für die WHtR wird ein Grenzwert von 0,5 für Männer und Frauen angenommen.

Um eine Adipositas nachzuweisen, könnten dann mindestens eine Messung von Taillenumfang, WHR oder WHtR plus BMI oder mindestens zwei Messungen von Taillenumfang, WHR oder WHtR ohne BMI herangezogen werden. Lediglich bei einem BMI über 40 kg/m2 könne man ohne eine der genannten Messungen davon ausgehen, dass eine Adipositas vorliegt, so die »Lancet«-Kommission.

Die Reaktionen auf diese Vorschläge fielen gemischt aus. Professor Dr. Thomas Reinehr von der Privaten Universität Witten/Herdecke wies darauf hin, dass Messungen des Bauchumfangs und der Körperzusammensetzung deutlich stärker als der BMI variieren können, je nachdem, wer die Untersuchung durchführt und unter welchen Umständen. Auch würden abhängig von der gewählten Messmethode unterschiedliche Personengruppen als adipös identifiziert, ergänzte Professor Dr. Matthias Schulze vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam-Rehbrücke.

Leitlinie sieht Adipositas als Krankheit

Professor Dr. Hans Hauner von der Technischen Universität München (TUM) glaubt, dass sich »diese angeblich neue Definition« einer klinischen Adipositas kaum durchsetzen werde. Hauner ist Leitlinienbeauftragter der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, die bei der gerade erst erfolgten Aktualisierung der deutschen S3-Leitlinie federführend war. In der Leitlinie heißt es (Kasten): »Adipositas hat die Besonderheit, dass es sich um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt und gleichzeitig um einen Risikofaktor und Schrittmacher für eine Vielzahl chronischer, nicht übertragbarer Krankheiten.« Dies widerspricht dem Konzept der »Lancet«-Kommission, wonach Menschen mit präklinischer Adipositas nicht als krank gelten.

Bei Umsetzung der Vorschläge befürchtet Hauner eine drohende Unterversorgung von Menschen mit einem BMI zwischen 30 und 40. Bereits jetzt gebe es »eine restriktive Haltung, zum Beispiel der Kostenträger, gegenüber einer Adipositastherapie«, die sich dann noch verstärken könnte.

In Deutschland sind Arzneimittel zur Gewichtsreduktion durch den sogenannten Lifestyle-Paragrafen (SGB V § 34 Absatz 1 Satz 7) von der Erstattungsfähigkeit durch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ausgenommen. Das stellt eigentlich einen Widerspruch zur Haltung des Gesetzgebers dar, denn der Bundestag hat Adipositas 2020 offiziell als chronisch-rezidivierende Krankheit anerkannt. Bereits 2003 sprach das Bundessozialgericht in einem Grundsatzurteil von »einer Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne« (BSGE 59, 119 [121]).

Rund ein Fünftel der Bevölkerung betroffen

Ein Blick in die Bevölkerungsstatistik zeigt, warum die Erstattungsfähigkeit von Antiadiposita ein heißes Eisen ist: Es gibt in Deutschland sehr viele Betroffene. Laut dem Robert-Koch-Institut (RKI) waren in den Jahren 2019/2020 19 Prozent der Erwachsenen adipös. Übergewicht einschließlich Adipositas war bei Männern häufiger als bei Frauen (61 beziehungsweise 47 Prozent). Dies sind Ergebnisse der bevölkerungsrepräsentativen Studie »Gesundheit in Deutschland aktuell« (GEDA 2019/2020-EHIS), die auf Angaben der Befragten basieren.

Tatsächlich liegen die Prävalenzraten wohl höher, denn bei Befragungen zum eigenen Körpergewicht neigen viele Menschen dazu, nicht ganz ehrlich zu sein. Die Deutsche Adipositas-Gesellschaft nennt deshalb auf ihrer Website andere Zahlen: Übergewicht/Adipositas bei 67 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen, Adipositas bei 23 Prozent der Männer und 24 Prozent der Frauen. Diese Daten stammen aus der »Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland« des RKI und sind mit einem Erfassungszeitraum von 2008 bis 2011 zwar älter als die GEDA-Daten, beruhen aber auf unabhängigen Messungen.

