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Der Medikationskatalog fasst evidenz- und leitlinienbasierte Empfehlungen für den Arzt zusammen, um eine sichere und wirtschaftliche Verordnung zu unterstützen. Der Katalog wurde für das Modellvorhaben ARMIN von der KBV erarbeitet und publiziert (2). Darin werden für häufige Indikationen (zum Beispiel Hypertonie, Diabetes, Herzinsuffizienz) die zugelassenen Wirkstoffe und Kombinationen nach definierten Kriterien in die drei Kategorien Standard, Reserve und Nachrangig eingeteilt. Dem Arzt wird empfohlen, Standard- oder Reservewirkstoffe sowie als rabattiert gekennzeichnete Wirkstoffe zu bevorzugen; er ist in seiner Therapiefreiheit aber nicht eingeschränkt. Die Zielerreichung der festgelegten Mindestquoten für die Verordnung von Standard- und Reservewirkstoffen wurde finanziell honoriert.
Die teilnehmenden Apotheken unterstützten die Umsetzung des Medikationskatalogs, indem sie Patienten bei Nachfragen zum Prinzip des Medikationskatalogs aufklärten und somit zur besseren Akzeptanz beitrugen. Seit 1. Januar 2018 gilt der Medikationskatalog kollektivvertraglich bundesweit für viele Facharztgruppen und hat dort die bisher durchgeführten Richtgrößenprüfungen ganz oder teilweise abgelöst.
Evaluationsergebnisse zum Medikationskatalog
In der Evaluation zeigte sich, dass der Medikationskatalog von Anfang an gut umgesetzt wurde – etwa zwei von drei verordneten Wirkstoffen kamen aus der Kategorie Standard. Während diese Anteile über die Jahre nahezu unverändert blieben, verringerten sich die Anteile der Wirkstoffe, die der Kategorie Nachrangig zugeordnet waren von 9,9 Prozent (2016) auf 8,1 Prozent (2019).
Während die Umsetzung der Module 1 und 2 grundsätzlich für alle Versicherten der AOK PLUS möglich war, richtete sich das interprofessionelle Medikationsmanagement an die Patienten in der ambulanten Versorgung, die mindestens 18 Jahre alt waren, dauerhaft mindestens fünf Wirkstoffe systemisch anwendeten und einer Betreuung durch nur einen Hausarzt und eine öffentliche Apotheke zustimmten. Bei Hinweisen auf mangelnde Einnahmetreue (Medikamentenadhärenz) konnten auch Patienten mit weniger als fünf Dauermedikationen eingeschlossen werden. Ziel war es, die Gesamtmedikation zu erfassen, auf arzneimittelbezogene Probleme (ABP) zu prüfen und Patienten dabei zu unterstützen, ihre Arzneimitteltherapie regelmäßig und korrekt umzusetzen.
Die Betreuung der Patienten erfolgte gemeinsam durch beide Professionen in einem klar definierten Prozess und mit abgestimmten Verantwortlichkeiten (Abbildung 1).
Abbildung 1: Prozess und Verantwortlichkeiten von Apotheker und Arzt im Medikationsmanagement (I: Startintervention zur Prüfung der Gesamtmedikation und erstmaliger Erstellung des Medikationsplans; II: Folgeinterventionen fanden bei jedem Besuch in Apotheke oder Arztpraxis statt zur Überprüfung der Medikation und gegebenenfalls Aktualisierung des Medikationsplans) / Foto: PZ
Zu Beginn wurde in der Apotheke ein sogenannter Brown-Bag-Review durchgeführt. Für diesen wurde ein Termin vereinbart, zu dem die Patienten ihre gesamte Medikation einschließlich der Selbstmedikation mitbrachten. Die Apotheker erfassten die Medikation und erfragten relevante Informationen von den Patienten und ergänzten diese mit Informationen aus weiteren Datenquellen (zum Beispiel der Kundendatei der Apotheke oder Verordnungsdaten der AOK PLUS). Die Apotheke führte auf dieser Grundlage im Nachgang des Gesprächs eine pharmazeutische Prüfung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS-Prüfung) nach der Leitlinie Medikationsanalyse der Bundesapothekerkammer durch (3). Ergebnis dieses ersten Schritts war ein pharmazeutisch geprüfter, vorläufiger Medikationsplan, der, in der Regel zusammen mit weiteren Informationen der pharmazeutischen AMTS-Prüfung, an den Arzt übermittelt wurde.
