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Hereditäre Transthyretin-vermittelte Amyloidose

Eine seltene Erkrankung, zwei neue Orphan Drugs

Mit Patisiran (Onpattro® 2 mg pro ml Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung, Alnylam Pharmaceuticals) und Inotersen (Tegsedi® 284 mg Injektionslösung in einer Fertigspritze, Ionis) kamen im Oktober gleich zwei neue Wirkstoffe zur Behandlung von Patienten mit hereditärer Transthyretin-vermittelter Amyloidose  auf den deutschen Markt. 
Sven Siebenand
26.10.2018  14:50 Uhr

Die hereditäre Transthyretin-(TTR)-vermittelte Amyloidose (hATTR) ist eine erbliche, autosomal-dominante Erkrankung, die durch eine Mutation im TTR-Gen ausgelöst wird. Das Protein TTR wird vorrangig in der Leber produziert und fungiert unter anderem als Träger von Vitamin A. Durch die Mutation im TTR-Gen kumulieren abnormale Amyloid-Proteine und zerstören körpereigene Organe und Gewebe, wie die peripheren Nerven und das Herz. Dies führt zu starker peripherer sensorischer Neuropathie, autonomer Neuropathie und/oder Kardiomyopathie.

Weltweit sind etwa 50.000 Menschen von dieser Krankheit betroffen. Die Erkrankung nimmt einen progressiven Verlauf und kann zu Morbidität und Behinderung sowie potenziell innerhalb von 2 bis 15 Jahren zum Tod führen. Oft wird hATTR nicht ausreichend oder falsch diagnostiziert. Als therapeutische Option gab es bisher unter anderem den TTR-Stabilisator Tafamidis (Vyndaqel®). Viele Patienten stehen zudem auf der Warteliste für eine Lebertransplantation.

Die in den Fachinformationen genannten Einsatzgebiete der beiden neuen Wirkstoffe lauten sehr ähnlich: Inotersen ist zugelassen zur Behandlung von Polyneuropathie der Stadien 1 und 2 bei erwachsenen Patienten mit hATTR, Patisiran zur Behandlung erwachsener hATTR-Patienten mit Polyneuropathie im Stadium 1 oder 2.

Patisiran ist erstes RNAi-Therapeutikum

Das Wirkprinzip der beiden neuen Arzneistoffe unterscheidet sich, am Ende läuft es aber bei beiden darauf hinaus, dass die Bildung von TTR blockiert wird. Patisiran ist das erste sogenannte RNAi-Therapeutikum, das auf den deutschen Markt kommt. RNA-Interferenz (RNAi) ist ein natürlicher zellulärer Prozess, der die gezielte Stilllegung von Genen erlaubt. Die Entdeckung der RNAi wurde im Jahr 2006 mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet. Kurze RNA-Stücke, sogenannte small interfering RNA (si­RNA), führen im Organismus dazu, dass komplementäre mRNA selektiv abgebaut wird. Somit steht diese mRNA nicht mehr für die Proteintranslation zur Verfügung und die Menge des von ihr kodierten Proteins in der Zelle nimmt ab.

Zentraler Bestandteil des RNAi-Signalwegs ist ein Protein-Komplex, der als RISC (RNA-Induced Silencing Complex) bezeichnet wird. Nachdem doppelsträngige RNA ins Zellinnere gelangt ist, dissoziiert diese in Einzelstrang-siRNA, die an RISC binden kann. Erkennt dieser Verbund aus siRNA und RISC nun mRNA, die komplementäre Abschnitte zur siRNA besitzt, kommt es zum RISC-vermittelten Abbau der mRNA. Um die doppelsträngige RNA in die Zelle hineinzubekommen, war es notwendig, eine spezielle Technologie zu entwickeln. Bei Patisiran stellen Lipid-Nanopartikel das Transportvehikel dar, um die siRNA ins hepatozelluläre Zytoplasma einzuschleusen.

Die Zulassung von Patisiran basiert auf Ergebnissen der randomisierten, doppelblinden Phase-III-Studie APOLLO, an der 225 Patienten teilnahmen: 77 erhielten Placebo und 148 Patisiran alle drei Wochen über 18 Monate. Beim primären Endpunkt – dem modifizierten Neuropathie-Beeinträchtigungs-Score +7 (mNIS+7) – zeigte sich eine signifikante Verbesserung unter Patisiran im Vergleich zu Placebo. Während der Symptom-Score unter Patisiran abnahm (-6,0 ± 1,7 Punkte) kam es unter Placebo zu einer deutlichen Verschlechterung um 28,0 ± 2,6 Punkte. Auch bei den sekundären Endpunkten wurden unter Patisiran signifikante und klinisch bedeutsame Verbesserungen im Vergleich zu Placebo erreicht. Die häufigsten Nebenwirkungen, die bei mit Onpattro behandelten Patienten gemeldet wurden, sind periphere Ödeme (30 Prozent) und infusionsbedingte Reaktionen (19 Prozent).

Alle drei Wochen infundieren

Die empfohlene Dosis beträgt 300 µg pro kg Körpergewicht. Sie wird alle drei Wochen intravenös verabreicht. Alle Patienten sollten mindestens 60 Minuten vor der Infusion eine Prämedikation bestehend aus oralem Paracetamol sowie einem intravenösen Corticoid, einem H1- und einem H2-Blocker erhalten, um das Risiko für infusionsbedingte Reaktionen zu senken. Bei Patienten, die Onpattro erhalten, wird zudem zu einer Ergänzung mit Vitamin A in einer Dosis von etwa 2500 I.E. pro Tag geraten, da die Behandlung mit dem neuen Medikament durch Reduktion des TTR-Proteins im Serum zur Verringerung des Vitamin-A-Spiegels führt.