Beide RKI-Studien zeigen, dass der Anteil übergewichtiger Menschen an der Bevölkerung in den vergangenen Jahren nicht mehr und die Adipositasprävalenz nur noch wenig gestiegen sind. Es habe aber eine Verschiebung hin zu höheren BMI-Kategorien stattgefunden, so die Leitlinie. Adipositas sei zudem eng mit einem niedrigen sozioökonomischen Status assoziiert, vor allem bei Frauen.

Diskriminierung und Vorurteile

Hinter dem Ausschluss von Mitteln zur Gewichtsreduktion aus der Erstattungsfähigkeit steckt die Sichtweise auf Adipositas als ein selbst verschuldetes Gesundheitsproblem – was nicht dem aktuellen Wissensstand entspricht.

Die Leitlinie betont, dass das Körpergewicht einer komplexen zentralnervösen Kontrolle unterliege, an der endokrine, metabolische und nervale Signale beteiligt sind, die wiederum von einer Reihe exogener Faktoren modifiziert werden. Die ständige Verfügbarkeit hochkalorischer Nahrungsmittel und der grassierende Bewegungsmangel seien nicht die alleinigen Ursachen für die Zunahme der Adipositasfälle. Diese resultiere vielmehr aus einer komplexen Interaktion zwischen Biologie und Umwelt.

Weil sich das Vorurteil von den angeblich »faulen und undisziplinierten Dicken« aber so hartnäckig hält, ist die Stigmatisierung von Menschen mit Übergewicht und Adipositas sehr weit verbreitet, auch durch die Betroffenen selbst: Sie stigmatisieren sich selbst, indem sie die negativen Stereotype einer angeblichen Charakter- oder Willensschwäche auf die eigene Person anwenden.

Ein neues Kapitel in der Leitlinie beschäftigt sich daher mit Stigmatisierung und Selbststigmatisierung, deren Folgen und Möglichkeiten zur Vermeidung. Ein vorurteilsfreier Umgang mit Betroffenen ist demnach nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, sondern auch eine Voraussetzung dafür, dass diese die benötigte Hilfe überhaupt erhalten. Auch im Gesundheitswesen sei eine – teilweise unbewusste – Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas gang und gäbe. Die Leitlinie nennt es eine »deutliche Evidenz für interpersonelle und strukturelle gewichtsbezogene Stigmatisierung im Gesundheitswesen«.

Betroffene erhalten weniger Behandlungszeit, Interventionen und Engagement vonseiten ihrer Behandler als Normalgewichtige; teilweise werden diagnostische Maßnahmen unterlassen und Therapien trotz bestehender Indikation nicht eingeleitet. Heilberufler müssten deshalb über Adipositas, deren Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten besser Bescheid wissen. Dieses Wissen müsse in der Ausbildung ebenso vermittelt werden wie praktische Fertigkeiten eines nicht stigmatisierenden Umgangs mit Betroffenen. Bemängelt wird zudem eine in vielen Praxen und Einrichtungen fehlende passende Ausstattung, zum Beispiel mit Schwerlaststühlen oder geeigneten Waagen.

Dass Betroffene darunter leiden, liegt auf der Hand. Darüber hinaus führt eine (Selbst-)Stigmatisierung aufgrund des Gewichts nicht dazu, dass Abnehmversuche erfolgreicher verlaufen – im Gegenteil. Diese negativen Folgen der Stigmatisierung seien durch Studien eindeutig belegt.

Wann eine Therapie erfolgen soll

Menschen mit Übergewicht oder Adipositas sollen laut Leitlinie eine Behandlung erhalten, wenn sie

  • einen BMI ≥ 30 haben,
  • einen BMI zwischen 25 und 30 haben und eine übergewichtsbedingte Gesundheitsstörung wie Hypertonie oder Typ-2-Diabetes,
  • einen BMI zwischen 25 und 30 haben und einen Taillenumfang ≥ 102 cm (Männer) beziehungsweise ≥ 88 cm (Frauen),
  • einen BMI zwischen 25 und 30 haben und Erkrankungen, die durch Übergewicht verschlimmert werden, oder
  • einen BMI zwischen 25 und 30 haben und einen hohen psychosozialen Leidensdruck.

Keine Therapie soll in der Schwangerschaft und bei Patienten mit einer konsumierenden Erkrankung, zum Beispiel Krebs, erfolgen.

