Fortschritte und Fragen |
Annette Rößler |
10.04.2025 09:00 Uhr |
Professor Dr. Hans Hauner von der Technischen Universität München (TUM) glaubt, dass sich »diese angeblich neue Definition« einer klinischen Adipositas kaum durchsetzen werde. Hauner ist Leitlinienbeauftragter der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, die bei der gerade erst erfolgten Aktualisierung der deutschen S3-Leitlinie federführend war. In der Leitlinie heißt es (Kasten): »Adipositas hat die Besonderheit, dass es sich um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt und gleichzeitig um einen Risikofaktor und Schrittmacher für eine Vielzahl chronischer, nicht übertragbarer Krankheiten.« Dies widerspricht dem Konzept der »Lancet«-Kommission, wonach Menschen mit präklinischer Adipositas nicht als krank gelten.
Adipositas erhöht das Risiko für zahlreiche Erkrankungen. Laut der WHO haben Menschen mit Adipositas ein mehr als dreifach erhöhtes Risiko für Lebererkrankungen wie MASLD (Metabolic Dysfunction-associated Steatotic Liver Disease) und MASH (Metabolic Dysfunction-associated Steatohepatitis), obstruktives Schlafapnoe-Syndrom, Typ-2-Diabetes und Gonarthrose. Ein zwei- bis dreifacher Risikoanstieg ist für Hypertonie, Dyslipidämie, koronare Herzkrankheit, Schlaganfall, Gicht, Refluxösophagitis und Gallensteine belegt. Für Hüftgelenksarthrose und Rückenbeschwerden, Infertilität, polyzystisches Ovarsyndrom, Nierensteine, Harnwegsinfekte und zahlreiche Krebsarten ist das Risiko ein- bis zu zweifach erhöht.
Bei Umsetzung der Vorschläge befürchtet Hauner eine drohende Unterversorgung von Menschen mit einem BMI zwischen 30 und 40. Bereits jetzt gebe es »eine restriktive Haltung, zum Beispiel der Kostenträger, gegenüber einer Adipositastherapie«, die sich dann noch verstärken könnte.
In Deutschland sind Arzneimittel zur Gewichtsreduktion durch den sogenannten Lifestyle-Paragrafen (SGB V § 34 Absatz 1 Satz 7) von der Erstattungsfähigkeit durch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ausgenommen. Das stellt eigentlich einen Widerspruch zur Haltung des Gesetzgebers dar, denn der Bundestag hat Adipositas 2020 offiziell als chronisch-rezidivierende Krankheit anerkannt. Bereits 2003 sprach das Bundessozialgericht in einem Grundsatzurteil von »einer Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne« (BSGE 59, 119 [121]).