Beim Arzt erfolgte dann eine medizinische AMTS-Prüfung nach der hausärztlichen Leitlinie Multimedikation (4); bei Bedarf wurde Rücksprache mit behandelnden Fachärzten gehalten. Die Patienten erhielten zum Ende der Startintervention einen Medikationsplan mit der vollständigen und geprüften Medikation, die aktuell eingenommen wurde. Im weiteren Verlauf fanden bei jedem Besuch beim Arzt oder in der Apotheke Folgeinterventionen statt. Dabei wurde jeweils die neu verordnete oder abgegebene Medikation im Kontext der Gesamtmedikation geprüft. Der Medikationsplan wurde bei jeder Änderung angepasst, mit dem Patienten besprochen und ausgedruckt, sodass die Patienten immer über eine aktuelle Übersicht ihrer Medikation verfügten. Ein regelmäßiger Informationsaustausch zwischen Arztpraxis und Apotheke, auch über den MPS, war wesentlicher Bestandteil der interprofessionellen Intervention.
Technische Anforderungen
Um die Erstellung und Aktualisierung der Medikationspläne im Versorgungsalltag möglich zu machen, war es Ziel, dies in der normalen Apotheken- beziehungsweise Praxissoftware zu ermöglichen. Der Austausch der Medikationspläne erfolgte über den MPS im sicheren Netz der KVen in einem selbst entwickelten, definierten technischen Format. Um den Softwarehäusern die Umsetzung zu ermöglichen, wurden eine Spezifikation und ein Anforderungskatalog geschrieben. Allerdings war die Umsetzung nicht verpflichtend und mit erheblichem Aufwand verbunden. Die Apothekensoftwareanbieter setzen dies fast alle um, während auf Arztseite einige große Anbieter nicht überzeugt werden konnten, was die Umsetzung von ARMIN insgesamt erschwerte. Den Ärzten, die dennoch teilnehmen wollten, wurde als Alternative der Zugang zum MPS über ein Webportal ermöglicht. Da diese Lösung nicht in die Arztsoftware integriert war, erwies sich dies in der Routine aber als wenig praktikabel.
Der Medikationsplan in ARMIN entsprach dem Standard des bundeseinheitlichen Medikationsplans (BMP nach § 31a SGB V (5)). Der elektronische Medikationsplan, der auf dem MPS gespeichert war, enthielt darüber hinaus Kommentarfelder, die optional für den elektronischen Informationsaustausch zwischen Arzt und Apotheker zur Verfügung standen.
Evaluationsergebnisse zum Medikationsmanagement
Für die retrospektive Auswertung, wie sich die Teilnahme am ARMIN-Medikationsmanagement auf die Versorgung auswirkte, wurden alle Patienten, die sich bis Ende 2018 eingeschrieben hatten, eingeschlossen (6). Diesen Patienten wurden retrospektiv über ein sogenanntes Propensity-Score-Matching Kontrollpatienten zugeordnet, die ebenfalls bei der AOK PLUS versichert waren und anhand mehrerer Charakteristika in den Sekundärdaten als »ähnlich« zu einem ARMIN-Patienten bezeichnet werden konnten, zum Beispiel weil sie zum Zeitpunkt der Einschreibung der ARMIN-Patienten in das Medikationsmanagement gleich viele Arzneimittel erhielten und weitgehend identische Diagnosen hatten.
Insgesamt konnten über dieses Verfahren 5033 ARMIN-Patienten mit 10.039 Kontrollpatienten gematcht werden (angestrebt wurde ein 1:2 Matching). Die beiden Gruppen wurden anschließend hinsichtlich mehrerer klinischer, medikationsbezogener, versorgungszentrierter und patientenorientierter Endpunkte verglichen (6).
Ein wichtiges Ziel von ARMIN war die Verbesserung der Medikamentenadhärenz. Diese wurde anhand der Arzneimittelabrechnungsdaten für ausgewählte Wirkstoffgruppen, die in der chronischen Therapie eingesetzt werden (zum Beispiel Betablocker, Antikoagulanzien, Statine) geschätzt. Sie verbesserte sich in der ARMIN-Gruppe im Jahr nach dem Einschluss in ARMIN im Vergleich zum Vorjahr signifikant in einem größeren Ausmaß, als dies in der Kontrollgruppe geschah.