Neben einer Erhöhung der Lebensqualität hat die Behandlung das Ziel, mit einer langfristigen Gewichtsreduktion die gesundheitlichen Risiken zu senken, die mit Adipositas zusammenhängen. Dabei wirkt sich bereits eine moderate Gewichtsabnahme positiv auf kardiometabolische Risikofaktoren wie Typ-2-Diabetes, Dyslipidämie und Hypertonie aus.

Als moderat gilt eine Reduktion des Ausgangsgewichts um 5 Prozent. Menschen mit einem BMI zwischen 25 und 34,9 sollen anstreben, dies innerhalb von sechs bis zwölf Monaten zu erreichen. Bei höheren BMI-Werten soll eine 10-prozentige Gewichtsreduktion das Ziel sein. Diese Vorgaben kann die Mehrheit der Betroffenen realistischerweise auch mit konservativen Methoden erreichen. Ein realistisches und individuell angepasstes Therapieziel ist sehr wichtig, um Enttäuschungen bei den Betroffenen zu vermeiden, die meistens schon viele erfolglose Abnehmversuche hinter sich haben und entsprechend frustriert sind.

Ernährung, Bewegung, Verhalten

Die Grundlage jeder Therapie bildet die Trias Ernährungsumstellung, Bewegungssteigerung und Verhaltensmodifikation. Mit einem Energiedefizit von 500 bis 600 kcal pro Tag ist ein Gewichtsverlust von etwa 0,5 kg pro Woche über einen Zeitraum von drei Monaten zu erwarten. Allerdings passt sich der Körper rasch an und aktiviert Energiesparmaßnahmen, sodass sich der anfängliche Gewichtsverlust mit der Zeit abschwächt. Nach drei bis sechs Monaten stellt sich in der Regel ein neues Gleichgewicht ein; dann geht es vor allem darum, das erreichte Gewicht zu halten und nicht wieder zuzunehmen.

Die Leitlinie zählt verschiedene mögliche Ernährungsstrategien auf, ohne eine davon besonders zu empfehlen: Reduktion der Fettzufuhr (»Low Fat«), Reduktion der Kohlenhydratzufuhr (»Low Carb«), Ernährung nach den zehn Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), mediterrane Kost, vegetarische/vegane Ernährung, Mahlzeitenersatzstrategie (Formulaprodukte), intermittierendes Fasten. Die Maxime lautet: Der Patient soll sich selbst für eine Strategie entscheiden, die seinen Vorlieben und seiner Lebenssituation entspricht.

Kohlenhydrate Protein Fett
ausgewogen 55 bis 60 Prozent circa 15 Prozent 21 bis ≤30 Prozent
Low Carb ≤40 Prozent circa 30 Prozent 30 bis 55 Prozent
Low Fat circa 60 Prozent circa 10 bis 15 Prozent ≤20 Prozent
Tabelle: Verhältnis der Makronährstoffe bei verschiedenen Diätformen, Quelle: Interdisziplinäre S3-Leitlinie »Prävention und Therapie der Adipositas«

Mit einer Low-Carb-Diät ist laut Leitlinie in den ersten sechs Monaten ein größerer Gewichtsverlust zu erwarten als mit einer fettreduzierten Diät. Dieser Unterschied habe sich jedoch in Studien innerhalb von zwölf Monaten nivelliert.

Flankierend zur Ernährungsumstellung sollen Patienten 30 bis 60 Minuten täglich körperlich aktiv sein. Durch eine Bewegungstherapie ohne Ernährungsumstellung ist laut Leitlinie weniger Gewichtsverlust als mit der Kombination beider Maßnahmen zu erwarten, nämlich nur etwa 2 bis 3 kg pro Jahr.

Die Verhaltensmodifikation als dritte Säule der Basistherapie sollte darauf abzielen, »den häufig dysfunktional eingesetzten Verstärker ›Nahrung‹ durch Alternativen zu ersetzen«, wie es in der Leitlinie heißt.

Status quo der Pharmakotherapie

Häufig können die Therapieziele allein durch die Basismaßnahmen nicht erreicht oder aufrechterhalten werden. Dann können unterstützend Medikamente eingesetzt werden. Die Pharmakotherapie soll die Basistherapie also ergänzen, nicht ersetzen.

