Erster Kinasehemmer bei NTRK-Genfusion |
Der Nachweis einer NTRK-Genfusion ist die Voraussetzung für eine Therapie mit Larotrectinib. Er ist beispielsweise über ein Next-Generation-Sequencing möglich. / Foto: Getty Images/Pogonici
Tropomyosin Rezeptorkinasen (TRK) sind an der Schmerz- und Thermoregulation sowie der Steuerung von Bewegung, Erinnerung, Appetit und des Metabolismus beteiligt. Es gibt drei Unterformen, TRKA, TRKB und TRKC, die von den neurotrophen TRK-Genen NTRK1, NTRK2 und NTRK3 kodiert werden. Ein NTRK-Gen kann zu einem Onkogen werden, wenn es mit einem anderen Gen fusioniert, wenn also beide Gene zerbrechen und sich anders als zuvor neu zusammenlagern. Das NTRK-Gen ist dann konstitutiv, also dauerhaft, aktiviert und das zugehörige TRK-Protein wird im Übermaß produziert.
Insgesamt sind NTRK-Fusionen selten; sie liegen über alle Tumorentitäten hinweg bei etwa 1 Prozent der Patienten vor. Bei manchen Krebsarten wie dem infantilen Fibrosarkom sind aber nahezu alle Patienten betroffen. Als Faustregel gilt, dass NTRK-Fusionen bei seltenen Tumoren häufig und bei häufigen Tumoren selten sind.
Larotrectinib (Vitrakvi® von Bayer) ist ein selektiver, kompetitiver Hemmer von Tropomyosin-Rezeptorkinasen. Seit Oktober ist eine Lösung zum Einnehmen mit der Konzentration 20 mg/ml verfügbar. Der Wirkstoff soll auch in Kapselform auf den Markt kommen, ist es in dieser Darreichungsform jedoch momentan noch nicht. Vitrakvi wird als Monotherapie bei Erwachsenen und Kindern mit soliden Tumoren mit einer nachgewiesenen NTRK-Genfusion angewendet, deren Erkrankung lokal fortgeschritten oder metastasiert ist, bei denen eine chirurgische Entfernung des Tumors wahrscheinlich zu schwerer Morbidität führt und für die keine zufriedenstellenden Therapieoptionen zur Verfügung stehen.
Bei Erwachsenen beträgt die empfohlene Dosis zweimal täglich 100 mg. Bei Kindern wird mit zweimal täglich 100 mg/m2 nach Körperoberfläche dosiert, wobei zweimal täglich 100 mg die Maximaldosis darstellt. Die Lösung kann unabhängig von einer Mahlzeit eingenommen werden, aber nicht zusammen mit Grapefruit oder Grapefruitsaft. Vergisst der Patient eine Einnahme oder erbricht sich kurz darauf, soll keine zusätzliche Dosis eingenommen, sondern die Therapie mit der nächsten geplanten Dosis fortgesetzt werden.
Schwerwiegende Nebenwirkungen oder bestimmte Voraussetzungen können eine Dosisanpassung, ein Aussetzen oder ein dauerhaftes Absetzen von Vitrakvi erforderlich machen. So soll beispielsweise bei stark eingeschränkter Leberfunktion (Child-Pugh C) oder bei gleichzeitiger Gabe eines starken CYP3A4-Hemmers die Larotrectinib-Anfangsdosis um 50 Prozent reduziert werden. Weitere Empfehlungen der Dosisanpassung an spezielle Behandlungssituationen sind der Fachinformation zu entnehmen. Für Apotheker ist es wichtig zu wissen, dass Larotrectinib ein Substrat von CYP3A4, P-Glykoprotein (P-gp) und des Brustkrebs-Resistenz-Proteins (BCRP) ist. Auf entsprechende Wechselwirkungen mit anderen Arzneistoffen ist zu achten.
Ausschlaggebend für die Zulassung waren die Ergebnisse aus drei offenen, einarmigen Studien mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit NTRK-Genfusions-positiven Tumoren. Am 19. Februar 2019, dem jüngsten Stichtag, waren die Daten von 153 Teilnehmern auswertbar. Die Gesamtansprechrate (Overall Response Rate, ORR) betrug 79 Prozent, wobei die meisten Patienten (63 Prozent) in eine partielle Remission kamen und 16 Prozent in eine komplette. Bei den Patienten mit bestätigtem Ansprechen betrug die mediane Ansprechdauer 35,2 Monate.