Im Vergleich dazu waren die Ergebnisse im Hinblick auf Änderungen der Medikation weniger eindeutig: Zwar verbesserte sich die ARMIN-Population stärker hinsichtlich des Auftretens von STOPP-Kriterien (7) als die Kontrollgruppe, es wurden jedoch keine Hinweise auf Unterschiede hinsichtlich des Auftretens von START-Kriterien, der Verordnung von potenziell inadäquaten Medikamenten (PIM) laut PRISCUS 1.0 (8) oder der Prävalenz potenziell schwerwiegender Wechselwirkungen gefunden.
Deutliche Unterschiede gab es zwischen der ARMIN-Population und der Kontrollgruppe in Bezug auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen. So gingen ARMIN-Patienten häufiger in die Apotheke und zum Arzt und die Anzahl an Kontakten stieg nach der Einschreibung im Vergleich zum Vorjahr auch stärker an als in der Kontrollgruppe. Auch wurden ARMIN-Patienten vermehrt in Disease-Management-Programme eingeschlossen – wobei in beiden Gruppen auch bereits zu Beginn über 70 Prozent der Patienten schon zumindest an einem DMP teilnahmen.
Unterschiede bei Mortalität und Hospitalisierung
Die Auswertung ergab, dass sich ARMIN-Patienten von den Kontrollpatienten in der Versorgung im Verlauf unterschieden. Dies zeigte sich insbesondere auch im Vergleich der Sterberisiken in den Gruppen. So verstarben während der individuellen Nachbeobachtungszeit 9,3 Prozent (n = 469/5033) der ARMIN-Patienten und 12,9 Prozent (n = 1300/10.039) der Kontrollpatienten.
In einer hinsichtlich verschiedener Kovariaten adjustierten Cox-Regression war dieser Unterschied signifikant: Hazard Ratio 0,84 (95 Prozent Konfidenzintervall: 0,76 – 0,94, p = 0.001) und entsprach demnach einem relativ gesehen 16 Prozent geringeren Mortalitätsrisiko in der ARMIN-Gruppe und einer kovariaten adjustierten absoluten Risikoreduktion um 1,52 Prozent (9). In Bezug auf die Krankenhauseinweisungen hatten ARMIN- und Kontrollpatienten das gleiche Risiko, innerhalb von zwei Jahren nach Einschreibung hospitalisiert zu werden. Allerdings wurden ARMIN-Patienten, die im Krankenhaus behandelt wurden, früher und häufiger hospitalisiert als die Kontrollpatienten mit Krankenhauseinweisung.
Abbildung 2: Abbildung gemäß Dtsch Arztebl Int 2023;120:253-60: Forest-Plot für Risiken in Bezug auf Mortalität (A) und Krankenhauseinweisungen (B) aus mit den dargestellten Variablen adjustierten Regressionsmodellen. / Foto: PZ
Abbildung 3: Abbildung gemäß Dtsch Arztebl Int 2023;120:253-60: Kaplan-Meier-Darstellung der Überlebenszeiten. Die Überlebenswahrscheinlichkeiten werden in der nach Propensity-Score-angepassten Analysepopulation stratifiziert für die ARMIN-Gruppe (schwarze durchgezogene Linie) und die Kontrollgruppe (gestrichelte graue Linie) dargestellt (Log-Rank-Test: P < 0,001). / Foto: PZ
Die Anzahl der notwendigen »Behandlungen« (number needed to treat, NNT) ist eine statistische Größe, um den Nutzen einer Behandlung oder Intervention zu beschreiben. Sie besagt, wie viele Patienten mit der Intervention von Interesse behandelt werden müssen, um ein klinisches Ereignis mehr zu verhindern als unter der Standardbehandlung. Das heißt je kleiner die NNT, desto größer der Effekt der Intervention. Weil sich die Berechnung der NNT auf die gegebenenfalls kovariaten-adjustierte absolute Risikoreduktion in einem Beobachtungszeitraum bezieht, ist auch der Interventionszeitraum bei der NNT mit einbezogen (hier im Durchschnitt 30 Monate). Die NNT beträgt in der vorliegenden Studie 66.