Zugelassen zum Gewichtsmanagement bei Übergewicht/Adipositas und auf dem Markt verfügbar sind Orlistat (Xenical® und Generika), Liraglutid (Saxenda®), Semaglutid (Wegovy®) und Tirzepatid (Mounjaro®). Die Präparate dürfen bei Erwachsenen mit einem BMI ab 30 oder mit einem BMI ab 27 und mindestens einer gewichtsbezogenen Begleiterkrankung eingesetzt werden (Orlistat ab BMI 28 plus assoziierte Risikofaktoren). Liraglutid und Semaglutid sind auch zugelassen für Jugendliche ab zwölf Jahren mit einem Körpergewicht über 60 kg oder einem BMI, der einem Erwachsenen-BMI von 30 entspricht.

Orlistat wird peroral verabreicht, hemmt im Dünndarm Lipasen und reduziert dadurch die Absorption von Fetten. Unangenehme Nebenwirkungen wie Durchfall, öliger Stuhlabgang und Stuhlinkontinenz sind daher sehr häufig, insbesondere wenn die Patienten die empfohlene hypokalorische Diät nicht einhalten. Wegen seiner schlechten Verträglichkeit und der vergleichsweise geringen Wirksamkeit (Gewichtsabnahme placebobereinigt nach einem Jahr 4,2 kg, nach zwei Jahren 3,6 kg) spielt Orlistat in der Therapie der Adipositas nur noch eine untergeordnete Rolle.

Inkretineffekt und Inkretinmimetika

Liraglutid, Semaglutid und Tirzepatid sind Inkretinmimetika. Als Inkretineffekt bezeichnet man das Phänomen, dass bei gleichen Blutzuckerspiegeln die intravenöse Gabe von Glucose einen deutlich geringeren Anstieg der Insulinsekretion verursacht als die orale Aufnahme. Der Unterschied beträgt bis zu 75 Prozent und wird durch die Inkretinhormone Glucagon-like Peptide-1 (GLP-1) und Glucose-dependent Insulinotropic Polypeptide (GIP) vermittelt.

Inkretinmimetika ahmen die Wirkung von GLP-1 beziehungsweise im Fall von Tirzepatid von GLP-1 und GIP nach. Die beiden Inkretinhormone werden im Darm als Reaktion auf eine Nahrungsaufnahme freigesetzt, und zwar GIP in oberen Darmabschnitten und GLP-1 in tieferen. Sie stimulieren bei Hyperglykämie die Insulinsekretion aus den Inselzellen des Pankreas und hemmen die Glucagonausschüttung. Deshalb werden die Inkretinmimetika auch bei Typ-2-Diabetes eingesetzt, Liraglutid (Victoza®) und Semaglutid (Ozempic®) aber unter anderen Handelsnamen als bei Adipositas.

Bei Übergewicht und Adipositas kommt die Wirkung durch eine zentrale Steigerung des Sättigungsgefühls zustande. Diesen Effekt haben interessanterweise sowohl Agonisten als auch Antagonisten am GIP-Rezeptor. Mechanistisch lässt sich das so erklären: Eine Dauerstimulation des GIP-Rezeptors führt zu dessen Internalisierung, wodurch auch GIP-Rezeptoragonisten letztlich eine Drosselung der GIP-vermittelten Wirkung bewirken.

Darüber hinaus verzögern Inkretinmimetika die Magenentleerung, was ebenfalls dazu führt, dass Anwender weniger Hunger haben. Dieser Effekt scheint sich jedoch im Laufe der Behandlung abzuschwächen. Auch die gewichtsreduzierende Wirkung lässt mit der Zeit nach: Nach etwa einem Jahr hat sich das Körpergewicht üblicherweise (auf einem niedrigeren Stand) stabilisiert.

Die Präparate werden parenteral verabreicht. Liraglutid wird einmal täglich subkutan gespritzt, Semaglutid und Tirzepatid einmal wöchentlich. Bei Liraglutid und Semaglutid unterscheiden sich die empfohlenen Dosen indikationsabhängig: Bei Typ-2-Diabetes gelten 1,8 mg Liraglutid täglich beziehungsweise 2 mg Semaglutid wöchentlich als Maximaldosis, zum Gewichtsmanagement sind es 3 mg Liraglutid täglich beziehungsweise 2,4 mg Semaglutid wöchentlich. Tirzepatid wird in beiden Indikationen mit maximal 15 mg wöchentlich dosiert.