Aufgrund eines potenziellen teratogenen Risikos durch einen unausgeglichenen Vitamin-A-Spiegel, darf Onpattro während der Schwangerschaft nicht angewendet werden, es sei denn, eine Behandlung mit Patisiran ist aufgrund des klinischen Zustandes der Frau erforderlich. Ebenfalls wegen der »Vitamin-A-Problematik« muss eine Schwangerschaft vor der Einleitung der Therapie bei Frauen im gebärfähigen Alter ausgeschlossen werden. Zudem müssen die Frauen eine zuverlässige Methode zur Empfängnisverhütung anwenden. In der Stillzeit ist eine Entscheidung zu treffen, ob das Stillen zu unterbrechen ist oder ob auf die Behandlung mit Onpattro verzichtet werden soll beziehungsweise die Behandlung mit dem Arzneimittel zu unterbrechen ist.

Das neue Präparat ist im Kühlschrank bei 2 bis 8 °Celsius zu lagern.

Inotersen wirkt als Antisense-Oligonukleotid 

Der zweite Neuling für die hATTR-Behandlung, Inotersen, wirkt als Antisense-Oligonukleotid. Im Gegensatz zu Patisirian ist es einzelsträngig. Grundprinzip der Antisense-Technologie sind Oligonukleotide, die exakt komplementär zu einer kurzen mRNA-Sequenz des Zielproteins sind und die über die Basenpaarung an den entsprechenden Abschnitt der mRNA binden. Der DNA/RNA-Doppelstrang wird von dem Enzym Ribonuklease H1 (RNase H1) erkannt und abgebaut. Auf diesen Weg kann auch mithilfe von Inotersen die Produktion des fehlerhaften Proteins Transthyretin unterbunden werden.

Inotersen muss einmal pro Woche subkutan in Oberbauch, Oberschenkel oder Oberarm gespritzt werden. Die Injektionsstellen sollten regelmäßig gewechselt werden. Eine Anwendung zu Hause ist nach Schulung des Patienten möglich. Das Präparat sollte im Kühlschrank bei 2 bis 8 °Celsius aufbewahrt werden. Um vor der Injektion Raumtemperatur zu erreichen, sollte die Fertigspritze etwa 30 Minuten vor der Anwendung aus dem Kühlschrank entnommen werden.

Die Zulassung basiert auf Daten der NEURO-TTR Studie, einer doppelblinden, placebokontrollierten und randomisierten Phase-III-Studie mit 172 Patienten, die an hATTR-bedingter Polyneuropathie leiden. Im Rahmen der 15-monatigen Studie wurde die Wirkung von Tegsedi auf neurologische Dysfunktionen sowie die Lebensqualität geprüft, und zwar anhand der mittleren Änderung des mNIS+7 beziehungsweise des Norfolk QOL-DN (Norfolk Quality of Life Questionnaire-Diabetic Neuropathy) Gesamtscores. Die Ergebnisse: Der mNIS+7-Wert verschlechterte sich unter Inotersen um circa 11 Punkte und damit in geringerem Maße als in der Placebogruppe, in der die Verschlechterung durchschnittlich rund 25 Punkte betrug. Die Lebensqualität, die anhand des Norfolk QoL-DN-Wertes gemessen wurde, verschlechterte sich bei mit Tegsedi behandelten Patienten um circa 4 Punkte verglichen mit circa 13 Punkten bei Patienten unter Placebo.

Sehr häufige Nebenwirkungen von Inotersen sind Reaktionen an der Injektionsstelle, Übelkeit, geringe Anzahl roter Blutkörperchen, Kopfschmerzen, Fieber, peripheres Ödem, Schüttelfrost, Erbrechen und niedrige Thrombozytenzahlen, die zu Blutungen und blauen Flecken führen können.

Thrombozyten und Nierenfunktion im Blick behalten

Da Tegsedi die Anzahl der Thrombozyten verringern kann und somit ein Blutungsrisiko birgt, müssen die Thrombozytenzahlen im Blut während der Behandlung überwacht und die Dosis des Arzneimittels sowie die Häufigkeit seiner Verabreichung entsprechend angepasst werden. Tegsedi darf nicht bei Patienten mit niedrigen Thrombozytenzahlen (weniger als 100x109/l) angewendet werden. Ebenso ist es bei schweren Nieren- oder Leberproblemen. Wegen einer möglichen Glomerulonephritis sollte auch die Nierenfunktion regelmäßig kontrolliert werden.

Hinsichtlich Wechselwirkungen ist bei Inotersen-Therapie Vorsicht geboten bei antithrombotischen Arzneimitteln, Thrombozytenaggregationshemmern und Arzneimitteln, die die Thrombozytenzahl senken können. Gleiches gilt bei begleitend angewendeten nephrotoxischen Arzneimitteln und anderen Arzneimitteln, die die Nierenfunktion beeinträchtigen können.

Ähnlich wie bei Patisiran wird auch bei Inotersen-Therapie zur oralen Supplementierung von Vitamin A geraten. Laut Fachinformation von Tegsedi sollen es pro Tag etwa 3000 I.E. Vitamin A sein. Ebenfalls wie bei Patisiran sehen die Empfehlungen für Frauen im gebärfähigen Alter, Schwangere und Stillende aus.

Foto: Alnylam

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