Die häufigsten Nebenwirkungen waren Fatigue, erhöhte Leberenzymwerte (ALT und AST), Schwindel, Verstopfung, Anämie sowie Übelkeit und Erbrechen. Die meisten Nebenwirkungen waren nur mild ausgeprägt, was der Hersteller darauf zurückführt, dass Larotrectinib, anders als alle anderen zugelassenen Kinasehemmer, in therapeutischen Dosen spezifisch nur die Zielstruktur TRK hemme. In den Studien musste die Therapie bei 3 Prozent der Patienten aufgrund von Nebenwirkungen abgebrochen werden.
Während der Embryogenese sind TRK wichtig für die Entwicklung und Reifung des peripheren und zentralen Nervensystems. Daher muss von einer Schädigung des ungeborenen Kindes bei Anwendung von Larotrectinib in der Schwangerschaft ausgegangen werden. Bei Frauen im gebärfähigen Alter darf eine Therapie deshalb erst nach negativem Schwangerschaftstest gestartet werden. Die Patientinnen müssen während der Einnahme und bis mindestens einen Monat danach zuverlässig verhüten. Da Vitrakvi möglicherweise die Wirksamkeit oraler Kontrazeptiva herabsetzt, muss zusätzlich eine Barrieremethode angewendet werden. Auch männliche Patienten im zeugungsfähigen Alter müssen während der Behandlung und bis mindestens einen Monat danach zuverlässig verhüten. Mütter sollen während der Einnahme von Vitrakvi und bis drei Tage nach der letzten Dosis das Stillen unterbrechen.
Die Zulassung des neuen Arzneistoffs erfolgte »unter besonderen Bedingungen«. Die Zulassungsbehörden erwarten also vom Hersteller, dass er weitere Daten einreicht. Die Europäische Arzneimittelagentur wird diese jährlich neu bewerten und gegebenenfalls Anpassungen der Zulassung vornehmen.
Der Kinasehemmer Larotrectinib ist als Sprunginnovation zu sehen. Es ist der erste Wirkstoff mit tumorunabhängiger Indikation. Das heißt, nicht mehr die Lokalisation des Tumors ist maßgeblich, ob eine Larotrectinib-Therapie möglich ist, sondern seine molekulargenetischen Eigenschaften. Das könnte der Beginn einer neuen Ära sein, die irgendwann zunächst grundsätzlich mit einer Genomanalyse des Tumors beginnt.
Leider ist die für den Einsatz von Larotrectinib notwendige NTRK-Genfusion bei häufigen Tumorarten eher selten nachzuweisen. Liegt sie allerdings vor, dürfen Patienten und Ärzte auf ein gutes Behandlungsergebnis hoffen. Die Gesamtansprechrate von circa 80 Prozent ist sehr hoch und auch eine mediane Ansprechdauer von fast drei Jahren kann sich sehen lassen. Hervorzuheben ist zudem, dass der Wirkstoff von Beginn an auch für den Einsatz bei pädiatrischen Patienten entwickelt wurde und bei diesen ebenfalls sehr gute Ansprechrate erzielen konnte.
Positiv ist ferner, dass Off-Target-Effekte aufgrund der hohen Selektivität für die gehemmten Tropomysin-Rezeptorkinasen sehr selten sind und die Verträglichkeit der Substanz im Vergleich zu anderen Kinasehemmern sehr gut ist. Apropos andere Kinasehemmer: In den USA gibt es mit Entrectinib einen weiteren zugelassenen Wirkstoff, der unter anderem bei NTRK-Fusions-positiven Tumoren angewendet werden darf. Und mit Selitrectinib befindet sich ein Tropomysin-Rezeporkinase-Hemmer der zweiten Generation bereits in der klinischen Entwicklung. Er könnte eines Tages bei erworbener Resistenz gegen Larotrectinib zum Einsatz kommen.
Das Wissen über die Tumorgenomik wächst ständig. Damit bekommt die Präzisionsonkologie als Therapieansatz einen immer größeren Stellenwert. Es ist gut zu wissen, dass immer mehr Wirkstoffe entwickelt werden, mit deren Hilfe die Behandlung stärker auf den einzelnen Patienten abgestimmt werden kann.
Sven Siebenand, Chefredakteur