Alle Inkretinmimetika wirken stärker gewichtsreduzierend als Orlistat. Innerhalb der Gruppe gibt es weitere Abstufungen: In einem direkten Vergleich zwischen Semaglutid und Liraglutid (STEP-8-Studie) wurde mit Semaglutid nach 68 Wochen ein Gewichtsverlust von –15,8 Prozent des Ausgangskörpergewichts erzielt und mit Liraglutid von –6,4 Prozent. Die Anwendung von Tirzepatid in der höchsten Dosis von 15 mg einmal wöchentlich führte in der Studie SURMOUNT-1 nach 72 Wochen zu einem Gewichtsverlust von durchschnittlich −20,9 Prozent.

Häufige unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) der Inkretinmimetika sind gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen und Sodbrennen. Mögliche UAW sind zudem Entzündungen der Nieren, der Bauchspeicheldrüse und Gelenke, Schlafstörungen, Synkopen und Hypotonie. Ein zwischenzeitlich vermuteter Zusammenhang zwischen der Anwendung und Suizidalität hat sich nicht bestätigt.

Vieles in der Entwicklung

Der Markt mit Antiadiposita ist lukrativ – und wird wachsen. Mehrere Kandidaten sind in fortgeschrittenen Phasen der klinischen Prüfung. Sie adressieren teilweise auch weitere Targets, nämlich die Rezeptoren für Glucagon oder Amylin. Letzteres ist ein Peptidhormon aus dem Pankreas, das die Magenentleerung verzögert und das Sättigungsgefühl verstärkt. Verglichen mit Inkretinmimetika scheinen Amylinanaloga/-mimetika neben dem Abbau von Fett einen weniger starken Verlust von Muskelmasse zu bewirken.

Novo Nordisk hat mit Cagrilintid ein lang wirksames Amylinanalogon im Portfolio, das in fixer Kombination mit Semaglutid (Cagri/Sema) einmal wöchentlich gespritzt wird. Kürzlich gab das dänische Unternehmen die Ergebnisse der Phase-III-Studie REDEFINE 1 mit dem Präparat bekannt: eine Reduktion des Ausgangsgewichts um durchschnittlich –22,7 Prozent nach 68 Wochen. Ebenfalls ein Produkt aus dem Hause Novo Nordisk ist Amycretin, ein dualer Amylin-/GLP-1-Rezeptoragonist, der einmal wöchentlich subkutan verabreicht wird. Laut jüngster Firmenmitteilung führte die Anwendung von Amycretin in einer Phase-Ib/IIa-Studie nach 36 Wochen zu einem Gewichtsverlust von maximal –22,0 Prozent.

Retatrutid (LY3437943) von Eli Lilly ist ein Triple-Agonist an GLP-1-, GIP- und Glucagon-Rezeptoren, der ebenfalls einmal wöchentlich subkutan injiziert wird. In einer Phase-II-Studie betrug der prozentuale Gewichtsverlust nach 48 Wochen dosisabhängig durchschnittlich bis zu –24,2 Prozent. In der Leitlinie heißt es zu dem Präparat, dass »erstmals bei einem Adipositaswirkstoff die Kategorie ›Gewichtsreduktion > 30 Prozent des Ausgangsgewichts‹ in die Publikationen aufgenommen worden« sei. Phase-III-Studien mit Retatrutid laufen.

Duale Agonisten an GLP-1- und Glucagon-Rezeptoren in der Entwicklung sind Survodutid von Zealand Pharma und Pemvidutid von Altimmune. Die Anwendung von Survodutid führte in einer Phase-II-Studie nach 46 Wochen zu einem Gewichtsverlust von maximal durchschnittlich –14,9 Prozent. Pemvidutid bewirkte in der höchsten Dosierung in einer Phase-II-Studie nach 48 Wochen einen Gewichtsverlust von durchschnittlich –15,6 Prozent. Beide Wirkstoffe werden einmal wöchentlich gespritzt.

