Erste Gentherapie im Handel |
Kerstin A. Gräfe |
23.05.2023 07:00 Uhr |
Bei der Erbkrankheit Hämophilie B liegt ein angeborener Mangel des Faktors IX vor. Erstmals gibt es für die Betroffenen einen kausalen Behandlungsansatz. / Foto: Getty Images/Md Saiful Islam Khan
Hämophilie B ist eine seltene, x-chromosomal vererbte Blutgerinnungsstörung. Verursacht wird sie durch Mutationen im F9-Gen, das für den Gerinnungsfaktor IX (FIX) kodiert. Infolge des Mangels oder Funktionsverlusts von FIX ist die Blutgerinnungsfähigkeit vermindert, was zu Einblutungen in Gelenke, Muskeln und innere Organe, einschließlich des Gehirns, führen kann. Die derzeitige Behandlung von mittelschwerer bis schwerer Hämophilie B besteht in lebenslangen prophylaktischen Infusionen von FIX. Doch auch unter langwirksamen rekombinanten FIX-Produkten können weiterhin Durchbruchblutungen auftreten. Komplikationen sind langfristig oft nicht zu vermeiden.
Mit Etranacogen Dezaparvovec (Hemgenix® 1 x 1013 Genomkopien/ml Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung, CSL Behring) gibt es eine erste Gentherapie. Sie ist zugelassen zur Behandlung von Erwachsenen mit schwerer oder mittelschwerer Hämophilie B ohne Faktor-IX-Inhibitoren in der Vorgeschichte.
Hemgenix exprimiert den menschlichen Gerinnungsfaktor IX. Das Gentherapeutikum nutzt einen vermehrungsunfähigen, gentechnisch veränderten Vektor auf Basis eines Adeno-assoziierten Virus Serotyp 5 (rAAV5). Dieser trägt eine Kodon-optimierte cDNA der menschlichen FIX-Variante R338L (FIX-Padua), die durch einen leberspezifischen Promotor (LP1) gesteuert wird. Die FIX-Padua-Variante ist sechs- bis achtmal aktiver als der in der Allgemeinbevölkerung normalerweise vorkommende Wildtyp.
Nach erfolgreicher Transduktion in die Hepatozyten kommt es zu einer effektiven endogenen FIX-Produktion, was für kontinuierlichen und anhaltenden Schutz vor Blutungen sorgen kann. Modellrechnungen sagen für mehr als die Hälfte der Patienten mit einem milden Phänotyp ein prophylaxefreies Leben für eine Dauer von mehr als 25 Jahren nach Infusion voraus.
Hemgenix wird einmalig als intravenöse Infusion angewendet. Vor der Verabreichung sollte auf bereits vorhandene neutralisierende Anti-AAV5-Antikörpertiter getestet werden. Die empfohlene Dosis sind einmalig 2 x 1013 Genomkopien pro kg Körpergewicht. Da bis zum Eintritt der therapeutischen Wirkung mehrere Wochen vergehen können, kann eine hämostatische Unterstützung mit exogenem humanem Faktor IX in den ersten Wochen nach der Infusion erforderlich sein. Nach der Verabreichung wird eine Überwachung der Faktor-IX-Aktivität (zum Beispiel wöchentlich für drei Monate) empfohlen, um ein Ansprechen zu verfolgen.
Während oder kurz nach der Hemgenix-Infusion sind Infusionsreaktionen, einschließlich Überempfindlichkeitsreaktionen und Anaphylaxie, möglich. Die Patienten sollten während der gesamten Infusionsdauer und mindestens drei Stunden nach Beendigung der Infusion engmaschig auf Infusionsreaktionen überwacht werden. Nach klinischem Ermessen kann eine Behandlung mit einem Corticosteroid oder Antihistaminikum in Betracht gezogen werden.
Kontraindiziert ist die Gentherapie bei Patienten mit akuten oder nicht kontrollierten chronischen Leberinfektionen sowie bei Patienten mit bekannter fortgeschrittener Leberfibrose oder -zirrhose.