Auch peroral verfügbare Präparate zeichnen sich ab. Allerdings wird dabei die einfachere Anwendungsweise mit einer im Vergleich zu den parenteral verabreichten Produkten tendenziell schwächeren gewichtsreduzierenden Wirkung erkauft. Semaglutid ist in Europa in Tablettenform zugelassen (Rybelsus®), aber nicht auf dem Markt. Mit einer Erhaltungsdosis von 14 mg täglich (maximal 30 mg täglich) muss Semaglutid bei der peroralen Anwendung um ein Vielfaches höher dosiert werden als bei der parenteralen Gabe. Doch für eine befriedigende Gewichtsreduktion scheint auch das nicht auszureichen: Rybelsus ist ausschließlich zur Blutzuckerkontrolle bei Typ-2-Diabetes zugelassen.

In einer Dosis von 50 mg täglich führte peroral verabreichtes Semaglutid in einer Phase-III-Studie nach 68 Wochen zu einem Gewichtsverlust von durchschnittlich –15,1 Prozent. Jedoch hatten 80 Prozent der Patienten bei dieser Dosis gastrointestinale Beschwerden.

Der nicht peptidische GLP-1-Rezeptoragonist Orforglipron von Eli Lilly wird ebenfalls einmal täglich peroral angewendet. Laut den Ergebnissen einer Phase-II-Studie bewirkte Orforglipron nach 26 Wochen einen Gewichtsverlust von maximal durchschnittlich −14,7 Prozent. Das Verträglichkeitsprofil habe dem der GLP-1-Rezeptoragonisten entsprochen, heißt es in der Publikation.

Auch eine Verlängerung des Dosisintervalls bei parenteral anzuwendenden Wirkstoffen kann die Therapie vereinfachen. Diese Voraussetzung erfüllt der Kandidat Maridebart Cafraglutid (Mari/Tide, ehemals AMG 133) von Amgen. Es handelt sich um ein bispezifisches Molekül bestehend aus zwei GLP-1-Analoga und einem GIP-Rezeptorantagonisten, die über Aminosäurelinker verknüpft sind. Die Anwendung erfolgt laut Hersteller »einmal im Monat oder seltener«. Vorab per Pressemitteilung veröffentlichte Phase-II-Ergebnisse belegen einen Mari/Tide-vermittelten durchschnittlichen Gewichtsverlust von bis zu circa 20 Prozent nach 52 Wochen.

Langfristige Perspektive

Die großen Therapieerfolge, die sich mit den verfügbaren und absehbar hinzukommenden Wirkstoffen erzielen lassen, werfen allerdings auch Fragen auf. Erstens: Wann werden die Firmen genügend produzieren, um die Nachfrage zu decken? Lieferengpässe sind derzeit an der Tagesordnung.

Zweitens: Wer kommt für die Kosten auf? Solange Mittel zur Gewichtsreduktion nicht erstattungsfähig sind, werden sie denjenigen vorbehalten bleiben, die sie sich leisten können beziehungsweise es werden weiterhin – wie derzeit – die entsprechenden Diabetesmedikamente in großem Stil »zweckentfremdet« werden.

Schließlich stellt sich drittens die Frage nach der langfristigen Perspektive. Unter Daueranwendung der Inkretinmimetika wird das niedrigere Gewicht gehalten, nach dem Absetzen nehmen die meisten Betroffenen aber rasch wieder zu. In der Leitlinie heißt es dazu: »Das Hauptproblem bei der Behandlung der Adipositas besteht weniger in der kurzfristigen Gewichtsabnahme als der Stabilisierung des reduzierten Körpergewichts.«

Um den Therapieerfolg auch nach dem Absetzen der Medikation zu sichern, führt an einer dauerhaften Umstellung der Lebensweise kein Weg vorbei. Dies schaffen nur wenige Betroffene, da sich ja weder an ihrer Biologie noch der adipogenen Umgebung etwas geändert hat.

Adipositas sei als chronische Erkrankung mit hoher Rezidivneigung zu betrachten, schreiben die Leitlinienautoren. Deshalb sollen Patienten über die Phase der Gewichtsabnahme hinaus weiter betreut werden. Um Betroffene bei der Stabilisierung des Gewichts zu unterstützen, kommen auch digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) infrage, deren Kosten bei einer ärztlichen Verordnung von den Krankenkassen übernommen werden.

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